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Auf was sollen wir noch hören?

Alfred Döblin hatte für die Weimarer Republik die nachhallende Charakterisierung als „Republik ohne Gebrauchsanweisung“ gefunden. Bei Helmut Lethen kann man nachlesen, wie in dieser Zeit sich die Verhaltenslehren der Kälte entwickelt haben (Helmut Lethen: Verhaltenslehren der Kälte: Lebensversuche zwischen den Kriegen. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1994.). Damals hatte sich die Hoffnung auf Evolution und Fortschritt verflüchtigt, der Sinn des Lebens war nur noch ein Schatten seiner selbst und der Verhaltenspanzer bot in seiner sachlichen Kälte Schutz vor Peinlichkeiten, verbarg die Angst, kaschierte die Verletzlichkeit. Der „Desillusionsrealismus“ (Karl Mannheim) brachte den Zusammenbruch sozialer Rollen in Anschlag und konstatierte den fehlenden Handlungsraum. 

In dem Kapitel Phonomanie und Kultur (ebd, S. 222-231) seziert Lethen den Phonozentrismus von Carl Schmitt, zunächst anhand von dessen Tagebuchaufzeichnungen, in denen kaum visuelle Eindrücke auftauchen, dafür aber die „Stimme des Vaters“ hervorgehoben wird. Laut Lethen will Schmitt damit den ihm leidigen Gesetzesbegriff abwehren, der nur eine Überkompensation der Abwesenheit des eigentlichen Souveräns darstellen würde. Stattdessen, so Lethen weiter, soll die Stimme des Souveräns im Schmittschen Universum unmittelbar den Untertanen erreichen. Eine Auslegung, die man nach Lethen auch bei Ernst Jünger in seinem Essay „Der Arbeiter“ nachlesen kann:

"Gehorsam, das ist die Kunst zu hören, und die Ordnung ist die Bereitschaft für das Wort, die Bereitschaft für den Befehl, der wie ein Blitzstrahl vom Gipfel bis in die Wurzeln fährt." 
Ernst Jünger: Der Arbeiter, in: Gesamtausgabe Band 6, Essays II, Stuttgart, Klett-Cotta, 1978, S. 19

Man kann also nicht nur, wie Carl Schmitt es tut, von einer direkten (Befehls-)Sprache sprechen, sondern auch davon, dass diese Art von Direktheit von oben nach unten arbeitet, also keineswegs darauf ausgelegt ist, dass der Sender vom Empfänger eine Rückmeldung erhält oder erwartet. Es ist eine systematische Einwegkommunikation, die dem Empfänger die Möglichkeit lässt, dass er ein stilles Gebet nach oben schickt mit der Hoffnung, dass das alles so seine Ordnung haben möge; der Herr wird’s richten.

Tja, wo die Umstände unklar werden, hören wir die Stimme, insbesondere die selbstgewisse gerne. Oder schon immer? Warum? Jacques Derrida hat darauf hingewiesen, dass es mit einer Art Körperauslöschung zu tun hat, mit der Eliminierung des Trägers der Botschaft. Unser Geist ist stumm, die Stimme hat Schall. Aber hören sie selbst:

„Diese unmittelbare Präsenz wiederum rührt daher, daß sich der phänomenologische >Körper< des Signifikanten in dem Augenblick auszulöschen scheint, in dem er hervorgebracht wird.(…) Diese Tilgung des sinnlichen Körpers und seiner reinen Äußerlichkeit ist für das Bewußtsein die eigentliche Form der unmittelbaren Präsenz des Signifikats.” 
Jacques Derrida: Die Stimme und das Phänomen: Einführung in das Problem des Zeichens in der Phänomenologie Husserls. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1986, S 133 f.

Die Stimme als Pfeil, der unmittelbar in das Herz des Geistes trifft – bevor wir Zweifel an dem haben, was es zu verstehen gibt, meinen wir schon, verstanden zu haben. Das sinnstiftende Subjekt wird durch die Stimme weniger heimgesucht, als immer wieder hervorgebracht.

