Was für das nächste Jahr gilt
“Greift frisch an, oder wir treiben auf den Strand.”
William Shakespeare: Der Sturm
31. Dezember 2020
“Greift frisch an, oder wir treiben auf den Strand.”
William Shakespeare: Der Sturm
31. Dezember 2020
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20.12.2020
Hans Blumenberg: "Es ist merkwürdig, dass Tagebücher, die im Dienst der Erinnerung zu stehen scheinen, die Gegenwarten ihrer Tage überschätzen."
06.12.2020
Man badet in einer Weltwanne voller Ungewissheiten.
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22.11.2020
'Neue' alte Beatles-Songs entdeckt - wenn man neue Bruchstücke aus dem wohlbekannten (und vergangenen) Land seiner Jugend entdeckt, ist dies ein Stück Heimat.
14.11.2020
Der 'earth overshoot day' liegt für Deutschland inzwischen im April; d.h. würden alle Menschen wie in Deutschland leben, wären die Ressourcen der Erde schon im April aufgebraucht.
----------------------------------Okt
18.10.2020
Die Blätter beginnen die Farbe der Hoffnung zu verlieren, werden gelb oder rot, bevor sie zur Erde geweht werden. Corona setzt zum nächsten Sprung an.
03.10.2020
Eine Aneinanderreihung von persönlichen Belanglosigkeiten, die in der Summe mein Leben ergeben sollen - und noch schlimmer: mein Leben ergeben.
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20.09.2020
Eine Woche fast ereignislos durchlaufen - wieder eine Woche geschafft, so als ob man die Lebensmühsal langsam abträgt, bis der Boden zu sehen ist, unter dem man schließlich begraben wird.
13.09.2020
(...) denn: bestehende Identitäten fühlen sich in Konflikten meist besonders wohl.
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09.08.2020
Die beiden haben ihre Land-Ferien-Wohnung abgetreten, werden also nur noch als Gäste kommen. Auch hier: ein Abschnitt geht zu Ende, wer weiß, wie viele Sommer noch kommen.
02.08.2020
Mein neuer Begriff für das Corona-Dasein bei Sonnenschein: übersommern.
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26.07.2020
Vorletzten Samstag mit der Fahrrad zur Post - ein herrlicher Sommertag: seit langer Zeit mal wieder das Gefühl, fast überwältigend, dass die Welt, so wie sie ist und mir entgegenkommt, vollkommen in Ordnung ist; jede Pore meines Körpers vermittelt mir dies; selbst die Straßen und die Autos sind in ihrem So-Sein perfekt. Andere Stimmungen beißen Stücke ab, es normalisiert sich.
15.07.2020
Auf dem Land kommt der Chef der Heizungsbaufirma für ein Angebot vorbei. Er wirkt fast etwas kühl (ist schließlich der oberste Vertriebler), taut aber auf und erzählt schließlich, dass er noch ein Geburtstagsgeschenk für seine Frau kaufen muss. Der Mann im Angesicht der Frau: ein ratloses Wesen.
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14.06.2020
Das Leben ist ein Blindflug über hügeliges Gelände und am Ende kommt ein großer Berg.
01.06.2020
Wer wäre nicht gerne Zuschauer seiner eigenen alternativen Lebenswege. Wahrscheinlich könnte man das entstehende Grundsetting anhand einiger kurzer entscheidenden Szenen erklären. Der Rest des Lebens wäre mehr oder minder stumpfe Wiederholung unserer mentalen und körperlichen Routinen.
----------------------------------Mai
16.05.2020
Gestern die Netflix-Serie Hollywood angefangen. (...) Eine ergreifende Szene, in der einer der Hauptdarsteller einer - ihn für Sex bezahlenden - Frau erklärt, warum er Schauspieler werden will. Als Kind ins Kino gegangen zu sein und gespürt und gewußt zu haben, dass das Leben da draußen auf dich wartet, dass das wahre Leben 'da' ist, dass man dort die wirkliche Lebendigkeit erfahren wird.
Hört das Leben nun auf oder fängt es wirklich erst an, wenn die Suche nach dieser Art von Lebendigkeit sich verflüchtigt.
03.05.2020
Die Corona-Festspiele gehen weiter. Die Informationen darüber, wie und was das Virus 'ist', welche Maßnahmen erhalten, modifiziert oder beendet werden können, welche Auswirkungen das wiederum haben wird - all dies bleibt teilweise sehr widersprüchlich und undurchsichtig.
----------------------------------Apr
18.04.2020
Wie schrieb ein Autor im Sezessions-Blog mit Bezug auf die immer noch alles überlagernde Corona-Krise: "Man darf als Mensch auf Hilfe hoffen, nicht aber auf ewige Gesundheit." Ich werde sehen, ob meine Gesundheit noch etwas am Rand der Ewigkeit kratzen darf.
05.04.2020
Laut einem Virologen ist das Virus, nimmt man die Älteren über 80 und die Menschen mit Vorerkrankungen heraus, nicht tödlicher als ein normaler Grippevirus. Wirtschaftlich bleiben die Folgen unabsehbar - ein Ökonom spricht davon, dass die Auswirkungen des Shutdowns uns die nächsten 10 Jahre beschäftigen werden.
----------------------------------Mrz
08.03.2020
Aber keine Panik, Ruhe bewahren, das Weltende kommt sowieso - die Sonne brennt noch 5 Milliarden Jahre und auf der persönlichen Ebene liegt die Mortalitätsquote immer noch bei 100 %.
01.03.2020
Ansonsten schwebt die dunkle Wolke des Coronavirus über Deutschland, Europa und der Welt. Am Samstag drängte G. tatsächlich auf Hamsterkäufe, so dass wir jetzt gut versorgt mit Reis, Linsen, Nudeln und diversen Dosen sind. H. hat seine Aktien verkauft, weil die Weltwirtschaft einzubrechen droht.
----------------------------------Feb
24.02.2020
Ich sollte wieder regelmäßig am Tagesanfang dafür beten, dass die (persönlichen) Tragödien und Katastrophen doch ausbleiben (oder zumindest aufgeschoben werden).
02.02.2020
Welch ein schönes Datum, postdigital, nur 0en und 2en. In der Wochenzeitschrift die Wiedergabe eine Kafka-Bemerkung: "Es gibt unendlich viel Hoffnung, nur nicht für mich."
----------------------------------Jan
11.01.2020
Hegen, pflegen, kümmern, sorgen und dann der Impuls, dass die Welt mich mal kreuzweise kann - aber um ehrlich zu sein: gefährlich wird es erst, wenn das Land der Gleichgültigkeit sich großflächig ausbreitet.
06.01.2020
Die letzten drei Tage schaut mich das Wetter trüb, nass und halbkalt an, als wollte das neue Jahr wettervermittelt mitteilen, dass es nur bergauf gehen kann.
30. Dezember 2020
Wenn etwas über Jahrzehnte im Gedächtnis bleibt, kann man es wohl als nachhaltig bezeichnen. So diese vielzitierten Sätze von Oscar Wilde: „Am Ende wird alles gut. Wenn es nicht gut ist, ist es noch nicht das Ende.“ ("Everything is going to be fine in the end. If it's not fine, it's not the end.") Es ist die ausgebaute Variante der Sentenz „Ende gut, alles gut“, wobei dieses „Egag“ vordergründig davon ausgeht, ganz zukunftsoptimistisch, dass allein schon die Finalität, also die Abgeschlossenheit einer Handlung, eines Projekts, eines Vorhabens usw. für die Erfreulichkeit des Ausgangs bürgt. Doch das „Ende gut, alles gut“ wird meist in einem etwas anderen Zusammenhang gebraucht, nämlich um zu betonen, dass der Weg zum guten Ende keineswegs ein leichter war, oder um daran zu erinnern, dass zwischendurch Nichts, oder nicht viel nach einem guten Ende ausgesehen hat. In der englischen Version wird dieser Bedeutungsstrang offensichtlicher, da es dort heißt: „All's Well That Ends Well“. Ganz dialektisch gesehen sind alle Verwicklungen, Probleme, Unmöglichkeiten, Fraglich- und Mutlosigkeiten, Depressionen und Versagensängste usw. letztendlich nur notwendige und daher im Nachhinein zu akzeptierende, zu bejahende Schritte auf dem Weg zum guten Ende. „Egag“ ist so gesehen die retrospektive Antwort auf das aufmunternde: „Wird schon gut gehen“ (Kölsche Version: „Et hätt noch immer jot jejange“).
