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Intermezzo 2b: Auch Gott setzt auf die 2

Wenn die 2 und ihre Verbindung zur Wiederholung als Zahl des ereignishaften Konflikts und der sich verschiebenden Fortschreibung gesehen werden kann, so zeigen sich diese Momente geradezu paradigmatisch in einer der ältesten und bekanntesten Geschichten aus dem Alten Testament, im Buch Exodus und zwar wie folgt:

Also, die Kinder Israels landen im dritten Monat nach dem Auszug aus Ägypten in der Wüste Sinai. Gott bietet, vermittelt durch Mose, dem Volk Israel einen Bund an (Exodus, 19, 5), wobei ein Bund bekanntlich aus (mindestens) zwei Parteien bestehen muss (zum Aspekt des Bundes und seiner politischen Implikationen siehe auch: Michael Walzer: Exodus und Revolution, Frankfurt/M (Fischer), 1995 (1985)). Gott verkündet, dass er am dritten Tag daher herabfahren werde (Exodus 19,11), wobei das Volk, als es denn soweit ist, aus Furcht und Angst Mose bittet, alles weitere zu regeln. Mose empfängt und übermittelt die Worte und die Rechtsvorschriften des Herrn (Exodus 24,3) und schreibt alle Worte des Herrn auf. (Exodus 24,4). Das Volk ist mit dem Bund einverstanden und Mose geht, Gott befohlen, wieder auf den Berg, um von Gott die steinernen Tafeln und Gesetze und Gebote, die ER (Gott) selbst geschrieben hat, zu empfangen (Exodus 24,12). Mose bleibt vierzig Tage oben (Exodus 24,18) und empfängt detaillierte Anweisungen zur Ausgestaltung des Bundes.

Zwischenzeitlich ist das Volk eigene Wege gegangen und hat das sprichwörtlich gewordene goldene Kalb erschaffen (Exodus 32,1-6). Gott wird darüber zornig (Exodus 32,7-10), wird aber von Mose besänftigt (Exodus 32,11-14). Mose steigt schließlich den Berg mit den zwei Tafeln, die nicht nur von Gott selbst gemacht, sondern auch auf beiden Seiten von Gott selbst beschrieben worden sind, hinunter (Exodus 32,15). Allerdings entbrennt daraufhin der Zorn Mose, als er das gotteslästerliche Malheur sieht und er zerschmettert die Tafeln am Fuß des Berges (Exodus 32,19).

Was dann geschieht ist, so Michael Walzer, die erste „revolutionäre Säuberung“ in der Geschichte (Michael Walzer: a.a.O., S. 65) (Exodus 32, 26). Die Götzenanbeter werden ohne Warnung und ohne Urteil getötet, wobei Mose im Namen Gottes dazu aufruft, erbarmungslos vorzugehen, d.h. selbst Brüder, Freunde und Nächste nicht zu schonen. Am nächsten Tag schaut Mose was er in der Kommunikation mit Gott für das um 3.000 Menschen reduzierte Volk tun kann, wobei sich Gott recht unversöhnlich zeigt. Nach einigem hin und her befiehlt Gott schließlich Mose zwei neue steinerne Tafeln zu hauen, auf die Gott nochmals die Worte der ersten Tafeln schreiben will (Exodus 34,1) „Ich werde darauf die Worte schreiben, die auf den ersten Tafeln standen, die du zerschmettert hast.“( Exodus 34,1, zitiert nach: Die Bibel, Einheitsübersetzung, Stuttgart (Katholische Bibelanstalt GmbH), 1980). Mose haut und steigt am nächsten Tag auf den Berg Sinai. Gott erneuert den Bund Exodus (34,10) und trägt Mose verschiedene Anweisungen auf. Schließlich ergeht von Gott die Anweisung: „Schreib diese Worte auf.“ (Exodus 34,27) Daraufhin bleibt Mose beim Herrn wiederum 40 Tage und Nächte: „Er schrieb die Worte des Bundes, die zehn Worte, auf Tafeln.“ (Exodus 34,28). Danach steigt Mose mit den beiden Tafeln der Bundesurkunde vom Berg und übergibt den Israeliten die Gebote (Exodus 34, 32).

Kann man diese Geschichte nicht als ein Lehrstück über die Zahl 2 und über die ‚Geheimnisse’ der Wiederholung lesen, über die „Wiederholungseffekte“ in Form von Verbindungen, Trennungen, Konflikte, Um- und Fortschreibungen, Geboten?
Schon der anfängliche Bundesgedanke ist auf zwei Entitäten angewiesen, hier„Gott“ und die „Menschen“ (ein Volk, nicht ein Individuum), die im Bund aber nicht zu etwas Drittem verschmelzen, sondern dem Anderen in seinem „So-Sein“ beistehen (heißt auch: Beibehaltung eines Freiheitsmoments; man folgt dem Bund aus freien Stücken, kann ihn aber auch brechen). Als das Volk dann schließlich mit Gott in Berührung kommen kann, also kurz vor (s)einer unmittelbaren Kontaktaufnahme, wird es den Menschen doch unheimlich, sie fürchten sich und Mose soll alles Weitere übernehmen. Letzterer fungiert, wie die Engel auch, als Vermittler einer „Wahrheit“, die in ihrer Unmittelbarkeit nicht nur unaussprechlich, sondern bedrohlich daher kommt.*

Im weiteren Verlauf der Erzählung wird viel dafür getan, diese unmittelbare und unheimliche Bedrohlichkeit durch Vermittlungsinstanzen zu entschärfen. Im Beisein des Mittlers Mose werden die Vereinbarungen, die Gesetze und Gebote, zunächst durch Gott selbst in steinerne Tafeln gefasst. Dabei ist die Schrift einerseits Abstandnahme zur Präsenz des gesprochenen Wortes und bürgt andererseits für eine größere Halt- und Tradierbarkeit als die bloß mündliche Weitergabe. Es dürfte ebenfalls kein Zufall sein, dass es sich um zwei Tafeln handelt, die zudem von beiden Seiten beschrieben wurden. Alles verdoppelt sich mit dem Ziel, zwar eine Bindung und einen Bund auf Dauer zu etablieren (obwohl beide Tafeln für das Volk bestimmt sind, haben sie doch– wie bei einem Vertrag –einen „Durchschriftcharakter“), jedoch zugleich den Interpretations- und Freiheitsspielraum zu vergrößern. Das was geschrieben steht, kann und muss interpretiert werden, damit es im täglichen Leben, in immer neuen und anderen Kontexten auch umgesetzt werden kann.

