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Verlassene See

"Alles ernste, alles tiefe Denken ist nur der Kampf der unerschrockenen Seele um ihre Freiheit auf hoher See, und alle Stürme Himmels und der Erde vereinen sich, sie an die verräterische Küste zu schleudern und zu unterjochen."
Herman Melville: Moby Dick; Hamburg 1958 (1851); S. 84

Mag der Hafen und das Land den Sterblichen freundlich gesinnt sein, die See birgt die Weite des Daseins. Die Oberfläche kann sich wandeln, der Horizont kann versprechen, die Tiefe kann bewahren. Wenn Bewahrung, Versprechen und Wandlung die Lebendigkeit unseres Seins ausmachen, so gebiert die See doch auch jene Gestalten und Chimären, an denen wir scheitern, ja untergehen können: die zerstörerische Oberfläche, der ewig entrückte Horizont, die ungeheuer verschlingende Tiefe.

Angesichts dieser Ambivalenz kann man es uns Menschen nicht verdenken, zu Landgängern geworden zu sein. Folgerichtig haben wir die Freiheit oftmals durch die Wahrheit ersetzt - wir stehen auf festen Boden, gegründet -, und nur einige tragische Gestalten, wie Kapitän Ahab, jagen in einer Verkennung und Verkehrung der Dinge nach der Wahrheit auf und in der See; und selbst das ist lange her.

Das Zerstörung der Meere ist primär keine ökologische Katastrophe. Man muss es umkehren. Weil wir uns nicht mehr um der Freiheit willen auf See wagen, deshalb ist es um die See so schlecht bestellt. Wir haben die See verlassen und sie uns. Seitdem stirbt sie.

13. Oktober 2014