Willkommen im richtigen Leben. Denn: die meisten Dinge, Vorhaben und Projekte laufen nicht glatt, sondern werden von allerhand Misslichkeiten begleitet und können Scheitern, was sie auch manchmal tun. Oscar Wilde hat die Möglichkeit eines guten Endes, das, wie wir oben gesehen haben, zumindest gleichwertig von der Möglichkeit eines traurigen Scheiterns begleitet wird, auf eine moderne Art und Weise fortgeschrieben. Das Scheitern sei demnach nur eine Form des falschen Timings, der fehlende Glaube an die Erlösungsfähigkeit allen Geschehens: „Am Ende wird alles gut. Wenn es nicht gut ist, ist es noch nicht das Ende.“ Oscar Wilde hat in diesen Sätzen zwei Züge der Moderne perfekt zur Geltung gebracht und auf eigentümliche Weise kombiniert. 1. Absoluter Fortschrittsoptimismus - der Hegelsche Weltgeist kommt sogar ohne das Jüngste Gericht aus; dafür aber mit Dialektik und Verzeitlichung (Prozeß) 2. Die Ironisierung der Zustände – wir wissen um die Fatalitäten des Lebens und um die Fragilitäten aller Gewissheiten. Der unausgesprochene dritte Wildesche Satz müsste lauten: „Vielleicht erlebst Du es sogar, das gute oder Dein gutes Ende.“
Nun ist das mit dem guten Ende für die Welt als Ganze eine sehr schwierige Sache. Nachdem die Fans eines ungebrochenen Fortschrittsglaubens in den letzten Jahrzehnten an Zahl und in mit Bezug auf ihre Überzeugungsfestigkeit eher abgenommen haben dürften, tendiert der gemeine Wohlstandsbürger jedoch umgekehrt zu einer zu pessimistischen Weltsicht, könnte man meinen, so man Hans Rosling folgt. Dieser hat anhand umfangreicher Statistiken nachgewiesen, dass die Umstände (Lebenserwartung, Lebensniveau, medizinische Versorgung, Ausbildung) in vielen Bereichen sich durch die Jahre weit besser entwickelt haben, als wir annehmen (Siehe: Hans Rosling/ Anna Rosling Rönnl/ Ola Rosling: „Factfulness: Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist“ Ullstein, Berlin 2018).
Allein beim Thema Ökologie, Ressourcenverbrauch und nachhaltige Lebensweisen sehen die Daten nicht ganz so rosig aus (siehe auch den von Rosling genutzten Datenpool: https://www.gapminder.org/data/), weshalb Rosling diese Themen eher defensiv diskutiert. Zum ansteckenden Optimismus gibt es wenig Anlass. Schaut man sich zum Beispiel den Earth Overshoot Day für 2020 an, also den Tag im Jahr, an dem die versammelte Menschheit ihr Ressourcen-Budget aufgebraucht hat, so fällt dieser auf den 22. August (sprich: am 22. August hat die Menschheit die von der Erde erneuerbaren Ressourcen aufgebraucht). Noch 1987 fiel der Earth Overshoot Day auf den 19. Dezember. Für Deutschland wurde dieses Jahr, vorbehaltlich der „Corona-Effekte“, der 3.Mai errechnet (d.h. wenn alle Menschen so wie die Deutschen leben und wirtschaften würden). Hinzu kommt: CO2 Ausstoß und der damit prognostizierte Klimawandel, Mikrosplastik in den Meeren, Artensterben und, und, und …
Aber auch hier leistet die Zitat-Waffe wertvolle Dienste, wenn es bei Hölderlin heißt:
"Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“ Die jungen Menschen haben das Rettende erstmal auf den Freitag ge- und verlegt, während der Rest sich mit weniger sichtbaren Zeichen um bessere Zustände bemüht (An dieser Stelle müsste man mit und gegen Hölderlins „Ein Zeichen sind wir, deutungslos“ sagen, dass die Zeichen schon gesehen und gedeutet werden wollen und sollen):
- Wir kaufen umweltfreundlich verpackte Waren
- Wir verzichten beim Einkauf auf Plastiktüten
- Wir stellen Rekorde im Schnellduschen auf
- Wir wechseln zu einem Ökostromanbieter
- Wir nutzen vermehrt Glas- statt Plastikgefäße
- Wir trinken Leitungswasser
- Wir versorgen uns mit Lebensmitteln aus der Region
- Wir fahren vermehrt mit dem Fahrrad
- Wir trennen den Müll
Wir spenden für die grüne Welt Inzwischen kann man auch diverse Bücher kaufen, in denen diverse Listen für ein nachhaltiges Leben zusammengestellt sind (Wäre das nicht noch ein Weihnachtsgeschenk?). Zuweilen sind es jedoch die gleichen engagierten Ich-tue-etwas-für-die-Umwelt-Menschen, die sich zwei Tonnen schwere Autos kaufen, die Flugreisen nach Südafrika, Australien und Südamerika gemacht oder geplant haben, die sehr viel Wert auf ein gepflegtes Einfamilienhaus mit entsprechender Wohnfläche legen und, und, und …
Aber wer möchte ernsthaft über die Doppelmoral des gemeinen Lebens sprechen und hier zur Anklage übergehen? Das hieße Kapital aus einer billigen Ausgangslage schöpfen. Schon ahnt der Leser, dass der sensible Autor auf die eigenen Widersprüche überleiten möchte, mit denen wir uns doch alle mehr oder minder in vielfältigen Lebenskonstellationen herumplagen müssen (also nicht nur in Bezug auf die Nachhaltigkeit): die kleinen Alltagslügen, die faulen und bequemen Kompromisse, die regressionsgesättigten Unterhaltungsparadiese usw. Lieb hat sich, wer seine Schwächen akzeptiert; Idiot ist, wer sich darin wohl fühlt usw. Psychologische Leitplanken für das gelingende Leben gibt es reichlich, auch in Buchform (Wäre das nicht noch ein Weihnachtsgeschenk? Part II).
Aber nein, hier wird nicht wie vorgesehen abgebogen. Der Twist, um uns auf der Höhe der Zeit zu halten, ist hier ein anderer. Um mit den mehr „konservativen“ Lebensweisheiten zu beginnen. Das Leben ist nicht immer gerecht. Und: Schmerz und Leid sind Teil des Lebens. Dem Konservatismus wird zuweilen vorgeworfen, Dinge zu naturalisieren und damit zu verstetigen, die in unserer Hand liegen und damit auch zu ändern sind. Das mag zum Teil richtig sein - wobei schon die „Handlungsidee“ ein „schwieriges“ Thema ist und in den seltensten Fällen annähernd ausreichend bedacht wird -, lenkt aber davon ab, dass die Akzeptanz bestimmter Lebensunumgänglichkeiten zu einer besseren Wirklichkeitswahrnehmung führt (und auch hier: die Antwort darauf, was Wirklichkeitswahrnehmung „ist“, ist keinesfalls trivial). Das fängt damit an, dass die Erde, trotz aller Dinge, die wir ihr zumuten, auch weiterhin in irgendeiner Form existieren wird. Die Folgen unserer jetzigen westlichen Lebensweise mögen für Flora und Fauna (und auch für uns selbst) gravierende sein, die Erde „stört“ das wenig. Die Erde ist ein physikalisch robustes Ding. Die Erde wird erst dann untergehen, wenn die Sonne sich zu einer Supernova aufbläht.
Kein Grund also im Namen einer leidenden Erde permanent unser moralisches Gewissen nachzuschärfen. Auch nimmt sich der erhobene ökologische Zeigefinger mitunter als Kompensationsleistung für das eigene misslingende Leben aus, s.o. Denn wie soll man individuell auch etwas geradebiegen, was auf einer grundlegenderen Ebene sehr sattelfest kodiert ist. Zwar mag oberflächlich gesehen unsere Gesellschaft auf große Flexibilität ausgerichtet sein, jedoch wird weder wirtschaftlich noch kulturell die Variable Wachstum ernsthaft in Frage gestellt. Von Verzicht ist weiterhin kaum die Rede. Das ausgerechnet der technische Fortschritt nicht nur für Ressourceneffizienz, sondern auch für großflächige Ressourcen-Einsparungen sorgen soll, wo er doch seit Jahrzehnten den Ressourcenverzehr zuverlässig ankurbelt, ist daher mehr Hoffnung denn begründetes Wissen.*
Und so werden wir – Europa, der Westen - vielleicht in einer nicht mehr allzu fernen Zukunft feststellen müssen, dass unsere Lebensweise nicht nur für inakzeptable Produktions- und Reproduktionsbedingungen an anderen Erdenrändern verantwortlich ist, worauf wir uns in einem Akt der moralischen Großzügigkeit zum Beispiel um einen besseren Konsum und ein besseres Lieferantenmonitoring bemüht haben, sondern, dass diese Länder Ressourcen für sich beanspruchen, von denen wir glaubten, dass sie primär uns zustehen. Jenseits von Zynismus wird man vermuten können, dass der Megatrend der Nachhaltigkeit dann abgelöst wird von einer knappheitsbedingten Verteilungsfrage, bei der die moralische Komponente – bitte uns auch etwas abgeben – nur noch eine Randnotiz sein wird. Wer weiß schon was eine ungewisse Zukunft bringt; der prophetische Ton bleibt so, was er schon immer war: eine Art billige Beruhigung oder auch: eine billige Verheißung. Aber um am Ende auf das Ende zu kommen, könnte man in Abwandlung eines Wolfgang Herrndorf-Satzes sagen: „Alles wird am Ende gut, nur nicht überall, nur nicht immer, nur nicht für alle.“**
Diesen Gedanken auch in Nachhaltigkeitsfragen in Erwägung zu ziehen, hieße sich auf einen anderen Ausgang vorzubereiten und nicht auf ein universell gutes oder schlechtes Ende.
