Geist und Form im Land der ersten und letzten Dinge
0100111001111 usw. Inzwischen ist der Strom unserer Seins ein digitaler. Daten sind wertvoller als herkömmliche Rohstoffe. Daten sind das neue Öl. Die Welt der Gegenstände, das was uns entgegensteht, löst sich nicht auf, sondern unterliegt einer fortwährenden Entwertung. Was ist ein Auto und eine Autofabrik im Vergleich zu den Algorithmen, die die Google-Suchmaschine steuern. Und selbst im Reich der Computer wandern nicht nur unsere Daten, die einstmals auf den lokalen Rechnern lagerten, in die Cloud, sondern auch die Programme selbst (für die Jüngeren: die Apps). Häufig reicht inzwischen ein mobiles, handgroßes Endgerät aus, um sich in der digitalen Welt vollumfänglich bewegen zu können. Der Himmel über uns verheißt wenig, die Cloud inzwischen viel.
Während schon mit dem industriellen Zeitalter die Frage aufkam, ob und wie ein von allen handwerklichen Qualitäten losgelöster Herstellungsprozess die Dinge entwertet und was dies in Bezug auf die Beständigkeit der Welt bedeutet, wirkt diese Sorge angesichts der Geschwindigkeit, mit der digitale Prozesse die Welt transformieren, fast putzig.
Sehen wir also das Endspiel um die Welt-Bewältigung, in der sich der „Geist“ nun endgültig gegen die Form und die Materie durchsetzt und wo selbst unser Körper in naher Zukunft nur noch ein Restbestand austauschbarer und erneuerbarer Gensequenzen zu sein scheint. Sind dies vielleicht die letzten Stolpersteine auf dem Weg zu einem Leben unter absoluter Herrschaft des „Geistes. Ein „Geist“ der über jedwede Materie bestimmen kann, wie ein Schlachtmesser an der Kehle des Nutztiers.
Die Frage ist als rhetorische offensichtlich. Bis auf weiteres bleibt es dabei: Wenn der Geist sich nicht mit der Materie verbindet, ist er buchstäblich Nichts. Der menschliche Geist kann sich nicht aus sich selbst schöpfen. Unsere Körper sind immer schon da, präfigurieren unser Denken, auch wenn wir den Körper in philosophischen Höhenflügen meist schnell hinter uns lassen (wollen). Es kommt nicht von ungefähr, dass die Philosophie in vielen ihrer Konstrukte daran arbeitet, den sterblichen Körper, diese Form der Begrenzung und des Verfalls, loswerden. In seinem Buch „Häresie der Formlosigkeit“ schreibt Martin Mosebach zum Beispiel über die Doktrin, die Form und Inhalt voneinander ablösbar hält:
„Was sie den Inhalt nennt, die Abstraktion, der theoretische Extrakt, das ist für sie die eigentliche Wirklichkeit; die durchbluteten Körper, die sinnlich tastbaren Gestalten hingegen sind bloß Form, austauschbare Schattengebilde; wer sich mit dieser Form befasst, verbleibt im Peripheren, im Akzidentiellen . wer aber durch die From hindurchstößt zu den ewigen Abstraktionen, der ist ans Licht der Wahrheit gelangt.“
Mosebach, Martin: Häresie der Formlosigkeit. Die römische Liturgie und ihr Feind, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg bei Reinbek, 2019, S 101
Besonders prekär wird die Angelegenheit, wenn eine vertikale Beziehungsdimension das Sein der Menschen in Anspruch nimmt, was, soweit ersichtlich, seit Anbeginn der Zeiten mehr oder minder der Fall sein dürfte. Der „göttliche Geist“ von oben ist gerade jener, der die Imponderabilien des defizitären, da erdverbundenen menschlichen Seins erträglich macht. Was sinnloses Leid, Ungerechtigkeit, Verzweiflung war, soll wieder gut werden. Und ab sofort stellt sich die Frage, wie bitte schön die Vermittlung dieser Ansprüche von statten gehen soll. Irgendeine Art von Anspruch und von Zuspruch muss anschaulich gegeben sein, damit sich nicht jeder und jede ins Nirvana halluziniert (was vorkommt).
Kurzum, die Wirklichkeit kann anders werden, als sie sich gibt. Diese Erfahrung ist den Sterblichen von Anbeginn eingeschrieben, auch wenn wir Heutigen tatsächlich meinen, dass es einen feststellbaren Grund der Wirklichkeit gibt, der umso trag- und wirkungsmächtiger ist, je mehr wir unseren Mono-Grund-Geist die Wirklichkeit durchformen lassen.
