Der Sprung in die Weltverhältnisse - Teil III
Wenn „Entfremdung“ den Punkt markiert, der besagt, dass ich nicht das lebe, was ich eigentlich bin, „Entfremdung“ in diesem Sinne also auf eine Substanz oder einen Kern des Ichs verweist, auf mein wirkliches Ich-Sein, so könnte man doch fragen, ob es nicht einen Entfremdungsbegriff geben könnte, der nicht auf eine „präkonstituierten Kern“ rekurriert. Vielleicht würde man zuvor fragen, was so falsch an der Vorstellung einer Ich-Subtanz ist, die mein eigentliches Ich ausmacht? Empirisch gesehen, scheint es, zumindest bei der überwältigenden Mehrheit der Menschen, nicht so zu sein, als dass man diese Ich-Substanz einfach finden könnte. Oder, was das Problem nur verschiebt: einige behaupten, sie hätten sich – ihr Ich – gefunden, schaffen es aber nicht, dieses Ich der Welt (und sich) zu zeigen und es in die Welt zu bringen.
Aber vielleicht kann man andersherum fragen: wo bin Ich, wenn ich denke? Wo ist mein Ich, wenn ich zum Beispiel versuche zu meditieren und Abstand zu nehmen von Gedanken, die nicht nur vorbei ziehen, sondern mich besetzen (bin ich das?). In diesem Kontext scheint das (mein) Ich immer von (meinen?) Gedanken in Haft genommen, überflutet zu werden. Das Ziel der Meditation ist demnach auch nicht, das „Ich“ mit einem bestimmten Inhalt zu „versorgen“, sondern zu entleeren. Dem „Ich“ scheint es durchaus gut zu tun, wenn „Ich“ mal nicht von (meinen?) Gedanken durchsetzt bin. Sind wir hier also auf einen „Kern“ gestoßen und wenn ja, was soll dieser Kern sein.
Auch wenn man den Sinn solcher Meditationstechniken nicht bestreiten mag, wird der ein oder andere auf das „reflexives Ich“, als die eigentliche Instanz unseres Ich-Seins hinweisen. Nicht die vorbeiflanierenden und sich einnistenden Gedanken sollen demnach unser Ich ausmachen, sondern der korrigierende Bezug auf unser Denken, der Eingriff in den „Denkstrom“. Aber auch hier könnte man zurückfragen, ob dieser „Eingriff“ (wann und warum?), nicht genau so unkontrolliert strömend dahin läuft, wie die zu reflektierenden Gedanken selbst. Koppelt man die reflexive „Ichleistung“ an das „Wollen“, wird die Sache lediglich verschoben (das „Ich“ eine Funtkion unseres Wollens; das Wollen eine Funktion des Ichs, aber welchen „Ichs“?). Und schließlich kann man in unendlicher Regression danach fragen, welches „Ich“ den reflexiven Gedanken wiederum reflektiert usw.
Aber, um noch eine weitere Schraubendrehung hinzuzufügen: was wäre, wenn nicht die Reflexion, sondern der Impuls zur Reflektion die eigentliche Leistung des „Ichs“ ausmachen würde. Nun gut, aber würde diese Leistung nicht quasi im Rücken des „Ichs“ nach undurchsichtigen Regeln ablaufen. Was wäre die Reflexion, als souveränes Nachdenken über das eigene Denken, noch wert? Und verhält es sich nicht ganz oftmals so, dass wir ein ziemlich klares Wissen über einige unserer intimsten Ich-Dinge besitzen (vielleicht auch als ein Resultat der Reflexion), ohne dass wir, also unser Ich, daraus abgeleitet vernünftigen Handlungen in Gang setzen können (ungesund essen, zuviel Alkohol trinken, rauchen, zu wenig Bewegung usw.).