Und um die Ernsthaftigkeit des Bundes zu verdeutlichen, wird der Akt der Tafel-Übergabe ebenfalls ein zweites Mal vollzogen, weil bekannter Maßen inzwischen das Volk abtrünnig geworden ist. Die Ursprungstafeln werden durch Mose zerstört. Wie auch immer der Konflikt im Anschluss an das goldene Kalb interpretiert werden mag (als ‚pädagogischer Hinweis’ an all diejenigen, die nicht an den Bund glauben; als Aussortierung derjenigen, die mit ihrer ägyptischen Sklavenmoral die neue Freiheit des Bundes nicht leben wollen), er veranschaulicht, dass ein Neubeginn ohne Ursprung, ohne die Reinheit der unmittelbaren Übereinstimmung möglich ist, ja vielleicht sogar, dass ein Neubeginn – ein neuer Bund - notwendiger Weise konflikthafte Momente umfasst. Im Anschluss daran werden die Tafeln also nochmals gefertigt, was jedoch kein Akt der reinen Wiederholung ist, da Mose diesmal die Tafeln nicht nur anfertigen, sondern auch selbst beschreiben muss. Somit wird das Wort Gottes, Gottes Spur, zwar erhalten, diesmal aber durch eine menschliche Hand niedergeschrieben; es erscheint durch Menschenhand. Wäre es also abwegig zu behaupten, dass die Exodus-Geschichte auch eine zutiefst anti-apoklyptische Geschichte ist, da die Wahrheit weniger enthüllt, als durch immer neue Wendungen und Konflikte (in der Schrift, im Bund) verdoppelt und vermittelt wird, um sie den Interpretationen zugänglich zu machen?

Zum Schluss sei dem Ganzen mit Paul Chaim Eisenberg noch eine mehr alltagspraktische Wendung mitgegeben. Eisenberg zitiert eine Lehre des Talmud, die sich mit der Wichtigkeit der Wiederholung befasst:
„Es ist nicht dasselbe, ob man etwas hundertmal oder hundertundeinmal lernt.“
Paul Chaim Eisenberg: Das ABC vom Glück. Jüdische Weisheiten für jede Lebenslage; Wien, 2019, S. 125

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* Der Gedanke, dass die absolute Unmittelbarkeit nah an den Tod heranreicht, ist ein klassischer Topos der Kunst und Literatur. Man denke an Friedrich Schiller und „Das verschleierte Bild zu Sais“. Massimo Cacciari schreibt, dass die Myriaden himmlischer Heerscharen zeigen, dass die Wahrheit sich in Namen verhüllen muss, damit der Mensch ihr beipflichten kann (Massimo Cacciari: Der notwendige Engel, Klagenfurt 1987 (1986), S 13).

Im Grunde genommen ist die Frage der unmittelbare Wahrheit ein apokalyptisches Motiv, bedeutet Apokalypse doch: die Enthüllung des Wahren, womit die Schöpfung ihr Ende findet (Off. 21,4). Siehe dazu auch: Johannes Fried: Dies Irae. Eine Geschichte des Weltuntergangs; München, 2016; und: Jacques Derrida: Apokalypse, Wien 2009 (1983). Dazu noch zwei Gedanken: zum einen die Frage, ob und wie die Parusierverzögerung überhaupt den Spielraum für die Moderne geschaffen hat, und ob die Parusierverzögerung des Fortschritts nicht die Frage der Apokalypse wieder drängender macht. Zur Enthysteriesierung des „Es-ist-kurz-vor-Zwölf-Diskurses“ müsste man mit Derrida sagen: “Es gibt nur die Apokalypse ohne Apokalypse.” (Jacques Derrida: Apokalypse, Wien 2009 (1983), S. 74)

30. Dezember 2019

Intermezzo 2: Nichts geschieht außer zum zweiten Mal

Die Zwei, also die Zahl "2" hat nicht den besten Leumund. Denn die Zwei steckt wohl nicht zufällig in der Entzweiung, ist mit Zweifel, Zwist und Zwietracht verbunden. Metaphysisch gesehen ist die 2 der Abfall vom Einen, der Widerspruch zur göttlichen Einheit. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass die 2 in der Magie, in der Kunst des großen Geheimnisses, das die Welt verborgen durchwebt, kaum vorkommt. Und auch bei der Schöpfungsgeschichte passiert Erstaunliches (zitiert nach der Lutherbibel; 1. Mose 1,1 - 2,3)

1. Schöpfungstag 
- Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde (...) Und Gott sah, dass das Licht gut war.

3. Schöpfungstag 
- Und Gott nannte das Trockene Erde, und die Sammlung der Wasser nannte er Meer. Und Gott sah, dass es gut war.

4. Schöpfungstag 
- (...) und den Tag und die Nacht regierten und schieden Licht und Finsternis. Und Gott sah, dass es gut war.

5. Schöpfungstag 
- Und Gott machte die Tiere des Feldes, ein jedes nach seiner Art (...) Und Gott sah, dass es gut war. 

6. Schöpfungstag 
- Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde (...) Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut.

7. Schöpfungstag 
- Und Gott segnete den siebenten Tag und heiligte ihn, weil er an ihm ruhte von allen seinen Werken, die Gott geschaffen und gemacht hatte. 

Kurz zusammengefasst. Gott sah, dass es gut war, dass es gut war, dass es gut, war, dass es sehr gut war und schließlich segnete er den siebten Tag. Alles prima, allein der zweite Tag endet mit folgender Beschreibung

2. Schöpfungstag - (...) Und Gott nannte die Feste (Wölbung) Himmel. Da ward aus Abend und Morgen der zweite Tag.

Nix mit gut oder sehr gut oder sonstigen Segnungen. Der zweite Tag steht somit ein bißchen verwaist in der Schöpfungsgeschichte. Aber neben diesen eher traurig-negativen Konnotationen hat die 2 sehr wohl auch produktive Momente zu bieten. In den gnostischen Systemen verkörpert sich die Zweiheit der Welt zwar ziemlich restriktiv in Gut (das Geistige) und Böse (das Materielle); aber schon hier deutet sich eine Spannung an, die in den propehetischen Religionen durchaus einen positiven Wert erhält. (dazu: Franz Carl Endres; Annemarie Schimmel: Das Mysterium der Zahl; München 1993(1984))

Nicht zuletzt verweist der Trintitätsgedanke schon von Anfang an darauf, dass mit der Zweiheit, mit dem Heraustreten aus dem Einen, auch der Gedanke der Synthese, der Vermittlung und der Aufhebung einhergehen kann. Das ist natürlich auf Hegel zu oder von Hegel rückwirkend formuliert, wobei Hegel der Zwei, wenn man sie denn mit dem Begriff der Wiederholung amalgiert, folgenden Gedanken anhängt:

"Durch die Wiederholung wird das, was im Anfang nur als zufällig und möglich erschien, zu einem Wirklichen und Bestätigten.“
Georg Friedrich Wilhelm Hegel: Vorlesungen über Philosophie der Geschichte, Frankfurt a.M. 1973 (Werke 12), S. 380

Mit diesem Satz im Gepäck könnte man auch sagen, dass die Wiederholung, die zeugende Wiederholung wichtiger als das Ereignis ist, das Ereignis in gewisser Weise durch seine wiederholende Bezeugung (man holt etwas wieder), überhaupt erst erschaffen wird. 