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* Wenn man sich die Ressourcenfrage am Beispiel "Auto" vor Augen führt, werden die Dimensionen sichtbar. Zur Zeit gibt es auf der Welt über 1,3 Milliarden Autos (u.a. https://www.live-counter.com/autos/). 1970 betrug die Zahl noch ca. 250 Millionen, 1980 410 Millionen, 1990 580 Millionen, 2000 753 Millionen, 2010 1 Milliarde (https://de.wikipedia.org/wiki/Wirtschaftszahlen_zum_Automobil). Dabei werden zur Zeit jährlich ca. 70 Millionen neue Autos weltweit gebaut ( 2017 73 Millionen / 2018: 70 Millionen / 2019: 67 Millionen. Quelle: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/159780/umfrage/weltweit-jaehrlich-hergestellte-pkw/). Davon wurden in Deutschland 2019 von deutschen Herstellern ca. 4,7 Millionen im Inland produziert (https://www.vda.de/de/services/zahlen-und-daten/jahreszahlen/automobilproduktion.html). Zur wichtigen Frage, wieviel Ressourcen die Herstellung eines Autos wirklich benötigt, ist die Datenlage natürlich begrenzter, da es sich zum einen um ein komplexes Thema handelt, bei dem es nicht reicht, Stück- oder Zulassungszahlen zusammenzutragen. Zum anderen veröffentlicht die Automobilindustrie zwar Zahlen, die ihre steigende Ressourceneffizienz belegen, geben aber kaum an, wieviel Ressourcen absolut gesehen auf die Produktion eines konkreten Automodells entfallen.
Das Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH hat 2007 im Rahmen einer Förderprojekts, das u.a. von Bundesministerium für Bildung und Forschung unterstützt wurde, diese Frage untersucht. Die Kenngröße ist dabei die TMR (Total Material Requirement), in der versuchsweise alle Stoff- und Energieströme miteinbezogen worden sind (die Studie ist verfügbar unter: https://epub.wupperinst.org/frontdoor/deliver/index/docId/2702/file/2702_Automobilsektor.pdf). Ergebnis: Allein für die Produktion werden zwischen 18.000 kg TMR (Kleinwagen) bis 43.000 kg TMR (Oberklassewagen) verbraucht. Rechnet man die anschließende Nutzung mit einer Laufleistung von 150.000 km mit ein (inklusive Benzin-, Diesel- und Ölverbrauch), dann kommt man auf ein Gesamt-TMR (Herstellung und Nutzung) zwischen 31.000 kg bis 62.000 Kg. Auch wenn man die Richtigkeit dieser Zahlen nicht umfänglich belegen kann, auch wenn man in Anschlag bringt, dass es eine politische Stoßrichtung der Studie gab (Ressourcenschonung) und auch wenn man schließlich zugesteht, dass die Hersteller sehr viel effizienter mit den Ressourcen umgehen (jedoch: zwischen 1980 und 2010 wurden die Fahrzeuge um 30 bis 50 % schwerer, was den Ressourceneinsparungseffekt aufbrauchen dürfte: siehe: https://vcoe.at/service/fragen-und-antworten/wie-viele-ressourcen-werden-bei-der-pkw-produktion-verbraucht Dort wird davon ausgegangen, dass ein 1,5 Tonnen-Auto im Schnitt 70 Tonnen an Ressourcen verbraucht) grenzt diese Art der Individual-Mobilisierung an Wahnsinn.
Natürlich kann man darauf hoffen, dass es mit technischen Lösungen gelingt (E-Mobilität, umfassende Kreislaufwirtschaft, neue Materialien), das (automobile) Ressourcen- und Nachhaltigkeitsproblem zu lösen. So heißt es auf der Webseite der Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit halbwegs optimistisch: " Studien zeigen: Auch bei einem schnellen weltweiten Zuwachs an Elektrofahrzeugen und anderen Elektrogeräten übersteigen die weltweiten Vorkommen an den für die Elektromobilität wichtigen Rohstoffen, also etwa Lithium, Kobalt oder Gallium, den prognostizierten Bedarf deutlich." (https://www.bmu.de/themen/luft-laerm-verkehr/verkehr/elektromobilitaet/ressourcenbilanz/). Andererseits sieht die Ressourcenverfügbarkeit anderer wichtiger Rohstoffe nicht ganz so gut aus. Die statistische Reichweite von Erdgas: 51 Jahre, Erdöl 54 Jahr, Kupfer: 43 Jahre, Chrom: 13 Jahre, Uran: 26 Jahre, laut Wikipepdia (Werte ausgehend von 2018 - https://de.wikipedia.org/wiki/Reichweite_(Rohstoff)). In einem Artikel der Welt aus dem Jahre 2017 heißt es: "Demnach hat sich der Bedarf der Menschheit an Energierohstoffen, an Baustoffen und Metallen im Laufe des vergangenen Jahrhunderts verzehnfacht auf nun etwa 85 Milliarden Tonnen pro Jahr. Allein in den vergangenen 30 Jahren hat sich der Bedarf an natürlichen Stoffen wie Kohle, Kupfer oder Holz damit verdoppelt." Und weiter "Laut UN-Prognose dürfte sich der Ressourcenverbrauch deshalb bis 2030 noch einmal mehr als verdoppeln auf dann 186 Milliarden Tonnen." (https://www.welt.de/wirtschaft/article162921498/Unserer-Welt-gehen-die-Rohstoffe-aus.html).
Wie in der Vergangenheit schon geschehen, wird man neue Rohstoffquellen entdecken und mit Hilfe neuer Techniken auch heben können; es werden Alternativmaterialien gefunden werden; die technischen Möglichkeiten des Recyclings werden zunehmen. Kurzum: im Prinzip handelt es sich nicht um unlösbare Probleme; kein Fatalismus, dem das Wort geredet werden muss. Jedoch ist zu bezweifeln, dass man global gesehen ohne Verzichtsleistungen der industriellen und post-industriellen Nationen, von denen zurzeit wenig zu sehen ist, diese Ausrichtung wird flächendeckend umsetzen können. Bis dahin begnügen wir uns damit, die Papiertüte zu greifen, um die Weihnachtsgeschenke nach Hause zu tragen.
** Im Original: „Alles ist gut, nur nicht überall, nur nicht immer, nur nicht für alle.“ Wolfgang Herrndorf: Sand; Berlin 2011, S. 118
30. November 2020
Noch etwas Zeit haben
Christlich gesehen steht die Apokalypse noch bevor. Man könnte aber auch sagen, dass die Christenheit seit 2.000 Jahren – manche würden sagen: vergeblich – auf die Apokalypse wartet. Während man die Offenbarung des Johannes als Antwort auf die Frage verstehen kann, wie in einer dem Christentum feindlich gesinnten Umwelt der christliche Gott dem christlichen Menschen und seinen Feinden seine Macht (und alttestamentarische Stärke) zeigen kann und zeigen wird, und das in einer weltlichen, also von allen Menschen geteilten Form, so gibt es zugleich eine weitere christliche Antwort, die das „Erlösungs-Versprechen“ der Apokalypse zeitlich relativiert. Dabei kommt es nicht von ungefähr, dass es der Missionar Paulus ist, der diesen anderen Akzent setzt. Denn schließlich geht es (ihm) nicht nur darum, sich seines eigenen Seelenheils zu vergewissern oder eine in sich geschlossene, randständige post-jüdische Sekte zu kreieren, sondern um die frohe Botschaft, welche allen Menschen, auch den Nichtjuden verkündet werden soll. Dieser mehr „politische“ Ansatz knüpft die Bande zur Welt wiederum stärker. Daran zu sehen, dass Paulus nicht nur christliche Gemeinden gründet, sondern diese durch seine Briefe auch immer wieder instruiert. Wenn Paulus sich also im Wahlkampfmodus für das Christentum befindet, dann könnte das bevorstehende Ende der Welt eine demotivierende Färbung für all jene darstellen, die, vielleicht durchaus offen für neue Heilsideen, noch nicht mit ihrem Leben abgeschlossen haben. Zudem wird jede Organisationstheorie nachweisen können, dass die sorgfältige Beschäftigung mit den Anforderungen einer gemeinsamen Unternehmung, und jede christliche Gemeinde ist das auch, durch die bevorstehende Abwicklung dieser Organisationsform zum baldigen Stillstand kommen wird.
Paulus schreibt also in seinem zweiten Brief and die Thessalonischer, dass sich die Gemeinde nicht verwirren lassen soll durch Aussagen, die da behaupten, dass der Tag des Herrn, also das Jüngste Gericht, schon (fast) da sei. Dagegen führt Paulus folgendes ins Feld.
„Ihr wisst auch, was ihn jetzt noch zurückhält, damit er erst zur festgesetzten Zeit offenbar wird. Denn die geheime Macht der Gesetzwidrigkeit ist schon am Werk; nur muss erst der beseitigt werden, der sie bis jetzt noch zurückhält.“
2. Thess 2,6-7, Lutherbibel
Die Argumentation ist gar nicht so einfach zu verstehen und bleibt letztendlich etwas rätselhaft. Auf einen einfachen Nenner gebracht, lautet sie: Bevor Christus wieder erscheint und die Erlösung naht, betritt noch der „Widersacher Christi“ (der Antichrist) die Bühne und wird eine Zeitlang herrschen. Dieser Widersacher ist die notwendige Bedingung für alles weitere, letztendlich auch für die Erlösung, wird aber zur Zeit noch aufgehalten (Luther: zurückgehalten), so Paulus. Durch wen oder was wird der Antichrist aufgehalten? Durch das oder den Katechon, also durch ein Prinzip oder eine Person. Paulus hat der Gemeinde und den Christen damit etwas Zeit verschafft und ihnen eine schöne Paradoxie geschenkt. Denn einerseits ist klar, dass alles was gegen das inkarnierte Böse kämpft und es aufhält auf der Seite der göttlichen Ordnung steht und unterstützt werden muss. Andererseits sorgt die Bekämpfung zugleich für den Aufschub der Erlösung, die an die vorhergehende Erscheinung des Satans gebunden ist. Und schließlich: wie und warum kämpfen, wenn, so das Erlösungsversprechen gilt, das absolut Böse irgendwann unumgänglich kommen wird.