Martin Mosebach verhandelt diesen unscheinbaren Sachverhalt anhand der römischen Liturgie oder besser: anhand ihres drohenden Verschwindens. Die gesamtgesellschaftliche Ausgangslage ist bei Mosebach wie folgt: Die wissenschaftlich-technische Revolution hat Verhältnisse geschaffen, in denen zwar vieles auf höchst effiziente Weise funktioniert, aber die Lebenszusammenhänge kaum sinnvoll entzifferbar sind. Der Rhythmus des Lebens ist verloren gegangen und wir finden selten noch einen sinnlichen Ausdruck für Ereignisse wie das Geborenwerden oder das Sterben, für das Verhältnis zwischen den Geschlechtern, für die politische Macht, für das Verhältnis von Arbeit zu Muße, für unsere Beziehung zu den ewigen Mächten, so Mosebach (ebda. S. 306).
Hingegen dienen sakrale Bräuche genau dazu: sie veranschaulichen die Differenz zu der profanen Zeit, heben besondere Ereignisse und/oder Lebensabschnitte hervor, kreieren eine besondere Praxis, die wiederum mit dem Körper und/oder mit besonderen Dingen verknüpft ist. Somit rhythmisieren sie nicht nur die individuelle und kollektive Zeit, sondern erinnern daran, dass zu besonderen Zeiten besondere Dinge geschehen können.
Insofern bietet der Ritus nicht nur einen gemeinsamen Rahmen, um ein Ereignis zu feiern bzw. zu bewältigen, womit er auch eine Stabilisierungsfunktion erfüllt, sondern er eröffnet zugleich einen Ereignishorizont. Zumindest zeigt der Ritus, dass ein solcher Horizont für neue Ereignisse möglich ist (Der Vollständigkeit halber muss hinzugefügt werden, dass der Ritus natürlich auch einengend und untersagend sein kann). Um mit Mosebach auf die christliche Liturgie zurückzukommen, so ist die Opferfeier das wichtigste - rituelle - Element in einem Gottesdienst. Das Opfer, das Gott dargebracht wird, besteht paradoxer Weise darin, dass Gott selbst es ist, der opfert (ebda. S. 286). Die Fleischwerdung Gottes samt Tod am Kreuz und Auferstehung, im Ritus aufgehoben, bildet ein Ereignis, das in seiner Tragweite kaum zu überschätzen ist. Unabhängig von der historischen Belastbarkeit dieses „Vorgangs“ zeugt das Christentum mit seiner Geschichte davon, dass sich etwas Außerordentliches ereignet hat und die Abfolge eines wie immer gearteten Geschichtsablaufs unterbrochen wurde (u.a. mit einer Zeitrechnung, die aus diesem Ereignis entspringt).
Im Kern der Geschichte wurden nicht ein wunderähnlicher Zauber vollführt, sondern Gott selbst ist Fleisch geworden und hat sich der Vergänglichkeit ausgesetzt (und heißt Vergänglichkeit nicht auch: der Freiheit ausgesetzt). Jede Art solcher Ereignishaftigkeit muss sich materialisieren, nicht nur, um sich vernehmbar zu machen, sondern weil das Ereignis als Ereignis Materie/Form sein muss – die Ewigkeit mag formlos sein, die Angelegenheiten der Sterblichen sind es nicht. Im Ritus, so könnte man Mosebach verstehen, wird dieses Ereignis wiederum in einer transformierten und durch die Geschichte immer wieder abgewandelten Form gebracht, um das Ereignis zu wiederholen. Und hier stößt man auf das nächste Paradox: ist nicht die Wiederholung der Tod und die Einebnung des ursprünglichen Ereignisses? Oder: ist der Ritus nicht letztendlich ohnmächtig gegenüber der Macht des ursprünglichen Ereignisses, ist er nicht nur ein schwacher Abglanz seines Ausgangspunkts?
Oder anders gefragt: erfüllt der Ritus nicht genau dann sein Versprechen, wenn er in der Wiederholung jenes Ereignisses das Ereignis neu und in voller Wucht vor unseren Sinnen erscheinen lässt. Dies ist der Anspruch der katholischen Eucharistie – nicht nur ein „symbolisches Opfer“, nicht nur „als ob“, sondern die Verwandlung von Brot und Wein in den Leib und das Blut Jesu Christi. In diesem Sinne gehört zum Ritus zwingend die Bindung an die materielle Welt, insbesondere im Christentum, da es sich um die Religion der Auferstehung des Fleisches handelt, wie Mosebach bemerkt (ebda. S. 302). Die Materie als sicht-, fühl-, riech- und hörbares Stück Sein ist nicht nur ein nachträglich hinzugefügtes Etwas, fungiert nicht als Beglaubigungsformat einer außermateriellen Wahrheit, sondern ist mit dem „Geist“ zutiefst verklammert. Das Ereignis kann nicht anders, als mit und aus der Materie zu „sprechen“. Erst so kann es überhaupt zu Materialisierungsformen einer sinn- und wirklichkeitsverwandelnden „Geistigkeit“ bzw. „Göttlichkeit“ kommen. Der reine Geist kann nicht und nichts vermitteln.