Andererseits kann man den Gedanken auch nochmals vertiefend wiederholen, der oder was besagt: je öfter sich etwas wiederholt, umso stabiler und unumstößlicher wird es in unserer Welt verankert werden. Wenn die Sonne den zweiten Tag aufgeht, mag das mehr als ein Zufall sein. Sieht man sie ein Leben lang am Himmel immer wieder am Horizont erscheinen, wird es zu einer unumstößlichen Wirklichkeit. Diese wiederholungstheoretische Prämisse hat auch eine politische Dimension. So haben Ernesto Laclau und Chantal Mouffe gezeigt, dass der Gramscianische Hegemoniebegriff auf die Durchsetzungs- und Beharrungsstärke einmal etablierter Begriffe und Diskurse setzt, die nicht nur durch jeden Gebrauch mit neuer Strahlkraft angereichert werden, sondern zugleich auch den Möglichkeitsraum verengen, also bestimmte Dinge undenkbar machen oder sanktionieren (dazu: Ernesto Laclau; Chantal Mouffe: Hegemonie und radikale Demokratie: zur Dekonstruktion des Marxismus; Wien 1991 (1985))

An dieser Stelle sehen wir eine doppelte Funktionslogik der Wiederholung, die jedoch nicht auf eine binäre Logik heruntergrochen werden kann. Zum einen lässt die Wiederholung das Ereignis erscheinen und Wirklichkeit werden, insofern es das Ereignis bezeugt, es in einen Bedeutungsraum hineinträgt, der durch das Ereignis verändert wird, aber doch nur verständlich bleibt, sofern er Verbindungen und Spuren zu schon bestehenden Bedeutungskontexten unterhält. Ein vollkommener Bruch wäre nicht wahrnehmbar (wir alle ahnen oder kennen vielleicht einige Ränder - aber eben nur die Ränder - solcher "Ereignis-Brüche", wie zum Beispiel eine schwere Verletzung, die die Integrität des Körpers in Frage stellt und traumatisch wirken kann. Und niemand, der nicht selbst erkrankt ist, kann ermessen, was es bedeutet, wenn eine schwere, vielleicht unheilbare Krankheit diagnostiziert wird. Dies berührt unsere Identität auf unabsehbarer Weise. Ein weiterer interessanter Aspekt ist die Frage, ob der Tod nicht das Paradebeispiel eines solch radikalen Bruchs ist und/oder ob der Glaube diese Bruchlinie verschieben kann). Oder anders gesagt: ein Ereignis ist immer ein nachträgliches, denn es gibt die Präsenz des Ereignisses als unvermitteltes Ereignis nicht. 

Auf der anderen Seite ist aber ebenso klar, dass es keine perfekte Wiederholung gibt und geben kann. Wenn die Wiederholung im Namen der Beharrung und der Stabilität agiert, so kann sie dieses Versprechen, wenn es denn ein Versprechen ist, nur damit geben, dass sie den wiederholten Ausschluss - den Ausschluss anderer Möglichkeiten, anderer Anknüpfungspunkte, anderer Bedeutungen - verdrängt. Eine absolut reine Wiederholung wäre als solche nicht erfahrbar, wäre zeitlos, sozusagen tote Zeit, die Tötung der Zeit, ein Aussetzen, ein nunc stans (auch hier könnte man fragen, ob die Wissenschaft nicht deshalb so erfolgreich ist, weil sie den Spezialfall einer "fast" reinen Wiederholung kultiviert, die auf Kosten der Bedeutung eine Reproduzierbarkeit und Universalität beansprucht).

Wenn es kein reines Ereignis und keine reine Wiederholung gibt, so bilden diese beiden Punkte den unerreichbaren Horizont jeder Wiederholung, ihre absolute Verheißung und ihren absoluten Tod. Die Wiederholung ist ein fortwährender Pendelschlag, der sich mal mehr zu der einen, dann wieder zu der anderen Seite neigt, niemals mit sich selbst identisch, niemals ganz anders. Selbst im in dem ganz neuen Anfang, in dem sich das ganz Andere ereignet, findet eine symbolische Wiederholung statt, die eine Anknüpfung an das schon Gewesene und immer schon Geteilte verlangt. Und selbst in der stumpfsinnigsten Wiederholung, in der scheinbar alles beim Alten bleibt, sorgt ein neuer Kontext dafür, dass andere Möglichkeiten sich zeigen, dass andere Möglichkeiten verdrängt oder unterdrückt werden müssen, auch wenn dies nur auf einer subkutanen Ebene geschehen mag.

Kurzum, keine Wiederholung ohne Verschiebung: selbst in der geringfügigsten Wiederholung kann sich etwas Großes ereignen, sind neue Verbindungen zu finden, können sich tektonische Verschiebungen anbahnen; und selbst – oder gerade - die beste Tradition ist kein starres Verharren, sondern ein fortgesetzter An- und Umbau.

Um auf den Anfang zurückzukommen, auf die 2 und ihre Verbindung zur Wiederholung: Gerade weil die 2 keine Ursprungszahl ist, also nicht die Verheißung des vergangenen oder zukünftigen Einen verkörpert und ebenso wenig eine Versöhnungszahl ist, die eine schnelle Synthese verspricht, ist sie als Zahl des Konflikts und der sich verschiebenden Wiederholung doch eine, mit der sich etwas ereignet und fortschreibt.