Umgekehrt könnte man vermuten, dass überall dort, wo die 'Stimme' fühl-, sicht- und hörbar wird, wo Körper und Materie also insistieren, sie nicht umstandslos im Geist mit sich zusammenfallen kann. In der Schrift schreibt sich der Unterschied ebenso mit wie der Aufschub zum nächsten Zeichen, z.B. verschriftbildlicht in der berühmten Derridaschen "différance" (hier kann man an anderer Stelle weiter lesen; vielleicht ist es ein durchgehendes Spannungselement 'der' Philosophie, dass sie die Sinnzuspitzung größtenteils mit Schriftmitteln unternimmt, die diesem Vorhaben nicht nur im Wege stehen, sondern zu 'Umwegen' führen - müssen). Und auch der organisierte Klang der Musik, mit Instrumenten erzeugt und strukturiert durch Elemente wie Rhythmus, Melodie, (Dis)Harmonie, Klangfarbe, Lautstärke etc., entzieht sich einer eindeutigen Festschreibung, obgleich niemand sagen würde, dass Musik deshalb bedeutungslos ist.

Wie anders die Befehlsstimme des Souveräns, seit jeher verkörpert durch Herrscher und Väter. Hier spricht die Autorität nicht nur die Wahrheit, sie befiehlt sie, öfters auch fürs Vaterland. Nun ist nicht jede Autorität (stimmlich) autoritär, was auch besagen könnte, dass Souveränität und Autorität sich keineswegs aus einer Quelle speisen. Insofern ist Aufmerksamkeit geboten, wenn in diesem Kontext das Register vom Vater auf die Mutter wechselt. 

Auf die Frage „Was heißt Denken?“ warnt Martin Heidegger im 5 Abschnitt seiner gleichnamigen Vorlesung aus dem Wintersemester 1951/52 davor, die Frage (also: "Was heißt Denken", auch in seiner doppelten Bedeutung: 1. was 'ist' denken und 2. was 'verheißt' Denken) in Form einer Formel beantworten zu wollen. Es heißt dann:

„‘Warte, ich werde dich lehren was gehorchen heißt‘ – ruft die Mutter ihrem Buben nach, der nicht nach Hause kommen will.“ (S. 29)
Martin Heidegger: Was heißt Denken? Vorlesung Wintersemester 1951/52, Nachdr.; Reclams Universal-Bibliothek; Reclam: Stuttgart, 2013.

Hat Heidegger hier etwas anderes im Sinn als Anweisung und Gehorsam, zumal einige Menschen behaupten würden, dass Heidegger zu einer bestimmten Zeit für den Ruf der völkischen Stimme durchaus offen war (was so nicht richtig ist)? Aber: hier geht es nicht um den Vater und das Vaterland, sondern um die Mutter (und um die Muttersprache; und um den Sohn). Heidegger insistiert, dass die Mutter hier weder eine Definition von Gehorsam noch eine Lektion gibt, sondern den Sohn ins Gehorchen bringen will. Aber worin besteht nun der Unterschied zwischen Befehl und Befehlsunterwerfung und dem "ins Gehorchen bringen" und "Gehorchen". Heidegger schreibt zum 'ins Gehorchen bringen':

„Dies gelingt um so einfacher, je unmittelbarer die Mutter den Sohn ins Hören bring.“ 
(Ebda, S. 29)

Offenbar lässt sich diese Art von "Hören" nicht befehlen, wenn man hier nicht unterstellen will, dass die Unmittelbarkeit doch mit einer Art von "schimpfender Gewalt" verknüpft sein soll. Aber nein, Heidegger betont, dass es hier keineswegs ums Schelten geht. Aber was heißt dann Hören, was heißt: auf etwas hören (und mittelbar: Denken)? Heidegger spricht davon, dass der Empfänger hörend geworden ist für das, wohin sein Wesen gehört. Haben wir hier also ein Schlüssel-Schloss-Prinzip vor uns? Aber es wird zunächst nicht behauptet, dass der Empfänger nun weiß, wohin sein Wesen gehört. Vielleicht könnte man eher sagen: der Empfänger ist nun offen, um zu hören. Aber auf was? Um beim Beispiel zu bleiben: der Bube hört, dass er nach Hause kommen soll. Weil sein Wesen nach Hause gehört? Wenn man hier eine Pointe einbauen wollte, könnte man fragen: nach Hause (der Kaulauer: telefonieren)? Vielleicht: Muttersprache oder doch Vaterland? Und könnte man in einer weiteren Wendung im freudschen Sinn nicht auch noch die Terme verdrehen - Mutter (symbiotische Bindung) oder Vater (kastrationsdrohende Entbindung)? Oder müsste man, einer dialektischen Versuchung widerstehend und in größter Überstürzung, von einer entbindenden Bindung und bindenden Entbindung sprechen? Und führt diese zum Hören und hört man dann viele Stimmen? Wie immer: falls es einen Sinn gab, schiebt er sich auf.

30. Juni 2025