Tageseinschläge
Auf dem Weg zum Bahnhof kommt mir ein mittelalter weißer Mann entgegen, mit einem T-Shirt, auf dem steht: "Keine Macht für Niemand". Allerdings sieht er so aus, als hätte er von "keine Macht" schon besonders viel abbekommen. Aber der Spruch bleibt eine Anmaßung, da ein in die Jahre gekommener weißer Mann in heutiger Zeit gar nichts einfordern darf.
Der Zug nach Mecklenburg ist komplett gefüllt, die Leute müssen im Gang stehen. Eine Frau, vielleicht knapp über fünfzig, mit Bürstenhaarschnitt möchte ein kleines Kind erfreuen und spielt ohne Rücksicht mehrmals sehr laut das Lied Biene Maja auf ihrem Handy ab. Schließlich bittet eine junge Frau, sehr höflich, es leiser zu machen, sie müsse lernen. Es gibt sie wohl: die Geräuschschmerzlosigkeit, so man den Krach nur selber produziert. Auf den Umsteigebahnhof beschimpft ein älterer Mann mit Haarkranz die Zugbegleiterin ob des vollen Zuges aufs heftigste. Als hätte sich ein Überdruckventil geöffnet. Im Anschlusszug zieht eine sehr alte Frau mir schräg gegenüber ihren Schuh und ihren Strumpf aus und untersucht ihren linken Fuß. Auch sie eine öffentliche Person.
Gibt es in Ostdeutschland Nachholbedarf bezüglich Beleidigungen? Keine Macht der Staatsgewalt! Aber sauber bleiben, Autowäsche in der Nähe der kleinen Hafenstadt: dort steht ein älterer Passat; die Fahrerin, übergewichtig, ist ausgestiegen und guckt intensiv auf ihr Handy. Vorne auf der Windschutzscheibe, kurz über dem rechten Scheibenwischer ist ein Aufkleber angebracht, auf dem zu lesen ist: "Zettelpuppe fick dich".
Und wieder zurück in der ganz großen Stadt: was will der junge Mann adressieren, mit dem ich kurz vor Mitternacht zusammen eine S-Bahn nutze? Im vorbei gehen kotzt er mir fast vor die Füße - das fast bezieht sich tatsächlich auf den Abstand, nicht auf den Umstand der Vomitation -, um sich dann ein paar Sitzreihen weiter sehr aggressiv und in einem sehr gebrochenen Deutsch mit einem jungen Pärchen zu streiten, von denen er irgendetwas Trinkbares einforderte. Aber Rettung naht. In Hamburg war 2023 Mohammed der beliebteste Jungenname: Kein Alkohol, keine Drogen, nur gottesfürchtige Unterwerfung. Sagen wir mal im Großen und Ganzen.
Am nächsten Tag fahre ich mit dem Fahrrad zur Arbeit und wieder nach Hause. Ich sehe vor dem jüdischen Friedhof einen orthodoxen Juden in Schwarz mit Hut und Schläfenlocken. Daneben sein ca. zehnjähriger Sohn mit Kippa, der traurig dreinschaut. Darob möchte ich Judith Butler, in einem Anfall von Zynismus bitten, dem Jungen zu erklären, was berechtigter Widerstand ist.
Zurück im Kiez ein Tagesbelohnungstrink in einer Bar: Aperol - ich sitze und betrachte die Vorbeigelaufenen. Die spindeldünne, schwarz gekleidetet, mit Tattoos und Piercings (Nase, Augenbrauen) bedruckt und behängte Bedienung mit schwarzgefärbten Haaren - Nachfrage, ja aus Polen - bildet in dem Sommer-essen-und-trinken-gegen-den-Durst-Ensemble ein zweibeiniges Memento Mori.
Schließlich Heimweg und die Frage, ob die Frau mit Migrationshintergrund (darf man das so sagen), mit transparenter Plastikhaube auf dem Kopf und in einem schwarzen, im Wind wehenden Plastikumhang eingepackt, die telefonierend vor einem türkischen Frisör (das auch?) steht, nicht zur Zeit den Engel der Geschichte verkörpert? Die Zukunft kommt woanders her, sieht erstmal dunkel aus, aber die Dinge werden noch schön gefärbt.
30. Mai 2024