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Intermezzo 2b: Auch Gott setzt auf die 2

Wenn die 2 und ihre Verbindung zur Wiederholung als Zahl des ereignishaften Konflikts und der sich verschiebenden Fortschreibung gesehen werden kann, so zeigen sich diese Momente geradezu paradigmatisch in einer der ältesten und bekanntesten Geschichten aus dem Alten Testament, im Buch Exodus und zwar wie folgt:

Also, die Kinder Israels landen im dritten Monat nach dem Auszug aus Ägypten in der Wüste Sinai. Gott bietet, vermittelt durch Mose, dem Volk Israel einen Bund an (Exodus, 19, 5), wobei ein Bund bekanntlich aus (mindestens) zwei Parteien bestehen muss (zum Aspekt des Bundes und seiner politischen Implikationen siehe auch: Michael Walzer: Exodus und Revolution, Frankfurt/M (Fischer), 1995 (1985)). Gott verkündet, dass er am dritten Tag daher herabfahren werde (Exodus 19,11), wobei das Volk, als es denn soweit ist, aus Furcht und Angst Mose bittet, alles weitere zu regeln. Mose empfängt und übermittelt die Worte und die Rechtsvorschriften des Herrn (Exodus 24,3) und schreibt alle Worte des Herrn auf. (Exodus 24,4). Das Volk ist mit dem Bund einverstanden und Mose geht, Gott befohlen, wieder auf den Berg, um von Gott die steinernen Tafeln und Gesetze und Gebote, die ER (Gott) selbst geschrieben hat, zu empfangen (Exodus 24,12). Mose bleibt vierzig Tage oben (Exodus 24,18) und empfängt detaillierte Anweisungen zur Ausgestaltung des Bundes.

Zwischenzeitlich ist das Volk eigene Wege gegangen und hat das sprichwörtlich gewordene goldene Kalb erschaffen (Exodus 32,1-6). Gott wird darüber zornig (Exodus 32,7-10), wird aber von Mose besänftigt (Exodus 32,11-14). Mose steigt schließlich den Berg mit den zwei Tafeln, die nicht nur von Gott selbst gemacht, sondern auch auf beiden Seiten von Gott selbst beschrieben worden sind, hinunter (Exodus 32,15). Allerdings entbrennt daraufhin der Zorn Mose, als er das gotteslästerliche Malheur sieht und er zerschmettert die Tafeln am Fuß des Berges (Exodus 32,19).

Was dann geschieht ist, so Michael Walzer, die erste „revolutionäre Säuberung“ in der Geschichte (Michael Walzer: a.a.O., S. 65) (Exodus 32, 26). Die Götzenanbeter werden ohne Warnung und ohne Urteil getötet, wobei Mose im Namen Gottes dazu aufruft, erbarmungslos vorzugehen, d.h. selbst Brüder, Freunde und Nächste nicht zu schonen. Am nächsten Tag schaut Mose was er in der Kommunikation mit Gott für das um 3.000 Menschen reduzierte Volk tun kann, wobei sich Gott recht unversöhnlich zeigt. Nach einigem hin und her befiehlt Gott schließlich Mose zwei neue steinerne Tafeln zu hauen, auf die Gott nochmals die Worte der ersten Tafeln schreiben will (Exodus 34,1) „Ich werde darauf die Worte schreiben, die auf den ersten Tafeln standen, die du zerschmettert hast.“( Exodus 34,1, zitiert nach: Die Bibel, Einheitsübersetzung, Stuttgart (Katholische Bibelanstalt GmbH), 1980). Mose haut und steigt am nächsten Tag auf den Berg Sinai. Gott erneuert den Bund Exodus (34,10) und trägt Mose verschiedene Anweisungen auf. Schließlich ergeht von Gott die Anweisung: „Schreib diese Worte auf.“ (Exodus 34,27) Daraufhin bleibt Mose beim Herrn wiederum 40 Tage und Nächte: „Er schrieb die Worte des Bundes, die zehn Worte, auf Tafeln.“ (Exodus 34,28). Danach steigt Mose mit den beiden Tafeln der Bundesurkunde vom Berg und übergibt den Israeliten die Gebote (Exodus 34, 32).

Kann man diese Geschichte nicht als ein Lehrstück über die Zahl 2 und über die ‚Geheimnisse’ der Wiederholung lesen, über die „Wiederholungseffekte“ in Form von Verbindungen, Trennungen, Konflikte, Um- und Fortschreibungen, Geboten?
Schon der anfängliche Bundesgedanke ist auf zwei Entitäten angewiesen, hier„Gott“ und die „Menschen“ (ein Volk, nicht ein Individuum), die im Bund aber nicht zu etwas Drittem verschmelzen, sondern dem Anderen in seinem „So-Sein“ beistehen (heißt auch: Beibehaltung eines Freiheitsmoments; man folgt dem Bund aus freien Stücken, kann ihn aber auch brechen). Als das Volk dann schließlich mit Gott in Berührung kommen kann, also kurz vor (s)einer unmittelbaren Kontaktaufnahme, wird es den Menschen doch unheimlich, sie fürchten sich und Mose soll alles Weitere übernehmen. Letzterer fungiert, wie die Engel auch, als Vermittler einer „Wahrheit“, die in ihrer Unmittelbarkeit nicht nur unaussprechlich, sondern bedrohlich daher kommt.*