Das Schöne an den obigen paulinischen - nennen wir es - politischen Briefzeilen ist, dass sie sich in der Folgezeit als brauchbar erweisen sollten. Denn wie von Paulus erhofft, trat das Christentum seinen Siegeszug an und entwickelte sich zu einem staatstragenden Element. Wenn die Welt nun keine mehr ist, in der Christen als Mitglieder einer randständigen Sekte getötet und ermordet wurden, dann kann die Weltverfassung nicht so schrecklich sein. Oder vielmehr: wenn die Welt und die Institutionen das Christentum unterstützen und von ihm durchdrungen sind, dann wäre es sicherlich gut, dieser Konstellation auch göttliche Legitimität zukommen zu lassen.*
Von daher ist es plausibel, dass der Katchon vom Frühchristentum nun auf das Römische Reich bezogen wurde. Immerhin wurde der Restwelt so die Chance geboten, die frohe Botschaft und die göttlichen Gebote noch rechtzeitig vernehmen zu können. Diese Interpretation des Katechon wurde bis ins Mittelalter weiter getragen und popularisiert, da man nun die römische Reichsidee samt Legitimationspotential auf die Nachfolgereiche übertragen konnte, also auf die karolingischen, ottonischen und staufischen Nachfolger (translatio imperii).
Populisator Schmitt
Vielleicht wäre der Begriff des Katechon als ein theologischer mit angrenzenden Spezialdiskursen in Vergessenheit geraten, hätte er im 20. Jahrhundert nicht durch die Entortungserfahrungen der Weimarer Republik innerhalb konservative Kreise wieder Auftrieb bekommen. Damit im Zusammenhang, jedoch noch wichtiger, da von größerer Resonanz, dürfte die Beschäftigung Carl Schmitts mit dem Katechon gewesen sein. Obgleich es keinesfalls so ist, dass Schmitt diesen Begriff systematisch entwickelt hätte, taucht er in seinem Werk an verschiedenen Stellen auf. In dem Buch „Die Politische Theologie des Paulus“ spricht Jacob Taubes davon, dass Schmitt 1932 die radikalen Kräfte des Kommunismus und des Nazismus verhindern wollte und stattdessen ein Präsidialregime vorschlug. Daran anknüpfend schreibt Taubes:
„Das Interesse von Schmitt war nur eines: dass die Partei, dass das Chaos nicht nach oben kommt, dass Staat bleibt. Um welchen Preis auch immer. (…) Das ist das, was er später das Kat-echon nennt: der Aufhalter, der das Chaos, das von unten drängt, niederdrängt.“
Jacob Taubes: Die politische Theologie des Paulus: Vorträge, gehalten an der Forschungsstätte der evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg, 23.-27. Februar 1987. München: Wilhelm Fink, 1993, S. 139
Neben dieser geschichtlichen Erfahrungen, die zur Verwendung des Begriffs führt, fügt sich das Katechon aber auch in das Schmittschen Theoriegebäude ein, insofern er davon ausgeht, dass die wichtigen Begriffe der modernen Staatslehre säkularisierte theologische Begriffe sind. So wie man den Forschritt, den Fortschrittsglauben und die damit verbundenen Vollendungsideen als eine säkularisierte Form der jüdischen und christlichen Eschatologie begreifen kann, so kann auch das Katechon dazu dienen, (staatliche) Souveränität und Entscheidungsgewalt im Angesicht des Chaos zu legitimieren (siehe das obige Zitat von Jacob Taubes). Allerdings stellt sich hier die Frage, inwiefern Schmitt mit dem Konzept des Katechons seinen eigenen Theorieanspruch unterläuft. Wenn Schmitts politische Theologie darauf zielt, einen legalen Positivismus / positivistischen Legalismus und eine instrumentelle Vernunft zu kritisieren, so fragt sich, ob die Aufrechterhaltung der Ordnung um jeden Preis nicht auch einem Instrumentalismus, einem Ordnungsinstrumentalismus verfällt. Von daher ist es dann nicht überraschend, wenn Helmut Schelsky in Schmitt den deutschen Hobbes des 20. Jahrhunderts erkennen will.**
Wenn es um die Legitimation der Ordnung geht und man nicht per se jedweder Ordnung durch ihr faktisches Bestehen und damit durch ihre Ordnungsleistung Legitimität zusprechen möchte, dann fragt sich, wie in der politischen Theologie, die von einer Unverzichtbarkeit der Transzendenz (und von der Unmöglichkeit der rationalen Letztbegründung unserer Lebensweisen) ausgeht, Legitimität als „vertikaler Zuspruch“ gedacht werden kann. Wie kommt göttliche Herrschaft zur Erscheinung? Wenn nicht jede „Ordnung an sich“ die Wahrheit in sich trägt, welche Wahrheit muss sich in der Ordnung erkennbar manifestieren, um legitim zu sein?
Interessanter als diese fragliche Legitimitätszuspitzung sind jedoch die Ausführungen, die Carl Schmitt in seinem 1950 erschienenen Buch der „Der Nomos der Erde gibt.“ In den einleitenden Corollarien heißt es über die Respublica Christiana:
„Die umfassende völkerrechtliche Einheit des europäischen Mittelalters wurde Respublica Christiana und Populus Christianus genannt. Sie hatte klare Ortungen und Ordnungen.“
Schmitt, Carl. Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum. 3. Aufl., unveränd. Nachdr. der 1950 ersch. 1. Aufl. Berlin: Duncker & Humblot, 1988, S. 27
Auf den folgenden Seite wirft Schmitt anhand der beiden Stränge, Ortung und Ordnung, und den daran anknüpfenden Unterscheidungen und Ordnungsreihen wie Imperium und Sacerdotium, Kaiser und Papst, potestas und autctoritas (letztendlich auch Legalität und Legitimität) ein Blick auf die christlich mittelalterliche Geschichte. Er betont, dass diese beiden Reihen keineswegs Gegensätze, sondern die Einheit der Respublica Christiana bildeten. Das Resultat dieser Bezogenheit von Ortung und Ordnung ist die spannungsvolle und produktive zeitliche und räumliche Begrenzung des Seins, die so vor der Überspannung einer Immanzversuchung oder einer spirituellen (christlichen) Anarchie (Apokalypseversuchung) bewahrt. Dieser spannungssichernde Überspannungsschutz kommt in der Form des Katechons zum Vorschein. Schmitt schreibt:
„Ich glaube nicht, dass für einen ursprünglich christlichen Glauben ein anderes Geschichtsbild als das des Kat-echon überhaupt möglich ist. Der Glaube, dass ein Aufhalter das Ende der Welt zurückhält, schlägt die einzige Brücke, die von der eschatologischen Lähmung alles menschlichen Geschehens zu einer so großartigen Geschichtsmächtigkeit wie der des christlichen Kaisertums der germanischen Könige führt.“ Schmitt, Carl. Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum. 3. Aufl., unveränd. Nachdr. der 1950 ersch. 1. Aufl. Berlin: Duncker & Humblot, 1988, S. 29
Das Katechon zeigt uns sowohl unsere Abhängigkeit - Apokalypse und Gnade sind nur zwei Zeichen dieses Ausgesetztseins -, als auch unsere Handlungspflicht - das Katechon ist Teil der göttlichen Ordnung - und unsere Handlungsmöglichkeiten. Als Aufruf in die Welt zu wirken ruft das Katechon nicht zur Fertigstellung der Welt auf, sondern dazu, das Schlimmste zu verhindern. Das heißt, dass kein Mensch (zu früh) der Hölle auf Erden ausgesetzt werden soll, was wiederum Missionaufgaben nach sich zieht. Kurzum, die Erfahrung des Aufschubs ist zugleich eine, die besagt, dass in der Welt noch etwas aussteht und etwas im Kommen ist (der Ausblick auf das Ende ist auch ein Ausblick auf den noch ausstehenden Sinn und die noch ausstehende Gerechtigkeit, so wie der Sinn eines Satzes nur von seinem Ende her sich bestimmt).
Wenn die weltlichen Dinge ihr eigenes Recht haben, so heißt das nicht, dass das Katechon nicht auch in dieser Sphäre zurückwirkt. Der politische Binnnenraum wird zivilisiert, obgleich er nicht homogenisiert wird.
„Wesentlich ist, dass innerhalb des christlichen Bereiches die Kriege zwischen christlichen Fürsten umhegte Kriege sind. Sie werden von den Kriegen gegen nichtchristliche Fürsten und Völker unterschieden. Die internen, umhegten Kriege heben die Einheit der Respublica Christiana nicht auf.“
Schmitt, Carl. Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum. 3. Aufl., unveränd. Nachdr. der 1950 ersch. 1. Aufl. Berlin: Duncker & Humblot, 1988, S. 28
Ein Feind, der die umfassende Ordnung nicht aufhebt oder bedroht, also der einen umhegten Krieg veranlasst, verkörpert nicht das Böse. Zudem bildet die Respublica Christiana, als eine Einheit von Imperium und Sacerdotium, keine zentralistische Machtanhäufung aus, wie Schmitt betont. Stets handelt es sich um konkrete Aufgaben und Missionen, die aus dem Katechon entspringen, und die den Träger zwar erhöhen, aber nicht auf einer weltlichen Ebene dauerhaft über die anderen Fürsten und Könige erhebt, so Schmitt weiter. Der Auftrag kommt aus einer anderen Sphäre und die damit verbundenen Leistungen können machttechnisch nicht konserviert werden.
