Steigen und Fallen
Virginie Despentes entwirft in ihrem 2015 erschienenen Roman "Das Leben des Vernon Subutex" ein - wie es im Klappentext so schön heißt - Sittengemälde unserer Zeit. Die schönen Jahren, so es sie denn gab, sind vorbei, die Helden des Sex, Drugs & Rock 'n Roll sind älter geworden, so sie überhaupt noch leben. Folgerichtig geht es nicht nur auf der gesellschaftlichen, sondern auch auf der persönlichen Ebene bergab. Die einstmalige unbewußte Leichtigkeit des Seins entpuppt sich als Privileg der Jugend. Was im höheren Alter bleibt sind die Einschläge des Lebens, von denen die jüngeren Leute noch nichts wissen. Und so heißt es im Roman:
"Wenn man über vierzig ist, gleicht die ganze Welt einer bombardierten Stadt."
Virginie Despentes: Das Leben des Vernon Subutex 1: Köln, 2019 (2013), S. 97
Das ist allerdings nur die halbe Wahrheit und der optimistische Geist wird darauf setzen, dass mit den Jahren auch die Lebenserfahrung in Form von Gelassenheit und demütiger Freude wächst. Vielleicht. Aber auch der Körper geht mit den Jahren seinen eigenen Weg und man stellt fest, dass es sich nicht nur um einen graduellen Abstieg handelt. Es öffnen sich kleine Abgründe und man merkt, dass die Baustellen des Körpers nicht nur länger bestehen bleiben, sondern auch immer neue dazukommen (Memento Mori der modernen Zeit: die Straßenbaustellen in den Städten, Wut und Verzweiflung hervorrufend). Während die alten Wehwehchen, und Gott sei gelobt, so es sich um keine Ernsthaftigkeiten handelt, nur mit mäßigen Erfolg verschwinden, die Tendenz haben, nach einiger Zeit ungefragt wieder aufzutauchen, ist die Psyche damit beschäftigt, diese neue Situation zu bewältigen. Phasenverlauf:
1. Zukunftsglaube: Das wird schon wieder, bald werde ich mich - und mein Körper sich - ganz wie früher fühlen
2. Dissidenz: Aufmerksamkeit für und Auflehnung gegen das Unannehmbare
3. Resignation: kann man nichts machen
4. Konservatismus: Einsicht und Bejahung der eigenen Verletzlichkeit, Brüchigkeit, des eigenen Vergehens
5. Realitätsprinzip: Akzeptanz, dass die Phasen 1-4 nicht nur einmal und nicht immer in chronologischer
Reihenfolge durchlaufen werden
Wenn man fünfzig ist, gleicht das Leben bestenfalls einem Luftballon mit zunächst winzigen Löchern.
Ein Teil entweicht nach oben, der andere sinkt nach und nach.
31 Juli 2020