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Der Sprung in die Weltverhältnisse - Teil I

Das schöne am Geborensein ist, dass wir auf die Welt kommen und die Welt schon eingerichtet ist. Den Rest unserer Lebenszeit verbringen wir dann damit, unsere Welt wohnlicher zu gestalten. In diesem Sinne ist ein Weltverhältniss immer schon da. Wir sind in dieses Verhältnis von Anfang an eingelassen. Und dieses Verhältnis bietet mannigfache Veränderungsmöglichkeiten, da wir Dinge anders und neu machen können, uns selbst eingeschlossen.

Die Frage, was aber ein Weltverhältnis genau ist, lässt sich nicht einfach beantworten. Vermuten könnte man beispielsweise, dass es das Verhältnis ist, was ein Mensch zu einem Außen (Menschen, Tiere, Pflanzen, Dinge) etabliert. Damit wäre der Mensch der exklusive Schöpfer dieses Verhältnisses, was aber angesichts unserer offensichtlichen Kulturgeprägtheit kaum zutreffend sein kann. Umgekehrt könnte man ebenso versuchsweise annehmen, dass das Weltverhältnis von unserer Umwelt und unserer Lebenswelt seinen Ausgang nimmt und uns umfassend formt. Aber die Vorstellung, dass das Außen uns vollständig determiniert, dürften die meisten zu Recht für sehr abwegig halten.

Offensichtlich ist, dass Subjekt und Objekt, um hier auf abstraktere Begriffe zurückzugreifen, sich bei dieser Denkungsart gegenseitig bedingen und durchdringen. Während ein schöpferisches Subjekt in einem kreativen Akt der Welt etwas Neues hinzufügen kann, ist das gleiche Subjekt, welches sich als Konsument dem Konsumrausch hingibt, eher fremdgesteuert. Und nebenbei: nicht selten produzieren jene Menschen, die mit Vehemenz auf die Kreativität ihres Dasein pochen, altbekannten Kitsch, während Menschen in eng begrenzten und determinierten Handlungsräumen zuweilen erstaunliche Kreativitätsleistungen vollbringen, mögen diese auch in den seltensten Fällen einen Werkcharakter annehmen.

Was also ist ein Weltverhältnis? Die Gesamtheit der Prozesse, in denen sich Subjekt und Objekt ineinander verschränken, sich an- und abreichern? Gibt es also so viele Weltverhältnisse wie Erdenbürger? Aber offenbar ist ein Weltverhältnis keine rein individuelle Angelegenheit, sondern verweist auf die Welt als einen gemeinsam geteilten und gemeinsam bewohnten Ort. In diesem Sinne gibt es kein universelles und überzeitliches Weltverhältnis. Vielmehr müssen wir davon ausgehen, dass sich räumlich und zeitlich unterschiedliche Weltverhältnisse herausbilden können, die weder individuell beschränkt noch universell ausdehnbar sind. Hier taucht am Horizont ein anderer Grundgedanke auf, der von einigen Denkrichtungen des 20. Jahrhunderts auf die eine oder andere Art ausgearbeitet wurde. Wenn das Weltverhältnis, als ein Verhältnis, in das etwas eingeschrieben werden kann und das umgekehrt immer auch etwas ins uns einschreibt, grundlegend für unser Sein ist, dann ... Was dann?

Wir sind so sehr daran gewöhnt "unser" (westliches) Weltverhältnis als rational zugängliches Bezugssystem zu sehen, auf dass wir vollen Zugriff haben können, wenn vielleicht auch nur potentiell und zukünftig, dass es äußerst schwierig ist, das Weltverhältnis selbst als eine Art von Gabe zu sehen, als etwas, das wir weder souverän geschaffen haben, noch als etwas, dem wir blind unterworfen sind. Natürlich hört es sich äußerst mysteriös an, von dem Weltverhältnis als Gabe zu sprechen, so als wäre die Welt samt Verhältnis vom Himmel gefallen. Vor allem deshalb mysteriös, weil wir an die Aktivität und Souveränität unseres Denkens gewöhnt sind, also daran, alle Abhängigkeiten unseres geistigen Seins eher als Störungen zu sehen, oder als soziologisch-kulturelle Voraussetzungen, die man wiederum reflexiv einholen kann. Diese Begründungs- und Bereinigungslogik immunisiert sich gegen jedwede Form eines anderen Denkens. Letzteres wird schnell mit dem Vorwurf der Irrationalität konfrontiert. Dass aber auch der rationalste Begründungszusammenhang in etwas eingelassen ist, was ihn mitträgt und somit außerhalb seiner eigenen Begründbarkeit steht, wird zwar formal gesehen - wenn auch nicht immer - zugestanden, findet aber selten Eingang in die Denkungsart selbst.