„Der Kaiser kann daher auch (…) nach Vollendung eines Kreuzzuges seine Kaiserkrone in aller Demut und Bescheidenheit niederlegen, ohne sich etwas zu vergeben.“
Schmitt, Carl. Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum. 3. Aufl., unveränd. Nachdr. der 1950 ersch. 1. Aufl. Berlin: Duncker & Humblot, 1988, S. 31 f.
In diesem Sinne kann die aus dem Katechon entsprungene Legitimität wiederum nur temporär in Anspruch genommen werden, um sie nach der Erledigung der Aufgabe, man könnte auch sagen, nach Bewältigung der außerordentlichen Situation, und hier kommt sowohl ein Außenbezug als auch der „äußere Feind“ ins Spiel, wieder abzugeben. ***
Das Erbe des Katechon?
Sicherlich kann man auch in der Moderne das Katechon als Chaos-Aufhalter in Stellung bringen. Soziale und politische Verwerfungen werden im Namen eines ordnenden Handelns, das im Namen der Ordnung und im Kampf gegen das Böse bis zum Äußersten gehen kann, wieder begradigt. Das Christentum verleiht dem Ganzen noch einen Hauch Legitimität.
Andererseits geht in diesem Ordnungsvoluntarismus – und mal dahingestellt, ob Schmitt das Katechon wirklich in dieser Art gedacht hat - jene Momente unter, die Schmitt in seinem Nomos-Buch an einigen Stellen durchaus prominent betont. Denn schließlich entsteht aus jenem Aufeinandertreffen und aus jenem Bündnis von politisch-weltlicher Logik und radikaler Spiritualität ein Zwischenraum, der sowohl zeitlich produktiv wirkt, nämlich handlungs- und verheißungsstiftend, als auch gewalt- und allmachts-relativierende Erfahrungen ermöglicht. Akzeptiert werden die Pluralität der Machtzentren, die Einhegung von innerchristlichen Konflikten und die Ab- und Aufgabe der temporären katechonischen Machtfülle.
Es ist sicherlich kein Zufall, dass in diesem mehr ordnungstheoretischen und theologischen Rahmen das genuin politische Moment der Freiheit nur in sehr vermittelter und defensiver Form denkbar ist, als Verhütung des Schlimmsten. Neben der Chaos-Furcht gibt es jedoch weitere Erfahrungs- und Diskursstränge, die sehr wohl mit einem demokratisches Momentum in Verbindung stehen können, als da sind: die Abneigung gegen die Immanenz- und Macht-Gier, Abneigung gegen die Welt-Flucht, die Vereinheitlichungs-Wut, die Feindlosigkeit, den Perfektionismus. Wenn sich die Gewissheiten auflösen, und für Claude Lefort ist es das Wesentliche der Demokratie, dass sie “sich dadurch instituiert und erhält, dass sie die Grundlagen aller Gewissheit auflöst”****, dann kann uns das Katechon vielleicht weniger über den Ursprung der Legitimität etwas lehren, sondern vielmehr darüber, wie wir mit den aus der Ungewissheit entstehenden Ambivalenzen in ihrer Spannung umgehen können. *****
Man wird fragen dürfen, ob man Schmitt hier nicht fehl- oder überinterpretiert. Aber was macht man nicht alles, um etwas Ordnung in die Dinge zu bringen.
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* Peter Sloterdijk weist darauf hin, dass dieser frühe christliche Siegeszug keinesfalls nur unter der Fahne der Liebe und Vergebung von statten ging: „Die Wahrheit ist: Das Christentum stellte für das Imperium das neue Verfassungsorgan Hölle bereit.“ Sloterdijk, Peter. Zeilen und Tage: Notizen 2008-2011. Berlin: Suhrkamp, 2012, S 427 f. Unter den ersten christlichen Kaisern, so Sloterdijk weiter, setzte im vierten Jahrhundert eine Brutalisierung der Strafgesetzgebung ein, die zuvor so nicht bekannt war. Die Höchststrafen für diverse Vergehen künden nicht von einer barmherzigen Zurückhaltung: Kreuzigung, Lebenderbrennung, Zerfleischung durch wilde Tiere, Eingenähtwerden in Ledersäcke. Amen.
**siehe: Siegried Gerlich: Zur Politischen Theologie Carl Schmitts, in: Sezssion, 9. Jahrgang, Juni 2011, Heft 42, S. 28 ff.
*** Nach Schmitt beginnt der Anfang vom Ende dieser inhomogenen Ortung/Ordnung-Einheit damit, dass die aristotelische Lehre von der „societas perfectae“ seit dem 13. Jahrhundert dazu benutzt wurde, die beiden Sphären zu trennen, so dass eine weltliche und eine spirituelle Sphäre jeweils in ihrer Eigenlogik fortbestehen und funtkionieren sollte. Siehe: Schmitt, Carl. Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum. 3. Aufl., unveränd. Nachdr. der 1950 ersch. 1. Aufl. Berlin: Duncker & Humblot, 1988, S. 30 f.
**** Claude Lefort: Die Frage der Demokratie; in: U. Rödel (Hg.): Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie; Frankfurt/M. 1990 (1983); S. 296
***** Daran schließen sich natürlich noch weitere diffizile Fragen an: Wie kann man Ortung und Ordnung aufeinander beziehen, ohne in eine Exklusivität oder Inklusivität zurückzufallen. Wie funktioniert Freiheit ohne ein Erbe, ohne Auctoritas? ...
31. Oktober 2020
Die letzte Minute
Es gibt das schöne Zitat von Markt Twain, das da lautet „Gäbe es die letzte Minute nicht, so würde niemals etwas fertig.“ Ohne deadline – wir würden unser Leben nie zu Ende bringen. So gesehen ist die Offenbarung des Johannes die ins kollektiv gewendete Endmarkierung unseres Seins. Ohne die christlich geprägte Apokalypse, so könnte man vermuten, hätte auch Markt Twain den obigen Satz nicht schreiben können. Oder, wie Malte Henk in einem kleinen Essay mit dem Titel „Die Zeit ist nah!“ in der Zeit (!) vom 24 September 2020 bemerkt: was das Abendland fremden Kulturen voraus hat (wir würden das voraus sicherheitshalber in Anführungszeichen setzen, aber das nur nebenbei), ist die Idee des absoluten, unmittelbar bevorstehenden Endes. Das ist wahrlich keine Kleinigkeit.
Der böse Hegemon
Nun könnte man, und Malte Henk zeichnet diesen Strang nach, die Offenbarung des Johannes, die Niederschrift erfolgte 70 Jahre nach der Kreuzigung Jesu und Johannes war Mitglied einer damals randständigen jüdischen Sekte, lediglich als literarisch verschlüsselte Botschaft an die Mitgläubigen verstehen, die sich über die Zumutungen der römischen Herrschaft und die noch ausstehende Abrechnung mit ebenjenen Römern auslässt. Der Satan: die römische Besatzung; der satanische Zahl 666 – die zahlentheoretische Verschlüsselung des Kaisernamens: Nero; die Entscheidungsschlacht: der Sieg der Christen über die Ungläubigen.
Nichtsdestotrotz würde man nicht verstehen können, trotz der literarisch gewaltigen, d.h. eindrücklich schönen und schauerlichen Schreckensbilder, warum die Botschaft über die Jahrhunderte eine solche Wirkung entfalten konnte. Zu Recht weist Malte Henk darauf hin, dass Azteken, die nordische Mythologie und auch der Hinduismus den Untergang ebenfalls kannten – der Unterschied? Dort ist das Ende ist kein richtiges Ende, denn es geht in zyklischen Schleifen munter weiter mit der Welt und damit auch mit uns.
Ein wirkliches Ende ohne wirklichen Anfang?
Jenseits des Zeit-Essays stellt sich die Frage, ob ein richtiges, oder sagen wir genauer, ein apokalyptisches Ende ohne einen wirklichen Anfang überhaupt denkbar ist. Denn die christliche Erzählung umfasst zwar auch eine Kosmologie, sofern sie das alte Testament glaubenstechnisch weiterhin gelten lässt („Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde“ (Gen 1,1)), durchbricht diesen kosmologischen Anfang aber mit Christus und dem neuen Testament, so dass das Johannes-Evangelium folgerichtig mit „Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und das Wort war Gott“ (Johannes 1,1) beginnt. Das heißt, hier ereignet sich ein Neuanfang innerhalb einer schon geschichtlich fortlaufenden Zeit.Wenn es also einen ereignishaften (geschichtlichen) Anfang innerhalb einer kosmologischen Zeit geben kann, so kann – oder muss ? – es auch ein geschichtliches Ende innerhalb einer geschichtlichen Zeit geben, könnte man schlussfolgern.
Auferständnis
In gewisser Weise ist dieses neue Ende auch in den Evangelien des neuen Testamentes angelegt, insofern Christus nicht nur am Kreuz stirbt (und seinem Vater die erschütternde Frage stellt „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Mk 15,34 Mt 27,46, Psalm 22,2), sondern danach auch wieder aufersteht, also nicht richtig tot ist.* Aber – wichtig – auch nicht richtig lebendig, da er irgendwann tatsächlich von der Bildfläche verschwindet, um nicht den schon bekannten zyklischen Kreislauf wieder in Gang zu setzen. Geburt, Tod und Auferstehung stehen also durchaus in einer ereignisaffinen Logik, denn: was wäre das für ein (Neu)Anfang, wenn das Ende genauso aussähe, wie vor dem (Neu)Anfang.
