Schwingt nach (für J.-E. Berendt)
Das Pfeifen im Walde ist sprichwörtlich. Gefahr droht und das Peifen, also im weitesten Sinne eine musikalische Aktion, versucht die Situation zu entschärfen, versucht den eigenen Mut wieder zu finden. So ist Musik, wie fest oder lose diese Verbindung auch gesponnen wird, immer auch ein guter Wegbegleiter, der sich uns zugesellt, ohne dass wir genau wissen, woher er eigentlich kommt. Vermutungen:
“Der beste Beweis, dass die Musik keineswegs menschlicher Natur ist: Sie ruft nie die Vorstellung der Hölle hervor.”
E. M. Cioran: Von Tränen und Heiligen; Frankfurt/M. 1988 (1986), S. 30
So die Hölle die Ausweglosigkeit markiert, so die Musik die Möglichkeit vieler und anderer Ausgänge. Sie trägt ihren Vermittlungsraum, zumindest ein Teil dieses Raumes, praktischer Weise gleich mit. Und wo Vermittlung mitschwingt, ist es um alle Einseitigkeiten geschehen. Nicht nur ist Musik Schichtung, Differenz und Rhythmus, sondern ein Oszillieren:
"Denn es gibt in der Primärgestik aller Musik einen Dualismus von Ausfahrt und Heimkehr."
Peter Sloterdijk: Weltfremdheit. Frankfurt am Main, 1993, S. 301
Als Jugendlicher war für mich diese Bewegung unendlich wichtig, da sie - auch in ihren trivialeren Varianten - ein anderes Leben verhieß, indem nicht nur bestehende Formen negiert wurden, sondern ein anderes Sein, wie rudimentär auch immer, eingelöst wurde:
"Die beiden ewig konkurrierenden Beschreibungen der Pop-Musik, insbesondere ihrer heroischen Momente in Gegenkultur, Punk und Rave - großes glückliches Ja und großes sarkastische Verweigerung - bilden eine Einheit: ein Nein im Modus des Ja und umgekehrt."
Diederichsen, Diedrich. Über Pop-Musik. Kiepenheuer & Witsch, 2014, S. XIII
Mögen sich das Ja und das Nein auch kompliziert verhaken, so übersteigt die Musik diese eigenartige Dialektik doch wiederum im Sinne einer grundlegenderen Bejahung. Nicht eigentliche Bejahung dessen was ist, sondern des vielfach ge- und entfalteten Seins (der Schichtungen, Differenzen, Rhythmen, s.o.). Und weiter:
“Es gibt keine Kultur - von den Indern der Upanischaden bis zu den Juden der Psalmen, von den Babylonieren bis zu den Azteken, von den Ägyptern bis zu den Japanern, von den Sufis bis zu den Balinesen -, die nicht weiß und erfahren hat: Musik ist ein Lobgesang.”
Joachim-Ernst Berendt: Das Dritte Ohr. Vom Hören der Welt; Reinbek 2004 (1985); S. 368
Und es gibt ganz wenige Bücher, die mich in Bezug auf ein Thema mit solcher Sachkenntnis, Freundlichkeit und Leidenschaft adressiert haben, wie dieses Buch von Joachim-Ernst Berendt. Zur Person: Berendt wäre vor gut einem Monat 100 Jahre alt geworden (* 20. Juli 1922 in Berlin-Weißensee; † 4. Februar 2000 in Hamburg). Als Musikjournalist und Musikproduzent hat er sich nach dem Krieg nicht nur in Deutschland für die Vermittlung und Förderung der Jazz-Musik verdient gemacht. Insbesondere sein 1953 veröffentlichtes Jazzbuch wurde ein großer Erfolg. Und schon in den Zitat-Widmungen zu Beginn des Buches wird seine eigene Denkungsart sichtbar: "Man lernt nichts kennen, außer man liebt es. Goethe / Du mußt lieben, um spielen zu können. Luis Armstrong / Der wichtigste Beitrag, den du für die Tradition leisten kannst, ist, deine eigene Musik machen - eine neue Musik. Anthony Davis / In der Musik gibt es etwa, das mehr ist als Melodie, mehr als Harmonie: die Musik. Guiseppe Verdi".
Und ganz sicherlich hat diese Denkungsart und dieser Ton wiederum mit seiner Hinwendung zu den philosophischen und spirituellen Dimensionen der Musik zu tun, mit denen er sich später auseinandersetzte. Anfang der 80er Jahre sendete der Südwestfunk das zweiteilige Radio-Feature „Nada Brahma. Die Welt ist Klang“, aus dem auch das gleichnamige Buch entstand. Einige Jahre später erschien von Berendt „Das Dritte Ohr. Vom Hören der Welt“, aus dem schon weiter oben zitiert wurde und in dem das Hören in seiner zentralen Bedeutung für unseren Weltbezug entfaltet wird. Dabei arbeitet Behrendt nicht nur die existentiellen, sondern auch die (gesellschafts-) politischen Implikationen heraus, die mit dem Hören verbunden sind. Exemplarisch dafür, mag das folgende Zitat stehen.
“Und die Aggressivität, die die Psychologen als Folge der Überbetonung des Sehsinns beobachtet haben, gewinnt ihr wahres Gewicht in Bezug auf das, was sie für unsere Zivilisation bedeutet, erst dann, wenn gleichzeitig die entsprechenden Ergebnisse für den Hörsinn beachtet werden: Rezeptivität, Milde, Feminität, Verständnis, Zurückhaltung, Aufnahmefähigkeit, Offenheit, Toleranz.”
Joachim-Ernst Berendt: Das Dritte Ohr. Vom Hören der Welt; Reinbek 2004 (1985); S. 56
Der Spiegel brachte am Tag von Berendts Tod, also am 04.02.2000, unter der Überschrift „Jazzpapst Joachim-Ernst Berendt ist tot“, die Meldung: „Berendt, der Wegbereiter des Jazz in Deutschland, ist in Hamburg bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Berendt war Autor des meist verkauften Jazzbuches der Welt und 1945 Mitbegründer des Südwestfunks.“
Die besondere und tragische Pointe dieses bemerkenswerten Lebens wird hingegen in dem Wikipedia-Eintrag zu seiner Person nachgereicht:
„Auf dem Weg zu einer Vorstellung seines Buches „Es gibt keinen Weg. Nur gehen.“ überquerte er trotz des roten Ampelsignals eine Straße.“
https://de.wikipedia.org/wiki/Joachim-Ernst_Berendt Stand 21.08.2022
Aber vielleicht war es im eigentlichen Sinne kein Unfall, sondern die tragische Veranschaulichung seiner Einsicht, dass wir an den zugespitzten visuellen und technischen Imperativen unseres Zeitalters Schaden nehmen werden. Hingegen lautet sein Plädoyer für eine keineswegs esoterische Spiritualität, die Schwingungs- und Rhythmuspotentiale des Universums und des Menschen ernst zu nehmen (also das Universum als Musikinstrument, das Individuum als Manifestation des Universums zu begreifen). So wir umgekehrt aufhören, auf das zu hören, was mit uns in einer schwingenden Beziehung steht, werden wir implodieren oder überrollt. *
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* Es ist ermutigend, dass auch in dem rationalitäts- und fundierungsverliebten Fachgebiet der Soziologie inzwischen an diese Gedanken angeknüpft werden kann und einige Lockerungsübungen möglich sind. Siehe zum Beispiel: Hartmut Rosa: Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin, 2016
23. August 2022