30. November 2019

Intermezzo: die Moral zweier pseudo-politischer Aussagen

Nicht scheint vertrauter als das Politische, denn überall werden wir mit politischen Fragen konfrontiert. Und die Welt sorgt zuverlässig dafür, dass der Stoff, aus dem unsere politischen Angelegenheiten bestehen, nicht auszugehen droht. Hochpolitische Zeiten also. Dennoch: zuweilen verschwindet das Politische, wie bei einem gut geübten Taschenspielertrick, einfach zwischendrin. Oftmals wird dieser Trick gar nicht bemerkt, erstaunlicher Weise auch von jenen Personen, die ihn in aller Öffentlichkeit aufführen. Hier zwei Beispiele, die deshalb so schlagend sind, weil sei aus entgegen gesetzten politischen Spektren stammen. Zunächst der Bundesvorsitzende der Freien Demokratischen Partei (FDP), Christan Lindner, der mit Blick auf die "Fridays for Future"-Bewegung am 10. März 2019 twitterte:

 "Ich finde politisches Engagement von Schülerinnen und Schülern toll. Von Kindern und Jugendlichen kann man aber nicht erwarten, dass sie bereits alle globalen Zusammenhänge, das technisch Sinnvolle und das ökonomisch Machbare sehen. Das ist eine Sache für Profis."

 Dafür hat Herr Lindner sehr viel Kritik einstecken müssen, obwohl die Motivation für diesen Tweet meines Erachtens durchaus einen politischen Kern hat, da er auf die moralische Überformung politischer Angelegenheiten reagiert. Statt aber darauf zu verweisen, dass politische Fragen nicht durch hyper-moralische Standpunkte gelöst und adressiert werden können, wählt Lindner den anderen a-politischen Fluchtweg und verweist auf die Kraft der Funktionslogik. Denn wo etwas mit Wissen angegangen werden kann, da braucht niemand mehr irgendetwas zu entscheiden, sondern kann sich auf die Wahrheit der Experten verlassen. In gleicher Weise spricht Lindner auch die jüngere Generation auf seiner Website mit folgenden Slogan an: "Wir bewerben uns nicht als Eure Erziehungsberechtigten, sondern als Eure Problemlöser". Verlangen politische Fragen und andere identitätsaffizierende Angelegenheiten lediglich nach einem Problemlösungsauftrag und einem entsprechenden Experten?

 Nun ist es einfach, sich über jene Leute lustig zu machen, die scheinbar eine Gebrauchsanleitung für unser gemeinsames Leben gefunden haben, wenn nicht auf der "anderen" Seite, also auf jener, die meint, dass politische Angelegenheiten sich mit einer einwandfreien (zumeist linken) Moral (und guten Willen) prima lösen lassen, dieselbe Funktionslogik im Schatten einer zuweilen unzuverlässigen Mehrheitsmeinung in Anschlag gebracht wird.

 Die deutsche Kapitänin Carola Rackete, eine ausgewiesene Seenotretterin von Mittelmeer-Migranten, also zweifelsohne im obersten Regal des derzeitigen Angebots an moralischen Zurüstungen zu finden, sagte in einem Interview-Fragebogen der ZEIT vom 3. September 2019 auf die Frage, ob es richtig sei, politische Entscheidungen zu treffen, auch wenn man weiß, dass die Mehrheit der Bürger dagegen ist:

 "Nur, wenn die Bürger nicht über das nötige Wissen verfügen. Im Idealfall werden die politischen Entscheidungen ja von Menschen getroffen, die sich in ihrem Gebiet auskennen oder zumindest beraten lassen."

 Vermutlich ist Frau Rackete viel bürgerlicher als sie denkt und Herr Lindner viel unpolitischer als er ahnt.

31. Oktober 2019

Der Sprung in die Weltverhältnisse - Teil III

Wenn „Entfremdung“ den Punkt markiert, der besagt, dass ich nicht das lebe, was ich eigentlich bin, „Entfremdung“ in diesem Sinne also auf eine Substanz oder einen Kern des Ichs verweist, auf mein wirkliches Ich-Sein, so könnte man doch fragen, ob es nicht einen Entfremdungsbegriff geben könnte, der nicht auf eine „präkonstituierten Kern“ rekurriert. Vielleicht würde man zuvor fragen, was so falsch an der Vorstellung einer Ich-Subtanz ist, die mein eigentliches Ich ausmacht? Empirisch gesehen, scheint es, zumindest bei der überwältigenden Mehrheit der Menschen, nicht so zu sein, als dass man diese Ich-Substanz einfach finden könnte. Oder, was das Problem nur verschiebt: einige behaupten, sie hätten sich – ihr Ich – gefunden, schaffen es aber nicht, dieses Ich der Welt (und sich) zu zeigen und es in die Welt zu bringen.

Aber vielleicht kann man andersherum fragen: wo bin Ich, wenn ich denke? Wo ist mein Ich, wenn ich zum Beispiel versuche zu meditieren und Abstand zu nehmen von Gedanken, die nicht nur vorbei ziehen, sondern mich besetzen (bin ich das?). In diesem Kontext scheint das (mein) Ich immer von (meinen?) Gedanken in Haft genommen, überflutet zu werden. Das Ziel der Meditation ist demnach auch nicht, das „Ich“ mit einem bestimmten Inhalt zu „versorgen“, sondern zu entleeren. Dem „Ich“ scheint es durchaus gut zu tun, wenn „Ich“ mal nicht von (meinen?) Gedanken durchsetzt bin. Sind wir hier also auf einen „Kern“ gestoßen und wenn ja, was soll dieser Kern sein.

Auch wenn man den Sinn solcher Meditationstechniken nicht bestreiten mag, wird der ein oder andere auf das „reflexives Ich“, als die eigentliche Instanz unseres Ich-Seins hinweisen. Nicht die vorbeiflanierenden und sich einnistenden Gedanken sollen demnach unser Ich ausmachen, sondern der korrigierende Bezug auf unser Denken, der Eingriff in den „Denkstrom“. Aber auch hier könnte man zurückfragen, ob dieser „Eingriff“ (wann und warum?), nicht genau so unkontrolliert strömend dahin läuft, wie die zu reflektierenden Gedanken selbst. Koppelt man die reflexive „Ichleistung“ an das „Wollen“, wird die Sache lediglich verschoben (das „Ich“ eine Funtkion unseres Wollens; das Wollen eine Funktion des Ichs, aber welchen „Ichs“?). Und schließlich kann man in unendlicher Regression danach fragen, welches „Ich“ den reflexiven Gedanken wiederum reflektiert usw.