Der kleine Haken an der Sache: was für den Sohn Gottes sich zeitnah ereignet und sich schlüssig und glaubhaft erzählen lässt, eben die Auferstehung, stößt in Bezug auf das eigene Leben des gemeinen christlichen Fußvolks an seine Grenze. Wenn am Ende des Lebens der Gläubige nach oben schaut und eventuell in Ermangelung umfassender Lebenserfüllung fragt „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“, so wird man in den seltensten Fällen nach Tod und Bestattung ein leeres Grab vorfinden. Diese Lücke wiegt umso schwerer, als dass die christlichen Gemeinden in den ersten Jahrhunderten keine kulturelle Hegemonie für sich verbuchen konnten, also keinesfalls auf eine gemeinsam geteilte und kollektiv erfolgreiche Glaubenspraxis rekurrieren konnten. In einer feindlichen Umwelt stellt sich nicht nur die Frage nach der individuellen Erlösung, sondern auch die, warum die christlichen Toten weiterhin genauso in den Gräbern wesen, wie ihre weitaus zahlreicheren Feinde.
Dauert noch etwas
Kurzum: wenn es ein Liebes- und Lebensversprechen des Anfangs gibt, dann muss es auch ein Versprechen auf Erfüllung und Erlösung geben, nicht nur auf einer individuellen, sondern - eingedenk der feindlichen Umwelt - auch auf einer kollektiven Ebene. Unter sozialpsychologischen Gesichtspunkten gibt die Offenbarung die Antwort auf diese Anforderung. Es wird zu einer Entscheidungsschlacht kommen, die den Sieg über den Satan besiegelt. Die Bösen (also die Anderen) kommen in die Hölle, für die Guten bleibt der Himmel. Kein Leid, keine Ungerechtigkeit wird den Fortgang der Geschichte trüben, denn die Geschichte ist definitiv zu Ende.
„Mein Reich ist nicht von dieser Welt.“ (Johannes 18, 36) kann der gläubige Christ angesichts des drohenden Endes mit einigem Optimismus behaupten. Und je weiter das Ereignis der Kreuzigung und Auferstehung in und mit der Zeit verblasst, umso drängender werden die Fragen nach dem Eintreten des Endes, nach dem Beginn der Apokalypse, insbesondere wenn das Leben in und auf der Welt keinem Rosengarten gleicht. Andererseits: was passiert, wenn die Welt sich schöner entwickelt als erwartet, wenn die feindliche Umwelt plötzlich zu deinem Freund wird, das böse römische Reich zu einer erlösenden Macht. Die Bremswirkung einer solchen Entwicklung auf die Untergangssehnsucht dürfte kaum zu überschätzen sein. Johannes Fried schreibt in seinem Apokalypse-Buch:
„Die ganze Welt musste die Botschaft des Auferstandenen vernommen haben, bevor das Ende kommen sollte. Das ‚aufhaltenden’ Römische Reich samt aller seiner Nachfolger war zum Moment der christlichen Heilsgeschichte geworden; (…).“
Johannes Fried: Dies Irae. Eine Geschichte des Weltuntergangs; München, 2016; S 68
Der Spielraum der Apokalypse
Die Parusieverzögerung hatte also im Kontext einer neuen christlichen Umgebung, also im nun christlich geprägten Römischen Reich, zur Folge, dass man die Apokalypse weniger erwartete und herbeisehnte, sondern die Zeit bis zum letzten Gericht umdeuten musste. Ein Handlungs- und Glaubensimperativ folgte nun nicht mehr aus der zeitlichen Nähe zum Ende, sondern umgekehrt musste überlegt werden, aus welchen Gründen das Ende ausblieb und was handlungsmäßig daraus folgte. Die Antwort: die Apokalypse kommt erst dann, wenn die Welt zu einem erlösungsfreundlicheren Ort „umgestaltet“ worden ist – oder vorsichtiger formuliert: das Ende kommt, wenn jeder die Chance hatte, die frohe Kunde seiner Erlösung auch zu vernehmen.
Das paradoxe Resultat dieser Verschiebung war eine Zuwendung zur Welt, aus der auch Aufbruch, Wandel und Erneuerung entstand. Etwas spekulativ könnten man auch sagen, dass man sich in der Folge, z.B. in der Renaissance – wie der Name schon sagt – weniger mit dem Ende als mit dem Anfang beschäftigte. Zwischen einem wundersamen Anfang und einem unglaublichen Ende entstand nun (eine) Zeit, die Dinge zu richten und ein Leben zu leben. Nichtsdestotrotz blieb die Apokalypse als latente Bedrohung zugleich ein Tröstungsjoker für alle jene, die nicht auf der Sonnenseite des gemeinsamen Lebens standen und die Welt am liebsten in den Orkus wünschten, ebenso wie sie ein - wie Sloterdijk sagen würde – Dringlichkeitsapriorie für jene bereitstellte, die diese Welt der Erlösung zuführen wollten und Entscheidungen zu treffen hatten.
Die enthüllte Wahrheit
Wenn Apokalypse das Weltende einläutet, dann ist das nur die halbe Wahrheit, denn schließlich geht es in der Apokalypse auch um die Enthüllung der letzten Wahrheit. Nicht nur besiegelt sie das Ende der Welt, sondern richtet die Menschen und scheidet endgültig nach Gut und Böse. So gesehen mag für einen christlichen Menschen die Apokalypse ein finales Ende besiegeln, aber ganz sicher, wie die Sache für ihn ausgeht, kann er sich nicht sein.**
Schließlich die Aufklärung, mit der das Ende-Denken keineswegs verloren gegangen ist. Wenn das absolute Ende die Enthüllung einer absoluten Wahrheit ist (voraufklärerisch gespeist durch eine apriorische Autorität), so gilt umgekehrt auch, dass die unbedingte Wahrheit das Ende ist - was gäbe es zu diskutieren.. Wenn die Aufklärung als Wahrheits-Erbin nun die Rationalität und Vernunft für ihre Ansprüche nutzbar macht und sich darüber neu legitimiert, so ist auch hier die Hoffnung, dass der Himmel auf die Erde kommt (vielleicht sollte man besser sagen: die Erde zum Himmel wird). Die Wahrheit wird auch hier zu einem Endzeitmechanismus, wie Derrida in seinem kleinen Apokalypse-Buch zeigt.
Bevor die apokalyptische Wahrheit „da“ ist, ist sie schon als Wahrheit verkündet worden und auf die Welt gekommen. In diesem Sinne hat die apokalyptische Wahrheit, ob religiös oder aufklärerisch gespeist, immer schon stattgefunden, wird jedoch zugleich nie vollkommen stattfinden. Das angekündigte Ende schiebt sich mit der Ankündigung auf und durchkreuzt sich selbst. Eine Apokalypse, die sich nie vollendet. Daher:
“Es gibt nur die Apokalypse ohne Apokalypse.”
Jaques Derrida: Apokalypse, Wien 2009 (1983), S. 74
Fortschritt mit und ohne Richtung
Apokalypse ohne Apokalypse. Es gibt noch einen anderen Aspekt dieses ‚Fehlens’, den Derrida in seiner Apokalypseabhandlung nicht explizit ausführt. Denn im Fortgang der Aufklärung und des Denkens scheint die Apokalypse, als Begriff, nicht als Wahrheitsmechanismus, in der Tat aus den Denkgebäuden nicht nur zu verschwinden, der Wahrheitsmechanismus wird nochmals transformiert. Das hat Folgen für den ihm innewohnenden apokalyptischen Zug. Wenn bei Hegel der Geist sich durch seine eigene Bewegung verwirklicht, sich dialektisch zur Wahrheit materialisiert oder bei Marx die Produktionsverhältnisse durch ihre eigenen Widersprüche zu einer besseren Endform finden, dann ist das ‚Böse` durch die Bewegung von Geist und Sein im Prozess der Geschichte von der Erde entfernt worden. Über das Böse muss nicht mehr am Ende der Zeit gerichtet werden, sondern es ist als Negativität in der Zeit aufgehoben und zum Schluss verschwunden. Mag sich die ‚Sache der Zeit’ bei Hegel und Marx sicherlich verwickelter entfalten, so gibt doch dieser Impuls die Grundidee dessen vor, was sich als Fortschritt durch das 19. und 20. Jahrhundert fortschreibt.
Man könnte daraus eine Fortschrittdefinition ableiten, die lautet: Fortschritt ist der Glaube an die Apokalypse, die sich als gutes Prinzip durch die Geschichte verwirklichet und bei der am Ende nichts Böses oder Schlechtes mehr übrig bleibt. Kein Gott muss uns noch retten, weil er im Zuge des Fortschritts überflüssig geworden ist. Am Ende der Zeit gibt es nichts mehr zu richten. Auch wenn sich diese Definition als Trivialität ausnehmen mag, wirft sie doch ein bezeichnendes Licht auf den derzeitigen apokalyptischen Ton.