Im weiteren Verlauf der Erzählung wird viel dafür getan, diese unmittelbare und unheimliche Bedrohlichkeit durch Vermittlungsinstanzen zu entschärfen. Im Beisein des Mittlers Mose werden die Vereinbarungen, die Gesetze und Gebote, zunächst durch Gott selbst in steinerne Tafeln gefasst. Dabei ist die Schrift einerseits Abstandnahme zur Präsenz des gesprochenen Wortes und bürgt andererseits für eine größere Halt- und Tradierbarkeit als die bloß mündliche Weitergabe. Es dürfte ebenfalls kein Zufall sein, dass es sich um zwei Tafeln handelt, die zudem von beiden Seiten beschrieben wurden. Alles verdoppelt sich mit dem Ziel, zwar eine Bindung und einen Bund auf Dauer zu etablieren (obwohl beide Tafeln für das Volk bestimmt sind, haben sie doch– wie bei einem Vertrag –einen „Durchschriftcharakter“), jedoch zugleich den Interpretations- und Freiheitsspielraum zu vergrößern. Das was geschrieben steht, kann und muss interpretiert werden, damit es im täglichen Leben, in immer neuen und anderen Kontexten auch umgesetzt werden kann.

Und um die Ernsthaftigkeit des Bundes zu verdeutlichen, wird der Akt der Tafel-Übergabe ebenfalls ein zweites Mal vollzogen, weil bekannter Maßen inzwischen das Volk abtrünnig geworden ist. Die Ursprungstafeln werden durch Mose zerstört. Wie auch immer der Konflikt im Anschluss an das goldene Kalb interpretiert werden mag (als ‚pädagogischer Hinweis’ an all diejenigen, die nicht an den Bund glauben; als Aussortierung derjenigen, die mit ihrer ägyptischen Sklavenmoral die neue Freiheit des Bundes nicht leben wollen), er veranschaulicht, dass ein Neubeginn ohne Ursprung, ohne die Reinheit der unmittelbaren Übereinstimmung möglich ist, ja vielleicht sogar, dass ein Neubeginn – ein neuer Bund - notwendiger Weise konflikthafte Momente umfasst. Im Anschluss daran werden die Tafeln also nochmals gefertigt, was jedoch kein Akt der reinen Wiederholung ist, da Mose diesmal die Tafeln nicht nur anfertigen, sondern auch selbst beschreiben muss. Somit wird das Wort Gottes, Gottes Spur, zwar erhalten, diesmal aber durch eine menschliche Hand niedergeschrieben; es erscheint durch Menschenhand. Wäre es also abwegig zu behaupten, dass die Exodus-Geschichte auch eine zutiefst anti-apoklyptische Geschichte ist, da die Wahrheit weniger enthüllt, als durch immer neue Wendungen und Konflikte (in der Schrift, im Bund) verdoppelt und vermittelt wird, um sie den Interpretationen zugänglich zu machen?

Zum Schluss sei dem Ganzen mit Paul Chaim Eisenberg noch eine mehr alltagspraktische Wendung mitgegeben. Eisenberg zitiert eine Lehre des Talmud, die sich mit der Wichtigkeit der Wiederholung befasst:
„Es ist nicht dasselbe, ob man etwas hundertmal oder hundertundeinmal lernt.“
Paul Chaim Eisenberg: Das ABC vom Glück. Jüdische Weisheiten für jede Lebenslage; Wien, 2019, S. 125

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* Der Gedanke, dass die absolute Unmittelbarkeit nah an den Tod heranreicht, ist ein klassischer Topos der Kunst und Literatur. Man denke an Friedrich Schiller und „Das verschleierte Bild zu Sais“. Massimo Cacciari schreibt, dass die Myriaden himmlischer Heerscharen zeigen, dass die Wahrheit sich in Namen verhüllen muss, damit der Mensch ihr beipflichten kann (Massimo Cacciari: Der notwendige Engel, Klagenfurt 1987 (1986), S 13).

Im Grunde genommen ist die Frage der unmittelbare Wahrheit ein apokalyptisches Motiv, bedeutet Apokalypse doch: die Enthüllung des Wahren, womit die Schöpfung ihr Ende findet (Off. 21,4). Siehe dazu auch: Johannes Fried: Dies Irae. Eine Geschichte des Weltuntergangs; München, 2016; und: Jacques Derrida: Apokalypse, Wien 2009 (1983). Dazu noch zwei Gedanken: zum einen die Frage, ob und wie die Parusierverzögerung überhaupt den Spielraum für die Moderne geschaffen hat, und ob die Parusierverzögerung des Fortschritts nicht die Frage der Apokalypse wieder drängender macht. Zur Enthysteriesierung des „Es-ist-kurz-vor-Zwölf-Diskurses“ müsste man mit Derrida sagen: “Es gibt nur die Apokalypse ohne Apokalypse.” (Jacques Derrida: Apokalypse, Wien 2009 (1983), S. 74)

30. Dezember 2019