Aber, um noch eine weitere Schraubendrehung hinzuzufügen: was wäre, wenn nicht die Reflexion, sondern der Impuls zur Reflektion die eigentliche Leistung des „Ichs“ ausmachen würde. Nun gut, aber würde diese Leistung nicht quasi im Rücken des „Ichs“ nach undurchsichtigen Regeln ablaufen. Was wäre die Reflexion, als souveränes Nachdenken über das eigene Denken, noch wert? Und verhält es sich nicht ganz oftmals so, dass wir ein ziemlich klares Wissen über einige unserer intimsten Ich-Dinge besitzen (vielleicht auch als ein Resultat der Reflexion), ohne dass wir, also unser Ich, daraus abgeleitet vernünftigen Handlungen in Gang setzen können (ungesund essen, zuviel Alkohol trinken, rauchen, zu wenig Bewegung usw.).

Eine ähnliche Frage beschäftigte schon Sigmund Freud, als er ausgehend von der Prämisse, dass Menschen nach dem Lustprinzip handeln, und dieses Prinzip lediglich aus Gründen der Abwägung und mit Rücksicht auf die Realität aufschieben können und wollen, mit dem Phänomen konfrontiert wurde, dass Menschen freiwillig offenbar Unlust bereitende Dinge wiederholen, ohne dass ein von Außen gesetzter Zwang (moralischer, monetärer etc. Art), ohne dass also die Gravitation der Realität eine erkennbare Rolle dabei spielen würde.

Bekanntlich ist es für Freud – auch jenseits des Lustprinzips - so, dass das Unbewusste den Kern unseres Wesens ausmacht. Unser Ich, zumindest die Teile die maßgeblich für unser Sein verantwortlich sind, sind nicht direkt zugänglich. Die Träume, die Fehlleistungen, die Witze sagen mehr über unser eigenstes Ich und unser Sein aus, als wir zugeben wollen und können. Bekanntlich sah Freud darin die dritte der drei großen narzisstischen Kränkungen der Menschheit. Neben der kosmologischen Kränkung (Erde nicht Mittelpunkt des Weltalls – Kopernikus) und der biologischen Kränkung (Mensch ist Produkt der Evolution - Darwin), tritt nun die dritte große Kränkung hinzu, die laut Freud besagt, dass das der Mensch nicht Herr im eigenen Haus sei. Kurzum, in den wichtigen Dingen des Lebens ist es das Unbewusste, was unser Ich strukturiert: Was uns ausmacht, uns singulär macht, welche Ideale wir anstreben, was uns krank macht, ist oftmals nicht unter unserer Kontrolle, sondern wird durch das Unbewußte strukturiert.

Was zunächst wie eine Entmachtung des mit vielen Hoffnungen verbundenen aufklärerischen, souveränen Subjekts aussieht (was es ist), hat aber auch einen eröffnenden Aspekt, der deutlicher wird, wenn man sich zunächst einmal die eine gängige Trivial- und Minimalversion der Freudschen Theorie vor Augen führt. Demnach ist es der Druck des Sozialen, der die Triebe kanalisiert und unterdrückt, so dass es zur Verdrängung oder Sublimierung kommt. Die Frage stellt sich, ob das Ich an die Welt oder die Welt an das Ich angepasst werden soll (Die Idee der „Ichstärkung“ der Individualpsychologie lässt sich hier unschwer wieder finden). Aber damit wäre man wieder bei einem substantialistischen und sehr einfachen Model des menschlichen Ichs, bei dem die Gesellschaft gegen die individuellen Triebe und unser kolonisiertes Ich mit seinen Trieben gegen die Versagung bzw für die Sublimierung kämpft.

Aber nicht erst seit der Fort- und Umschreibung der Freudschen Analyse durch den französischen Psychoanalytiker Jacques Lacan dürfte erahnbar sein, dass die Freudsche Psychoanalyse komplexer und das Unbewusste vertrackter ist, als eben skizziert. Um hier die allerschnellste Abkürzung zu nehmen: zwischen Ich und der Welt (besser: den Dingen, der Realität) vermittelt immer schon ein Drittes - nennen wir es in Anlehnung an Lacan das Symbolische -, das insofern nicht ein Hinzukommendes ist, als dass es das Ich und die Welt überhaupt erst erscheinen lässt (oder immer schon erschienen lassen hat).

In der Lacanschen Version der Subjektwerdung verkennt das Ich dummer Weise gleich zum Zeitpunkt seines Erscheinens, dass sein „Ich“ nicht etwas Vorgängiges ist, sondern sich nur in Abhängigkeit von etwas hat bilden können. Dieses „Versehen“ wird das „Ich“ im weiteren Verlauf seines Lebens kultivieren, was auch insofern folgerichtig ist, als dass eine stabiles Ich und eine stabile Realität notwendig sind, um zu (über)leben (zumindest erweist es sich weitgehend als Vorteil). Wenn es ein verkennendes und, um es vorwegzunehmen, ein verdrängendes, verwerfendes und ein verleugnendes Ich gibt, muss es dann nicht jenseits davon noch ein „wahres Ich“ geben? Und was hat das alles mit dem Unbewussten, der Resonanz und der Freiheit zu tun?

29. September 2019

Der Sprung in die Weltverhältnisse - Teil II

Hartmut Rosa hat 2018 mit seinem Buch "Resonanz: Ein Soziologie der Weltbeziehung" einen kleinen Hit gelandet, insofern man bei soziologischen und/oder akademischen Büchern von so etwas wie Populartät wirklich sprechen kann. Zumindest wurde es weit über den engeren Fachdiskurs hinaus rezipiert und diskutiert, obwohl die "Elemente" von Rosas Resonanztheorie keineswegs neu anmuten. Gleichwohl ist der Begriff "Resonanz" als Dreh- und Angelpunkt dieser Theorie gut und griffig gewählt und führt relativ schnell ins Zentrum der Auseinandersetzung. Dies ist auch insofern spürbar, als dass dieser Begriff als Absetz- und Antwortfolie auf die derzeitigen Krisen ins Spiel gebracht wird. Denn es handelt sich weniger um eine verobjektivierende und überzeitliche Soziologie-Studie, sondern um eine Arbeit, die sich explizit mit dem Schauplatz unserer derzeitigen Krisenerfahrungen auseinandersetzt. In einem kürzlich erschienenen ZEIT-Artikel von Rosa spricht er von einer kulturübergreifenden Ratlosigkeit: "Die Überzeugung, dass es nicht mehr lange gut gehen wird, teilen Soziologinnen mit Ökologen, Bankern, Journalistinnen, Bürgerinnen und Bürgern aller Couleur." (Hartmut Rosa: "Ohnmacht. Was muss sich ändern?", Die ZEIT, 11. Juli 2019, Nr. 29) 

Das andere Moment der Rosaschen Theorie-Attraktivität mag darin begründet sein, dass die zweifelsohne tiefgreifende (und allenthalben spürbare) Krisenerfahrung ihn weder zu einem resignativen Zynismus, zu einem apokalyptischen Alarmismus oder zu einem moralischen Rigorismus führt, sondern mit Hilfe der Resonanz zu einem Ausblick auf ein besseres Leben, zu besseren Daseinsformen und dies jenseits der gängigen Fortschrittsversprechen.