Apokalypse now
In der Offenbarung heißt es gleich zweimal, zu Anfang und am Ende: „Denn die Zeit ist nahe.“ (Off 1,3; 22,10). Ein Satz, der durch die Jahrhunderte wohl immer wieder Anklang gefunden hat. Und auch heute ist es nicht schwer, bei all den gewichtigen Krisen - Klima-Krise, Demokratie-Krise, Finanz- und Wirtschaftskrise, Corona-Krise - den Weltuntergang als kurz bevorstehend auszurufen. Auch die Schreiber, die mit christlicher Kernkompetenz ausgestattet sind, sehen da Dinge auf uns zukommen
„Und wie nahe diese Zeit ist, das zeigen Entwicklungen und Ereignisse, die wir heute schon beobachten können. Das darf uns sicher zum Ansporn sein, den Herrn mit neuer Frische aus dem Himmel zu erwarten.“
www.bibelstudium.de/articles/4502/die-zeit-ist-nahe.html (vom 09.01.2018)
Sätze wie aus einem unveröffentlichten oder vergessenen Loriot-Film könnte man meinen. Allein, der christliche Anspruch auf Erlösung ist von der Apokalypse nicht zu trennen. Die Erwartung des Herrn mit neuer Frische am Ende der Zeiten ist kein ironischer Seitenhieb, sondern Kern eines christlichen Endzeitdenkens. Wie anders hingegen die Verkündigung des Bundespräsidenten:
„Frank-Walter Steinmeier mahnt junge Menschen, in der Klimadebatte keine unlösbare Apokalypse zu skizzieren, ‚denn Apokalypse lähmt’.“ 8. November 2019, Quelle: ZEIT ONLINE
www.zeit.de/politik/deutschland/2019-11/frank-walter-steinmeier-demokratie-klimaaktivisten-apokalypse
Man möchte Frank-Walter Steinmeier als SPD-Politiker daran erinnern, dass die christliche Apokalypse keineswegs eine Lähmungsfunktion intendierte, sondern auf ein gerechtes Ende hinweist, womit wir beim „modernen Problem“ der Apokalypse angekommen sind. Denn diese hat längst schon eine Bedeutung angenommen, die früher undenkbar war. Denn ist der Fortschrittsoptimismus im Fortgang der Geschichte erstmal gründlich brüchig geworden, kann das Ende (der Welt) nur noch ein Ende sein, das von allen guten Geistern verlassen ist, sinn- und bedeutungslos.
Erst hieraus erklären sich Reaktionsweisen, die auf der einen Seite zwischen Resignation, Zynismus und Hedonismus angesiedelt sind - denn im Angesicht eines solchen Untergangs, und das macht zugleich seine Faszination aus, ist die Verantwortung für die Welt suspendiert -, während auf der anderen Seite ein extremer Hypermoralismus eine Wahrheit durchzusetzen versucht, die an allen Ecken und Enden schon ihre Satisfaktionsfähigkeit eingebüßt hat. So als ob der Reinheit des Geltungsanspruchs seine Wirklichkeitsuntauglichkeit wettmachen könnte. Diese moralische Zuspitzung schließt sich mit dem sinnlosen Ende kurz, also dem, was man einst Apokalypse nannte, damit auf beiden Seiten der Gleichung nicht sichtbar wird, in welche Ausweglosigkeit ein solches unpolitisches Denken sich manövriert hat.
Es kommt nicht von ungefähr, dass mit Greta Thunberg ein mild-autistisches Mädchen zur Anführerin einer Bewegung (Fortschritt?!) wird, deren große Stärke darin zu liegen scheint, unbeirrt von allen Kontexten die Klimaziele als Überlebensbotschaft zu artikulieren, was schließlich in der Hybris mündet, der Weltgemeinschaft tatsächlich ein "How dare you?!" entgegenzuschläudern. Es wird nicht mehr lange dauern, bis man in der Logik der Überbietung einen blinden Taubstummen diese Frage auf die Stirn tätowiert, um die Weltgemeinschaft noch mehr aufzurütteln.
Man wagt nicht zu fragen, mit welchem Versprechen auf welche Art Leben eine solche Anti-Weltuntergangsbewegung die Welt denn vor dem Untergang bewahren will, so also ob das Leben als Leben schon genügen würde. Und es kommt auch nicht von ungefähr, dass ein solch nacktes Leben ziemlich exakt jenen Figuren in den zahlreichen „Apokalypsefilmen“ gleicht, die gemeinhin als Zombis bezeichnet werden und ganz oft eher an das Heute, denn an das Morgen erinnern. Und es ist weiterhin kein Zufall, dass in dieser Form der Apokalypse nur die reine Hölle übrig geblieben ist, da eine Erlösungsmöglichkeit außerhalb unserer Fortschritts- und Geltungszwangslogiken nicht vorgesehen ist.
Will man den „Es-ist-kurz-vor-Zwölf-Diskurses“ enthysterisieren, so empfiehlt es sich, entweder in die Apokalypse als christliches Projekt einzusteigen, oder aus einer Apokalypse, die einer innerweltlichen Fortschritts-Zwangslogik untergründig gefangen bleibt, auszusteigen.***
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* An dieser Stelle könnte man mit einem Nachdenken über den Begriff der Freiheit fortfahren: ist frei sein nicht per se an die Abwesenheit von leitenden und regelnden Instanzen geknüpft; und ist es nicht etwas billig, genau dann an jene Instanzen zu appellieren, wenn die eigenen Entscheidung zu unguten Schicksalsverläufen geführt hat?
** Denn sprichwörtlich heißt es zum Beispiel: „Es ist leichter, daß ein Kamel gehe durch ein Nadelöhr, denn daß ein Reicher in das Reich Gottes komme.“ Lukas 18,25; Matthäus 19,24; Markus 10,25.
*** Ein letzter Trost für alle Klima-Interessierte: In einigen hundert Millionen Jahren wird durch die zunehmende Leuchtkraft der Sonne das Leben von der Erde verschwinden, bis die Sonne schließlich selbst nach weiteren Milliarden von Jahren als kleiner weißer Zwerg eine Träne im Raum der dunklen Unendlichkeit wird.
30. September 2020
0100111001111 usw. Inzwischen ist der Strom unserer Seins ein digitaler. Daten sind wertvoller als herkömmliche Rohstoffe. Daten sind das neue Öl. Die Welt der Gegenstände, das was uns entgegensteht, löst sich nicht auf, sondern unterliegt einer fortwährenden Entwertung. Was ist ein Auto und eine Autofabrik im Vergleich zu den Algorithmen, die die Google-Suchmaschine steuern. Und selbst im Reich der Computer wandern nicht nur unsere Daten, die einstmals auf den lokalen Rechnern lagerten, in die Cloud, sondern auch die Programme selbst (für die Jüngeren: die Apps). Häufig reicht inzwischen ein mobiles, handgroßes Endgerät aus, um sich in der digitalen Welt vollumfänglich bewegen zu können. Der Himmel über uns verheißt wenig, die Cloud inzwischen viel.
Während schon mit dem industriellen Zeitalter die Frage aufkam, ob und wie ein von allen handwerklichen Qualitäten losgelöster Herstellungsprozess die Dinge entwertet und was dies in Bezug auf die Beständigkeit der Welt bedeutet, wirkt diese Sorge angesichts der Geschwindigkeit, mit der digitale Prozesse die Welt transformieren, fast putzig.
Sehen wir also das Endspiel um die Welt-Bewältigung, in der sich der „Geist“ nun endgültig gegen die Form und die Materie durchsetzt und wo selbst unser Körper in naher Zukunft nur noch ein Restbestand austauschbarer und erneuerbarer Gensequenzen zu sein scheint. Sind dies vielleicht die letzten Stolpersteine auf dem Weg zu einem Leben unter absoluter Herrschaft des „Geistes. Ein „Geist“ der über jedwede Materie bestimmen kann, wie ein Schlachtmesser an der Kehle des Nutztiers.
Die Frage ist als rhetorische offensichtlich. Bis auf weiteres bleibt es dabei: Wenn der Geist sich nicht mit der Materie verbindet, ist er buchstäblich Nichts. Der menschliche Geist kann sich nicht aus sich selbst schöpfen. Unsere Körper sind immer schon da, präfigurieren unser Denken, auch wenn wir den Körper in philosophischen Höhenflügen meist schnell hinter uns lassen (wollen). Es kommt nicht von ungefähr, dass die Philosophie in vielen ihrer Konstrukte daran arbeitet, den sterblichen Körper, diese Form der Begrenzung und des Verfalls, loswerden. In seinem Buch „Häresie der Formlosigkeit“ schreibt Martin Mosebach zum Beispiel über die Doktrin, die Form und Inhalt voneinander ablösbar hält:
„Was sie den Inhalt nennt, die Abstraktion, der theoretische Extrakt, das ist für sie die eigentliche Wirklichkeit; die durchbluteten Körper, die sinnlich tastbaren Gestalten hingegen sind bloß Form, austauschbare Schattengebilde; wer sich mit dieser Form befasst, verbleibt im Peripheren, im Akzidentiellen . wer aber durch die From hindurchstößt zu den ewigen Abstraktionen, der ist ans Licht der Wahrheit gelangt.“
Mosebach, Martin: Häresie der Formlosigkeit. Die römische Liturgie und ihr Feind, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg bei Reinbek, 2019, S 101
Besonders prekär wird die Angelegenheit, wenn eine vertikale Beziehungsdimension das Sein der Menschen in Anspruch nimmt, was, soweit ersichtlich, seit Anbeginn der Zeiten mehr oder minder der Fall sein dürfte. Der „göttliche Geist“ von oben ist gerade jener, der die Imponderabilien des defizitären, da erdverbundenen menschlichen Seins erträglich macht. Was sinnloses Leid, Ungerechtigkeit, Verzweiflung war, soll wieder gut werden. Und ab sofort stellt sich die Frage, wie bitte schön die Vermittlung dieser Ansprüche von statten gehen soll. Irgendeine Art von Anspruch und von Zuspruch muss anschaulich gegeben sein, damit sich nicht jeder und jede ins Nirvana halluziniert (was vorkommt).