Ich möchte kurz auf eine philosophiegeschichtlich bedeutsame Positionen hinweisen, die diese Verwicklungen gewissermaßen an ihrem „Ursprung“ spürbarer machen sollen (an dieser Stelle äußerst verkürzt, also in unzulänglicher Weise). Zum einen der Kantsche Einschnitt: Einschnitt deshalb, weil er für uns heute weiterhin bedeutsam ist, selbst wenn viele Menschen nicht im entferntesten ahnen, dass ihr Denken auf diesen Grundlagen ruht. Gemeinhin wird Kants große Leistung (oder eine seiner großen Leistungen) darin gesehen, dass er die erkenntnistheoretischen Grundlagen auf revolutionäre Weise neu gesetzt, im engeren Sinne erfunden hat. Auf die Frage, wie Erkenntnis überhaupt von statten geht, welche Bedingungen und Voraussetzungen ihr zu Grunde liegen, und was wir letztendlich überhaupt erkennen können, also welche Grenzen unserer Erkenntnis gesetzt sind, gab Kant eine geschichtlich neue Antwort. Mit Kant wurde überhaupt erst und in aller Konsequenz eine Subjekt-Objekt-Dichotomie denkbar. Damit verbunden entwickelte sich die äußerst produktive Idee, dass man den äußeren Dingen ihre Wahrheit empirisch abringen und abpressen kann und dass wir andererseits selbst der Ort sind, von dem aus die Wahrheit ihren Ausgang nimmt (also das, was Michel Foucault die „empirisch-transzendentale Dublette“ nannte). 

Dieses Denken lieferte seine eigene Legitimation mit, da von nun an andere Erkenntnisformen als defizitär, da ohne zureichenden Grund, verworfen wurden. Schließlich gab der Erfolg, d.h. die wahnsinnige Produktivität dieses Realitätszugangs den Anhängern zweifelsohne Recht. Obwohl es sich um eine neue Art und Weise handelte, die Welt zu sehen und zu bearbeiten, Wissen und Wissensdiskurse zu organisieren, mithin um ein neues Weltverständnis und -verhältnis, wird von vielen Wissenschaftlern der kantsche Einschnitt als ein Erkenntniseinschnitt, als eine Erkenntnistheorie behandelt. Das heißt, es wird auf eine (fundierte) "Erkenntnisart und -wahrheit" rekurriert, an der sich andere Denkungsarten zu orientieren haben, obwohl diese Erkenntnisart nur auf der "Folie" eines nicht eigens artikulierten Weltverhältnisses aufruht, ja dieses neue Weltverhältnis "ist". Die Schwierigkeit besteht in der nicht vollständigen Einholbarkeit des Ortes, von dem aus die Welt betrachtet und gestaltet wird. Der Ort von dem aus ich sehe (und handle), ist nicht im Blickfeld. Weiterhin heißt das auch, dass selbst ein maximal begründetes Erkenntnisfeld in seiner Wahrheit bedingt und nur partiell zugänglich ist. Das was scheinbar fehlt, ist konstitutiv für das "funktionieren" der angeschlossenen und von dort aus sich entfaltenden Wahrheiten.

Mit Kant stellte sich schließlich die Frage, wo der Ort der Wahrheit seinen Platz hat, im Innen oder im Außen, und wie sich diese Wahrheit an ihren beiden Polen jeweils vermittelt. Die Hegelsche Antwort, um noch einen Schritt weiter zu gehen, bestand aus einer Dynamisierung und Finalisierung der Weltverhältnisse. Wenn die Wahrheit nicht durch Erkenntnis zur unmittelbaren Offenbarung führen kann – und das tat sie bei Kant zweifelsohne nicht – dann konnte sich ein emphatischerer Wahrheitsanspruch, der nicht „unkritisch“ hinter Kant zurückfallen wollte, fortan nur dadurch ins Werk setzen, dass er die geschichtlichen Unzulänglichkeiten unseres Seins selbst als ein Motor der Entwicklung begriff. Begriffe wie Negativität, Aufhebung und Prozess zeugen von der Ausarbeitung dieser Idee. 

Seither ist es für uns selbstverständlich geworden in Subjekt-Objekt-Kategorien zu denken, Prozesse für den Fortgang unserer Geschichte ausfindig zu machen, Rationalitätsfolien für unser Zusammenleben zu erforschen. Natürlich können wir davon ausgehen, dass dies bedeutsame Bestandteile unseres derzeitigen Weltverhältnisses „sind“. Aber es wäre ein Irrtum zu glauben, dass man, um die gegenwärtigen großen politischen Probleme lösen zu können (89er Nachwirkungen, globale Machtverschiebungen, Internetökonomie, Geldströme, Verschuldungdilemma; ökologische Verschiebungen und Verwerfungen, Migrationsbewegungen), man entweder die in unserem derzeitigen Weltverhältnis waltende Logik radikal vertiefen oder man aus dem jetzigen Weltverhältnis aussteigen müsste und könnte, um sodann ein neues zu installieren. Während ersteres, also die Forcierung der Fortschrittsidee, zu Recht aus der Mode gekommen ist, verkennt letzteres, dass der „Zugang“ zu einem Weltverhältnis kein voluntaristisches Projekt ist, generell kein Projekt sein kann. Daher wirken die immer neuen Angänge zu gutgemeinten und hochdurchdachten Problemlösungen zumeist nicht nur utopisch hilflos, sondern nach kurzer Zeit auch langweilig.

31. Juli 2019