Rosa verlässt mit seiner Theorie ein Stück weit die gängigen Begründungs- und Sicherungsdiskurse, um auf dem offeneren Feld der Resonanz nach neuen Möglichkeiten Ausschau zu halten. Andererseits verortet er sich und seine Theorie durchaus in der Tradition der kritischen Theorie, was dazu führt, dass er und seine Theorie als links einzusortieren sind. Vielleicht ist dies der Preis dafür, dass in den theoretischen (Soziologie-, Politik- und Philosophie-) Diskurswelten der Bundesrepublik, die weiterhin von den Habermasianischen Diskurswächtern verwaltet werden, ein solches Denken wohlwollend wahrgenommen und toleriert wird. Lässt man diese mehr innertheoretischen "Politik-Aspekte“ mal außer acht, bricht sich Rosas Theorie jedoch an jenen Stellen, in denen er die Öffnungsmomente wiederum an "kritische" Sicherungs- und Begründungszusammenhänge ankoppeln möchte, was sich weiterhin auch daran zeigt, dass er umgekehrt für seine Theorie wichtige und fruchtbare denkerische Referenzfelder nur marginal miteinbezieht. Im folgenden soll es also in gebotener Kürze einerseits um die Stärken der "Resonanztheorie" gehen und andererseits um jene Momente, in denen sie hinter ihren eigenen Ansprüchen und Möglichkeiten zurückbleibt und jene Entwicklung fortschreibt, die sie doch in Frage stellen möchte. 

Wenn Rosa davon spricht, dass Weltverhältnisse fast überall im menschlichen Leben vorzufinden sind (Hartmut Rosa: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung; Berlin 2019 (2016), S. 281), könnte man dies auch wie folgt übersetzen: fast alles ist symbolisch vermittelt. Selbst das in Beziehung treten von Subjekt und Welt, und darüber hinaus auch das in Beziehung treten von Körper und Psyche, benötigt nicht nur einen Resonanzraum (einen symbolischen Raum), sondern ist ein „Effekt“ der Resonanz und des Resonanzraum, dergestalt dass Subjekt und Welt überhaupt erst dadurch Form und Gestalt annehmen können (ebd., S. 285). Oder wiederum anders formuliert: vor dem Subjekt und dem Objekt ist schon die Resonanz oder das Symbolische (ohne dass man daraus einen Ursprung machen könnte). Diese „Grundlegung“ ist insofern entscheidend, als dass nun eine Beziehungsdimension für unser Sein entscheidend ist und dies vor jedweder „inhaltlicher“ Ausgestaltung „unseres Selbst“ oder „unserer Welt“. 

Schon an dieser Stelle taucht die Frage auf, ob dies nicht insofern trivial ist, als dass dann eben alles in „Beziehung“ steht, selbst wenn es sich um misslingende, zum Beispiel gewaltsame Momente handeln sollte. Doch Rosa verweist (zumindest implizit) darauf, dass die „Beziehung“ und unser „Weltverhältnis“ partiell von Resonanz durchwoben sein muss, um initialisiert und weiter getragen zu werden. Resonanz ist für ihn eine besondere, qualitativ ausgezeichnete Beziehungsausprägung, die sich „Vereinseitigungen“ entzieht, da sie weder rein passiv oder aktiv ist, sich sowohl berührend als auch berührt werdend zeigt, hörend und antwortend ist, die eigene Stimme offenbart ohne sich auf das Eigene reduzieren zu lassen. Insofern sind Resonanzverhältnisse geprägt durch ein rhythmisches Aufeinandereinschwingen (ebd., S. 55), wobei beide Seiten durch das Verhältnis nicht nur tangiert, sondern immer auch transformiert werden. 

Anschaulich wird das Resonanzverhältnis gerade in Abgrenzung zu seinen „Deformationen“, so wenn Rosa davon spricht, dass das moderne Weltverhältnis geprägt ist durch umfassende Verfügungs- und Beherrschungsimpulse. Das Streben nach Emanzipation, Selbstbestimmung, (individueller) Autonomie und (kollektiver) Souveränität stürzt sich umfassend auf die uns begegnenden Seinsformen. Alles soll verfügbar gemacht, alles unter Kontrolle gebracht werden. Unsere Welt, die Selbst-, die Ding- und die Sozialverhältnisse sind davon tief betroffen, so Rosa weiter (ebd., S. 306). Ob dieser Kontroll-, Zurichtungs- und Steigerungslogik verstummt die Welt immer mehr. Obwohl und weil diese Gegenüberstellung sehr suggestiv wirkt, will Rosa die Resonanzerfahrung aber nicht als permanenten Zustand oder als endgültig erreichbares Ziell verstanden wissen. Zum einen ergibt sich dies aus der Prämisse, dass Resonanzerfahrung nicht im Kontrollbereich eines sich autonom entfaltenden Subjekts liegt und liegen kann. Jede Resonanzerfahrung ist im eigentlichen Sinne immer auch eine Begegnung und damit der Verfügbarkeit und Kalkulation entzogen (ebd., S. 295, S. 319), was übrigens auch für ihre zeitliche Dauer gelten soll, ist die Erfahrung doch nur momenthaft „anwesend“ (ebd., S. 322).

Im Gegenteil wäre eine Welt und ein Weltverhältnis ohne Fremdes, Verstörendes und Störungen in seiner Verfügbarkeit geradezu totalitär, schreibt er (ebd., S. 59). Resonanz bedarf konstitutiv ihres Anderen. Für letzteres zitiert Rosa den Begriff der „Entfremdung“ herbei, nicht ohne eindrücklich darauf hinzuweisen, dass damit kein substantialistisches Konzept verbunden ist, das auf Kategorien wie Natur, Identität, Authentizität, Autonomie, Anerkennung oder Sinn rekurriert. Entfremdung, als das Andere der Resonanz, als spezifischer Modus der Weltbeziehung, als beziehungslose Beziehung, lässt die Welt in all ihren Ausprägungen für das Subjekt gleichgültig, ja feindlich werden (ebd., S. 305). Dennoch sollen sich Resonanz und Entfremdung in einem dialektischen, nicht oppositionellen Verhältnis befinden, so dass das „Nichtversöhnte und der Schmerz des Entfremdeten“ die Wurzel der Resonanz darstellt. 