Kurzum, die Wirklichkeit kann anders werden, als sie sich gibt. Diese Erfahrung ist den Sterblichen von Anbeginn eingeschrieben, auch wenn wir Heutigen tatsächlich meinen, dass es einen feststellbaren Grund der Wirklichkeit gibt, der umso trag- und wirkungsmächtiger ist, je mehr wir unseren Mono-Grund-Geist die Wirklichkeit durchformen lassen.
Martin Mosebach verhandelt diesen unscheinbaren Sachverhalt anhand der römischen Liturgie oder besser: anhand ihres drohenden Verschwindens. Die gesamtgesellschaftliche Ausgangslage ist bei Mosebach wie folgt: Die wissenschaftlich-technische Revolution hat Verhältnisse geschaffen, in denen zwar vieles auf höchst effiziente Weise funktioniert, aber die Lebenszusammenhänge kaum sinnvoll entzifferbar sind. Der Rhythmus des Lebens ist verloren gegangen und wir finden selten noch einen sinnlichen Ausdruck für Ereignisse wie das Geborenwerden oder das Sterben, für das Verhältnis zwischen den Geschlechtern, für die politische Macht, für das Verhältnis von Arbeit zu Muße, für unsere Beziehung zu den ewigen Mächten, so Mosebach (ebda. S. 306).
Hingegen dienen sakrale Bräuche genau dazu: sie veranschaulichen die Differenz zu der profanen Zeit, heben besondere Ereignisse und/oder Lebensabschnitte hervor, kreieren eine besondere Praxis, die wiederum mit dem Körper und/oder mit besonderen Dingen verknüpft ist. Somit rhythmisieren sie nicht nur die individuelle und kollektive Zeit, sondern erinnern daran, dass zu besonderen Zeiten besondere Dinge geschehen können.
Insofern bietet der Ritus nicht nur einen gemeinsamen Rahmen, um ein Ereignis zu feiern bzw. zu bewältigen, womit er auch eine Stabilisierungsfunktion erfüllt, sondern er eröffnet zugleich einen Ereignishorizont. Zumindest zeigt der Ritus, dass ein solcher Horizont für neue Ereignisse möglich ist (Der Vollständigkeit halber muss hinzugefügt werden, dass der Ritus natürlich auch einengend und untersagend sein kann). Um mit Mosebach auf die christliche Liturgie zurückzukommen, so ist die Opferfeier das wichtigste - rituelle - Element in einem Gottesdienst. Das Opfer, das Gott dargebracht wird, besteht paradoxer Weise darin, dass Gott selbst es ist, der opfert (ebda. S. 286). Die Fleischwerdung Gottes samt Tod am Kreuz und Auferstehung, im Ritus aufgehoben, bildet ein Ereignis, das in seiner Tragweite kaum zu überschätzen ist. Unabhängig von der historischen Belastbarkeit dieses „Vorgangs“ zeugt das Christentum mit seiner Geschichte davon, dass sich etwas Außerordentliches ereignet hat und die Abfolge eines wie immer gearteten Geschichtsablaufs unterbrochen wurde (u.a. mit einer Zeitrechnung, die aus diesem Ereignis entspringt).
Im Kern der Geschichte wurden nicht ein wunderähnlicher Zauber vollführt, sondern Gott selbst ist Fleisch geworden und hat sich der Vergänglichkeit ausgesetzt (und heißt Vergänglichkeit nicht auch: der Freiheit ausgesetzt). Jede Art solcher Ereignishaftigkeit muss sich materialisieren, nicht nur, um sich vernehmbar zu machen, sondern weil das Ereignis als Ereignis Materie/Form sein muss – die Ewigkeit mag formlos sein, die Angelegenheiten der Sterblichen sind es nicht. Im Ritus, so könnte man Mosebach verstehen, wird dieses Ereignis wiederum in einer transformierten und durch die Geschichte immer wieder abgewandelten Form gebracht, um das Ereignis zu wiederholen. Und hier stößt man auf das nächste Paradox: ist nicht die Wiederholung der Tod und die Einebnung des ursprünglichen Ereignisses? Oder: ist der Ritus nicht letztendlich ohnmächtig gegenüber der Macht des ursprünglichen Ereignisses, ist er nicht nur ein schwacher Abglanz seines Ausgangspunkts?
Oder anders gefragt: erfüllt der Ritus nicht genau dann sein Versprechen, wenn er in der Wiederholung jenes Ereignisses das Ereignis neu und in voller Wucht vor unseren Sinnen erscheinen lässt. Dies ist der Anspruch der katholischen Eucharistie – nicht nur ein „symbolisches Opfer“, nicht nur „als ob“, sondern die Verwandlung von Brot und Wein in den Leib und das Blut Jesu Christi. In diesem Sinne gehört zum Ritus zwingend die Bindung an die materielle Welt, insbesondere im Christentum, da es sich um die Religion der Auferstehung des Fleisches handelt, wie Mosebach bemerkt (ebda. S. 302). Die Materie als sicht-, fühl-, riech- und hörbares Stück Sein ist nicht nur ein nachträglich hinzugefügtes Etwas, fungiert nicht als Beglaubigungsformat einer außermateriellen Wahrheit, sondern ist mit dem „Geist“ zutiefst verklammert. Das Ereignis kann nicht anders, als mit und aus der Materie zu „sprechen“. Erst so kann es überhaupt zu Materialisierungsformen einer sinn- und wirklichkeitsverwandelnden „Geistigkeit“ bzw. „Göttlichkeit“ kommen. Der reine Geist kann nicht und nichts vermitteln.
In diesem Sinn lassen sich Form und Inhalt keineswegs trennen, auch wenn nicht jede Form dadurch sprechend wird. Weiterhin ist eine Form nichts Statisches, da sie sich im Kontext jeder Wiederholung, ja durch die Wiederholung selbst ändert. Dies ist auch der Grund, warum Riten im Laufe der Zeit ganz zwangsläufig Änderungen unterliegen und auch bewußt abgeändert werden. Der sinn- und wirklichkeitsverwandelnde „Zug“ ist immer ein kollektiv bezeugter, der (s)einen zeitbezogenen Stempel tragen muss, damit sich die Menschen als Mitschreibende in ihm erkennen.
Was also hat es zu bedeuten, wenn die Form, der Ritus, der Körper, die Natur, die Dinge, die Materie aus unserer Lebenswirklichkeit mehr und mehr verschwinden. Auf der christlichen Folie des Ritus und der rituellen Formgebung konstatiert Martin Mosebach, dass der Aufstand gegen die Form keineswegs in die Freiheit, sondern in den Kitsch und in Kümmerformen mündet (ebda. S 283). Wenn das innere Erleben sich nicht mehr in und an der Form orientieren muss, fällt folgerichtig auch das Korrektiv der gemeinsamen Formteilung und Auseinandersetzung weg, könnte man hinzufügen. Die Gravitations- und Fliehkräfte der ersten und letzten Dinge, die in den Ereignismomenten des Lebens uns entgegentreten und im Ritus „bearbeitet“ werden, geraten durch eine rein innerliche Betrachtung eher in eine Sackgasse. Während der Ritus im besten Falle stabilisierend und / oder öffnend wirkt (Zuspruch und Inspiration), neigt das abgekapselte Ich dazu, sich zu verlieren oder sich zu verhärten. Ähnlich verhält es sich auch mit den moralischen Geboten. Wenn ich die Frage nach einem gottgefälligen und einwandfreien Leben nur zwischen mir und Gott ausmachen muss, werde ich zwangsläufig auf mich selbst als unzuverlässigen Gradmesser meiner Erfolge und Misserfolge zurückgeworfen. Die Loslösung von allen Kontexten, die Zuspitzung auf eine reine und bereinigte geistige Ebene des moralischen Handelns führt meist zu einer Maßlosigkeit des Anspruchs, der die Angelegenheiten verschlimmbessert. Es daher auch nur ein kleiner Schritt im Protestantismus, wenn man aus der Aufgabe Gott-Minus-Ritus den Geist errechnet, der zum Schluss auch sich selbst genügt.
In diesem Zusammenhang ist es vielleicht auch bedenkenswert, warum die christliche Opferfrage im Gegensatz zum Liebesgebot insbesondere für protestantische Ohren keinen guten Klang hat. Das christliche Liebesgebot - liebe deinen nächsten wie dich selbst – mag als normative Orientierung auf faktische Hindernisse treffen, erlaubt aber letzten Endes eine absolute Egalität der Menschen, wenn auch erst in einer fernen Zukunft. Das Opfer hingegen, gleich auf welcher Seite, belässt die faktische Unwucht des Lebens, die Asynchronität des Mit-Seins nicht nur im Hier und Jetzt, sondern erhebt sie zu etwas Grundsätzlichem. Sobald das erste Wort gesprochen wird, sind wir etwas schuldig.
Wenn Metaphysik die geistige Festschreibung von Wahrheiten oberhalb des uns Entgegenstehenden ist, somit also ein Selbstgespräch führt, und die moderne Objektivität die Zurichtung von Gegenständen und Zusammenhängen auf bestimmte Erkenntnisweisen ist, die das Entgegenstehende verstummen lassen, dann wird die Frage nach Formen und Riten eine dringlichere. Dabei kann man die Religion – zumal die christliche – danach fragen, inwiefern sie die Öffnungsmomente und ihre Riten, die uns an diese Öffnungsmomente erinnern sollen, nicht durch den Erlösungsanspruch – also durch die Wahrheit der Auferstehung – zugleich limitiert und welche andere Formen der „rituellen“ Praktiken, der Materialisationsanschlüsse zu den ersten und letzten Dinge wir noch „haben". o o o 1 1 1 o o o
31. August 2020