Das Unbewußte ans Kreuz nageln
In einem Gesprächskreis wird über die geistige Situation zu Beginn des 20. Jahrhunderts diskutiert, u.a. über das 'Heilige' von Rudolf Otto, über das 'Sein' von Martin Heidegger und über das 'Unbewußte' von Sigmund Freud. Denkweisen, die ein Mißtrauen gegenüber einer allesverschlingenden Rationalität und einer alles beanspruchenden Vernunft artikulieren. Der Jurist in der Runde ist mit dieser Einschätzung nicht einverstanden. Schließlich sei Freud doch ein Naturwissenschaftler und kein Philosoph oder Theologe. Zuerst habe ich den Einwand gar nicht begriffen, da die Entwertung der Freudschen Denkungsart meist umgekehrt vollzogen wird: Freud sei unwissenschaftlich und höchstens literarisch interessant (wobei diese Abwehrhaltung viel wahrer ist, als sie ahnt). Schließlich ging mir auf, dass es vermutungsweise mit einer spezifisch christlichen Einstellung zu tun haben muss: Der Körper kann nicht der Ort eines "anderen Wissens", kann kein Ort eines exzentrischen Denkens sein. Denn christlich gedacht wird das transzendierende Moment als Geist quasi von Außen in die Körperhülle hineingetragen. Das Unbewußte, so es denn existiert, untergräbt im und mit dem Körper die Souveränität des Geistes und berührt die christliche Körperabwehr (mit Freud: die "Transzendenz" ist ein Produkt der Fleisch-Kultur-Fleisch-Reibung). Spannend weiterhin die Frage, ob und wie der Glaube (ein bestimmter Glaube?) an diese Souveränität gekoppelt ist oder ohne diese Souveränität ab- bzw. zusammenbricht - kann man an das Unbewußte glauben wie an den lieben Gott, sozusagen als ein Versprechen auf ein gutes Ende (Die Freudsche Psychoanalyse trägt möglicher Weise ein anderes Versprechen in sich. Das Unbewußte wäre nur insofern ein Ort der Wahrheit und des Guten, als dass es als ein Marker für einen ausstehenden Sinn fungiert: nicht alles wird gut, aber wir können daraus etwas Sinnvolles "machen" - höre und fühle, der Himmel wartet nicht).
Der Sinn einer Sache stellt sich erst nachträglich ein, die passende Replik meist auch. Besagter Jurist ist zugleich Nietzsche-Kenner. Zu sagen, dass Sigmund Freud ein Naturwissenschaftler ist, kommt der Behauptung nahe, dass Friedrich Nietzsche ein Biologe sei, weil er vom Übermenschen spricht. Christlich gesehen ist das nicht unplausibel.
31. Mai 2018