Eine ähnliche Frage beschäftigte schon Sigmund Freud, als er ausgehend von der Prämisse, dass Menschen nach dem Lustprinzip handeln, und dieses Prinzip lediglich aus Gründen der Abwägung und mit Rücksicht auf die Realität aufschieben können und wollen, mit dem Phänomen konfrontiert wurde, dass Menschen freiwillig offenbar Unlust bereitende Dinge wiederholen, ohne dass ein von Außen gesetzter Zwang (moralischer, monetärer etc. Art), ohne dass also die Gravitation der Realität eine erkennbare Rolle dabei spielen würde.
Bekanntlich ist es für Freud – auch jenseits des Lustprinzips - so, dass das Unbewusste den Kern unseres Wesens ausmacht. Unser Ich, zumindest die Teile die maßgeblich für unser Sein verantwortlich sind, sind nicht direkt zugänglich. Die Träume, die Fehlleistungen, die Witze sagen mehr über unser eigenstes Ich und unser Sein aus, als wir zugeben wollen und können. Bekanntlich sah Freud darin die dritte der drei großen narzisstischen Kränkungen der Menschheit. Neben der kosmologischen Kränkung (Erde nicht Mittelpunkt des Weltalls – Kopernikus) und der biologischen Kränkung (Mensch ist Produkt der Evolution - Darwin), tritt nun die dritte große Kränkung hinzu, die laut Freud besagt, dass das der Mensch nicht Herr im eigenen Haus sei. Kurzum, in den wichtigen Dingen des Lebens ist es das Unbewusste, was unser Ich strukturiert: Was uns ausmacht, uns singulär macht, welche Ideale wir anstreben, was uns krank macht, ist oftmals nicht unter unserer Kontrolle, sondern wird durch das Unbewußte strukturiert.
Was zunächst wie eine Entmachtung des mit vielen Hoffnungen verbundenen aufklärerischen, souveränen Subjekts aussieht (was es ist), hat aber auch einen eröffnenden Aspekt, der deutlicher wird, wenn man sich zunächst einmal die eine gängige Trivial- und Minimalversion der Freudschen Theorie vor Augen führt. Demnach ist es der Druck des Sozialen, der die Triebe kanalisiert und unterdrückt, so dass es zur Verdrängung oder Sublimierung kommt. Die Frage stellt sich, ob das Ich an die Welt oder die Welt an das Ich angepasst werden soll (Die Idee der „Ichstärkung“ der Individualpsychologie lässt sich hier unschwer wieder finden). Aber damit wäre man wieder bei einem substantialistischen und sehr einfachen Model des menschlichen Ichs, bei dem die Gesellschaft gegen die individuellen Triebe und unser kolonisiertes Ich mit seinen Trieben gegen die Versagung bzw für die Sublimierung kämpft.
Aber nicht erst seit der Fort- und Umschreibung der Freudschen Analyse durch den französischen Psychoanalytiker Jacques Lacan dürfte erahnbar sein, dass die Freudsche Psychoanalyse komplexer und das Unbewusste vertrackter ist, als eben skizziert. Um hier die allerschnellste Abkürzung zu nehmen: zwischen Ich und der Welt (besser: den Dingen, der Realität) vermittelt immer schon ein Drittes - nennen wir es in Anlehnung an Lacan das Symbolische -, das insofern nicht ein Hinzukommendes ist, als dass es das Ich und die Welt überhaupt erst erscheinen lässt (oder immer schon erschienen lassen hat).
In der Lacanschen Version der Subjektwerdung verkennt das Ich dummer Weise gleich zum Zeitpunkt seines Erscheinens, dass sein „Ich“ nicht etwas Vorgängiges ist, sondern sich nur in Abhängigkeit von etwas hat bilden können. Dieses „Versehen“ wird das „Ich“ im weiteren Verlauf seines Lebens kultivieren, was auch insofern folgerichtig ist, als dass eine stabiles Ich und eine stabile Realität notwendig sind, um zu (über)leben (zumindest erweist es sich weitgehend als Vorteil). Wenn es ein verkennendes und, um es vorwegzunehmen, ein verdrängendes, verwerfendes und ein verleugnendes Ich gibt, muss es dann nicht jenseits davon noch ein „wahres Ich“ geben? Und was hat das alles mit dem Unbewussten, der Resonanz und der Freiheit zu tun?
29. September 2019