In diesem Sinn lassen sich Form und Inhalt keineswegs trennen, auch wenn nicht jede Form dadurch sprechend wird. Weiterhin ist eine Form nichts Statisches, da sie sich im Kontext jeder Wiederholung, ja durch die Wiederholung selbst ändert. Dies ist auch der Grund, warum Riten im Laufe der Zeit ganz zwangsläufig Änderungen unterliegen und auch bewußt abgeändert werden. Der sinn- und wirklichkeitsverwandelnde „Zug“ ist immer ein kollektiv bezeugter, der (s)einen zeitbezogenen Stempel tragen muss, damit sich die Menschen als Mitschreibende in ihm erkennen.
Was also hat es zu bedeuten, wenn die Form, der Ritus, der Körper, die Natur, die Dinge, die Materie aus unserer Lebenswirklichkeit mehr und mehr verschwinden. Auf der christlichen Folie des Ritus und der rituellen Formgebung konstatiert Martin Mosebach, dass der Aufstand gegen die Form keineswegs in die Freiheit, sondern in den Kitsch und in Kümmerformen mündet (ebda. S 283). Wenn das innere Erleben sich nicht mehr in und an der Form orientieren muss, fällt folgerichtig auch das Korrektiv der gemeinsamen Formteilung und Auseinandersetzung weg, könnte man hinzufügen. Die Gravitations- und Fliehkräfte der ersten und letzten Dinge, die in den Ereignismomenten des Lebens uns entgegentreten und im Ritus „bearbeitet“ werden, geraten durch eine rein innerliche Betrachtung eher in eine Sackgasse. Während der Ritus im besten Falle stabilisierend und / oder öffnend wirkt (Zuspruch und Inspiration), neigt das abgekapselte Ich dazu, sich zu verlieren oder sich zu verhärten. Ähnlich verhält es sich auch mit den moralischen Geboten. Wenn ich die Frage nach einem gottgefälligen und einwandfreien Leben nur zwischen mir und Gott ausmachen muss, werde ich zwangsläufig auf mich selbst als unzuverlässigen Gradmesser meiner Erfolge und Misserfolge zurückgeworfen. Die Loslösung von allen Kontexten, die Zuspitzung auf eine reine und bereinigte geistige Ebene des moralischen Handelns führt meist zu einer Maßlosigkeit des Anspruchs, der die Angelegenheiten verschlimmbessert. Es daher auch nur ein kleiner Schritt im Protestantismus, wenn man aus der Aufgabe Gott-Minus-Ritus den Geist errechnet, der zum Schluss auch sich selbst genügt.
In diesem Zusammenhang ist es vielleicht auch bedenkenswert, warum die christliche Opferfrage im Gegensatz zum Liebesgebot insbesondere für protestantische Ohren keinen guten Klang hat. Das christliche Liebesgebot - liebe deinen nächsten wie dich selbst – mag als normative Orientierung auf faktische Hindernisse treffen, erlaubt aber letzten Endes eine absolute Egalität der Menschen, wenn auch erst in einer fernen Zukunft. Das Opfer hingegen, gleich auf welcher Seite, belässt die faktische Unwucht des Lebens, die Asynchronität des Mit-Seins nicht nur im Hier und Jetzt, sondern erhebt sie zu etwas Grundsätzlichem. Sobald das erste Wort gesprochen wird, sind wir etwas schuldig.
Wenn Metaphysik die geistige Festschreibung von Wahrheiten oberhalb des uns Entgegenstehenden ist, somit also ein Selbstgespräch führt, und die moderne Objektivität die Zurichtung von Gegenständen und Zusammenhängen auf bestimmte Erkenntnisweisen ist, die das Entgegenstehende verstummen lassen, dann wird die Frage nach Formen und Riten eine dringlichere. Dabei kann man die Religion – zumal die christliche – danach fragen, inwiefern sie die Öffnungsmomente und ihre Riten, die uns an diese Öffnungsmomente erinnern sollen, nicht durch den Erlösungsanspruch – also durch die Wahrheit der Auferstehung – zugleich limitiert und welche andere Formen der „rituellen“ Praktiken, der Materialisationsanschlüsse zu den ersten und letzten Dinge wir noch „haben". o o o 1 1 1 o o o
31. August 2020