Dennoch bleibt der Begriff der Entfremdung trotz aller antisubstantiellen Distanznahmen von Rosa ein sehr problematischer. Wie soll ich mich von etwas entfremden, das in seiner unverfügbaren Möglichkeit nicht Teil von mir ist, auch wenn es mir zukommen kann? Dahinter versteckt sich die Frage, ob der Begriff der Entfremdung nicht doch eine Linie zieht, die der Resonanzerfahrung und den Resonanzräumen nicht entspricht. Natürlich wird es Situationen, Konstellationen und Strukturen geben, die der Resonanzerfahrung mehr oder minder zuträglich sind. Aber es ist die ereignishafte und zuweilen unwahrscheinliche Möglichkeit der Resonanzerfahrung selbst, die hier zählt, weil diese Erfahrung Transformationen einleiten kann, weil sie ein anderes Leben eröffnen kann, müsste man Rosa an dieser Stelle entgegenhalten. Es gibt dazu nicht noch eine vorgelagerte Struktur, an der objektiv bemessen werden kann, wann und wie wir zu einer Resonanzerfahrung fähig sind. Die Resonanzerfahrung trägt die Welt, auch wenn sie nicht immer aktualisiert wird; sie ist der unverfügbare Grund der Welt, könnte man etwas pathetisch hinzufügen. Ich insistiere an dieser Stelle deshalb, weil Rosa meines Erachtens seine Theorie von seinen Ausgangsprämissen auf metaphysisches, da scheinbar sicheres Gelände zurückbaut. 

Entfremdung markiert – wie auch immer – den Punkt, der sagt, dass ich nicht das lebe, was ich eigentlich bin. Ganz anders verhält es sich jedoch mit dem antimetaphysischen Begriff der Freiheit - im Sinne von Hannah Arendt - der besagt, dass ich etwas werden kann, was ich (noch) nicht bin (Mit Arendt müsste man auch sagen: dass wir etwas werden können, war wir nicht sind). Es kommt nicht von ungefähr, dass im Register des Resonanz-Buches über 50 Einträge zum Begriff Entfremdung zu finden sind, aber kein einziger zum Begriff der Freiheit. 

Aber wie macht sich das Fehlen eines genuinen Freiheitsbegriffs in der Resonanztheorie überhaupt bemerkbar? 

31. August 2019

Der Sprung in die Weltverhältnisse - Teil I

Das schöne am Geborensein ist, dass wir auf die Welt kommen und die Welt schon eingerichtet ist. Den Rest unserer Lebenszeit verbringen wir dann damit, unsere Welt wohnlicher zu gestalten. In diesem Sinne ist ein Weltverhältniss immer schon da. Wir sind in dieses Verhältnis von Anfang an eingelassen. Und dieses Verhältnis bietet mannigfache Veränderungsmöglichkeiten, da wir Dinge anders und neu machen können, uns selbst eingeschlossen.

Die Frage, was aber ein Weltverhältnis genau ist, lässt sich nicht einfach beantworten. Vermuten könnte man beispielsweise, dass es das Verhältnis ist, was ein Mensch zu einem Außen (Menschen, Tiere, Pflanzen, Dinge) etabliert. Damit wäre der Mensch der exklusive Schöpfer dieses Verhältnisses, was aber angesichts unserer offensichtlichen Kulturgeprägtheit kaum zutreffend sein kann. Umgekehrt könnte man ebenso versuchsweise annehmen, dass das Weltverhältnis von unserer Umwelt und unserer Lebenswelt seinen Ausgang nimmt und uns umfassend formt. Aber die Vorstellung, dass das Außen uns vollständig determiniert, dürften die meisten zu Recht für sehr abwegig halten.

Offensichtlich ist, dass Subjekt und Objekt, um hier auf abstraktere Begriffe zurückzugreifen, sich bei dieser Denkungsart gegenseitig bedingen und durchdringen. Während ein schöpferisches Subjekt in einem kreativen Akt der Welt etwas Neues hinzufügen kann, ist das gleiche Subjekt, welches sich als Konsument dem Konsumrausch hingibt, eher fremdgesteuert. Und nebenbei: nicht selten produzieren jene Menschen, die mit Vehemenz auf die Kreativität ihres Dasein pochen, altbekannten Kitsch, während Menschen in eng begrenzten und determinierten Handlungsräumen zuweilen erstaunliche Kreativitätsleistungen vollbringen, mögen diese auch in den seltensten Fällen einen Werkcharakter annehmen.

Was also ist ein Weltverhältnis? Die Gesamtheit der Prozesse, in denen sich Subjekt und Objekt ineinander verschränken, sich an- und abreichern? Gibt es also so viele Weltverhältnisse wie Erdenbürger? Aber offenbar ist ein Weltverhältnis keine rein individuelle Angelegenheit, sondern verweist auf die Welt als einen gemeinsam geteilten und gemeinsam bewohnten Ort. In diesem Sinne gibt es kein universelles und überzeitliches Weltverhältnis. Vielmehr müssen wir davon ausgehen, dass sich räumlich und zeitlich unterschiedliche Weltverhältnisse herausbilden können, die weder individuell beschränkt noch universell ausdehnbar sind. Hier taucht am Horizont ein anderer Grundgedanke auf, der von einigen Denkrichtungen des 20. Jahrhunderts auf die eine oder andere Art ausgearbeitet wurde. Wenn das Weltverhältnis, als ein Verhältnis, in das etwas eingeschrieben werden kann und das umgekehrt immer auch etwas ins uns einschreibt, grundlegend für unser Sein ist, dann ... Was dann?

Wir sind so sehr daran gewöhnt "unser" (westliches) Weltverhältnis als rational zugängliches Bezugssystem zu sehen, auf dass wir vollen Zugriff haben können, wenn vielleicht auch nur potentiell und zukünftig, dass es äußerst schwierig ist, das Weltverhältnis selbst als eine Art von Gabe zu sehen, als etwas, das wir weder souverän geschaffen haben, noch als etwas, dem wir blind unterworfen sind. Natürlich hört es sich äußerst mysteriös an, von dem Weltverhältnis als Gabe zu sprechen, so als wäre die Welt samt Verhältnis vom Himmel gefallen. Vor allem deshalb mysteriös, weil wir an die Aktivität und Souveränität unseres Denkens gewöhnt sind, also daran, alle Abhängigkeiten unseres geistigen Seins eher als Störungen zu sehen, oder als soziologisch-kulturelle Voraussetzungen, die man wiederum reflexiv einholen kann. Diese Begründungs- und Bereinigungslogik immunisiert sich gegen jedwede Form eines anderen Denkens. Letzteres wird schnell mit dem Vorwurf der Irrationalität konfrontiert. Dass aber auch der rationalste Begründungszusammenhang in etwas eingelassen ist, was ihn mitträgt und somit außerhalb seiner eigenen Begründbarkeit steht, wird zwar formal gesehen - wenn auch nicht immer - zugestanden, findet aber selten Eingang in die Denkungsart selbst.

Ich möchte kurz auf eine philosophiegeschichtlich bedeutsame Positionen hinweisen, die diese Verwicklungen gewissermaßen an ihrem „Ursprung“ spürbarer machen sollen (an dieser Stelle äußerst verkürzt, also in unzulänglicher Weise). Zum einen der Kantsche Einschnitt: Einschnitt deshalb, weil er für uns heute weiterhin bedeutsam ist, selbst wenn viele Menschen nicht im entferntesten ahnen, dass ihr Denken auf diesen Grundlagen ruht. Gemeinhin wird Kants große Leistung (oder eine seiner großen Leistungen) darin gesehen, dass er die erkenntnistheoretischen Grundlagen auf revolutionäre Weise neu gesetzt, im engeren Sinne erfunden hat. Auf die Frage, wie Erkenntnis überhaupt von statten geht, welche Bedingungen und Voraussetzungen ihr zu Grunde liegen, und was wir letztendlich überhaupt erkennen können, also welche Grenzen unserer Erkenntnis gesetzt sind, gab Kant eine geschichtlich neue Antwort. Mit Kant wurde überhaupt erst und in aller Konsequenz eine Subjekt-Objekt-Dichotomie denkbar. Damit verbunden entwickelte sich die äußerst produktive Idee, dass man den äußeren Dingen ihre Wahrheit empirisch abringen und abpressen kann und dass wir andererseits selbst der Ort sind, von dem aus die Wahrheit ihren Ausgang nimmt (also das, was Michel Foucault die „empirisch-transzendentale Dublette“ nannte). 

Dieses Denken lieferte seine eigene Legitimation mit, da von nun an andere Erkenntnisformen als defizitär, da ohne zureichenden Grund, verworfen wurden. Schließlich gab der Erfolg, d.h. die wahnsinnige Produktivität dieses Realitätszugangs den Anhängern zweifelsohne Recht. Obwohl es sich um eine neue Art und Weise handelte, die Welt zu sehen und zu bearbeiten, Wissen und Wissensdiskurse zu organisieren, mithin um ein neues Weltverständnis und -verhältnis, wird von vielen Wissenschaftlern der kantsche Einschnitt als ein Erkenntniseinschnitt, als eine Erkenntnistheorie behandelt. Das heißt, es wird auf eine (fundierte) "Erkenntnisart und -wahrheit" rekurriert, an der sich andere Denkungsarten zu orientieren haben, obwohl diese Erkenntnisart nur auf der "Folie" eines nicht eigens artikulierten Weltverhältnisses aufruht, ja dieses neue Weltverhältnis "ist". Die Schwierigkeit besteht in der nicht vollständigen Einholbarkeit des Ortes, von dem aus die Welt betrachtet und gestaltet wird. Der Ort von dem aus ich sehe (und handle), ist nicht im Blickfeld. Weiterhin heißt das auch, dass selbst ein maximal begründetes Erkenntnisfeld in seiner Wahrheit bedingt und nur partiell zugänglich ist. Das was scheinbar fehlt, ist konstitutiv für das "funktionieren" der angeschlossenen und von dort aus sich entfaltenden Wahrheiten.

Mit Kant stellte sich schließlich die Frage, wo der Ort der Wahrheit seinen Platz hat, im Innen oder im Außen, und wie sich diese Wahrheit an ihren beiden Polen jeweils vermittelt. Die Hegelsche Antwort, um noch einen Schritt weiter zu gehen, bestand aus einer Dynamisierung und Finalisierung der Weltverhältnisse. Wenn die Wahrheit nicht durch Erkenntnis zur unmittelbaren Offenbarung führen kann – und das tat sie bei Kant zweifelsohne nicht – dann konnte sich ein emphatischerer Wahrheitsanspruch, der nicht „unkritisch“ hinter Kant zurückfallen wollte, fortan nur dadurch ins Werk setzen, dass er die geschichtlichen Unzulänglichkeiten unseres Seins selbst als ein Motor der Entwicklung begriff. Begriffe wie Negativität, Aufhebung und Prozess zeugen von der Ausarbeitung dieser Idee. 

Seither ist es für uns selbstverständlich geworden in Subjekt-Objekt-Kategorien zu denken, Prozesse für den Fortgang unserer Geschichte ausfindig zu machen, Rationalitätsfolien für unser Zusammenleben zu erforschen. Natürlich können wir davon ausgehen, dass dies bedeutsame Bestandteile unseres derzeitigen Weltverhältnisses „sind“. Aber es wäre ein Irrtum zu glauben, dass man, um die gegenwärtigen großen politischen Probleme lösen zu können (89er Nachwirkungen, globale Machtverschiebungen, Internetökonomie, Geldströme, Verschuldungdilemma; ökologische Verschiebungen und Verwerfungen, Migrationsbewegungen), man entweder die in unserem derzeitigen Weltverhältnis waltende Logik radikal vertiefen oder man aus dem jetzigen Weltverhältnis aussteigen müsste und könnte, um sodann ein neues zu installieren. Während ersteres, also die Forcierung der Fortschrittsidee, zu Recht aus der Mode gekommen ist, verkennt letzteres, dass der „Zugang“ zu einem Weltverhältnis kein voluntaristisches Projekt ist, generell kein Projekt sein kann. Daher wirken die immer neuen Angänge zu gutgemeinten und hochdurchdachten Problemlösungen zumeist nicht nur utopisch hilflos, sondern nach kurzer Zeit auch langweilig.

31. Juli 2019