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Wenn man die Wahl hätte

Die Grünen sind vollständig im Versprechensmodus der anderen Parteien angekommen. Auf einem Wahlplakat sieht man die grüne Spitzenkandidatin, wie sie über ihre Schulter zurück blickt, so als würde sie auf uns, die ihr folgen sollen oder wollen, warten. Darunter ist zu lesen: "Zukunft passiert nicht. Wir machen sie."

Dieser Satz suggeriert, dass man nur mit den richtigen Konzepten die Souveränität des Machens und Wollens voll ausspielen müsse, um die Zukunft doch noch, diesmal aber besser, wirklich besser, und natürlich nachhaltiger gestalten zu können. So also ob dann alle Probleme und Entortungen (eine kleine unverbindliche Auswahl: Finanzkrise, Euro-Raum, Rente, Klima, Ressourcen, Umwelt & Tiere & Artenvielfalt und Lebensgrundlagen, Industriestandort, Zukunft der Arbeit, Migration & Integration, Außenbeziehungen, Kriege, China, Digitaler Wandel, Corona & Freiheit) bewältigbar wären, mag die Zeit auch im ein oder anderen Fall knapp werden.

Aber es ist mit beiden Händen zu greifen, dass diese "Probleme" eben keine Probleme im herkömmlichen Sinne sind, sondern unsere Art und Weise des Lebens und Denkens grundlegend durcheinander bringen. Deshalb taucht hier der Begriff Entortungen auf, weil wir von den obigen "Problemen" von unseren angestammten Plätzen vertrieben werden. Wer glaubt wirklich, dass man mit den gängigen Problemlösungsstrategien und / oder moralischen Engführungen mehr erreichen kann, als lediglich einen Aufschub, der die Entortungen aber keinesfalls zum Verschwinden bringt.

Die Ratlosigkeit, zuweilen gar Verzweiflung gegenüber den etablierten Parteien und die oft gehört Klage, dass man nicht weiß, wen man wählen soll, entspringt auch dem Gefühl, dass es keine der Parteien oder handelnden Personen geschafft hat, das Feld des Sagbaren und Denkbaren zu weiten. Selbst dieser Satz ist im Kontext der aktuellen Politik missverständlich, als ob es darum ginge, besonders innovative Visionen oder moralisch provokante Dinge zu artikulieren.

Eher wäre es zunächst ein Verzicht auf die volle Souveränität des Machen-Könnens, ein Eingeständnis der eigenen und gemeinsamen Begrenzungen, was zugleich eine Spielraumerweiterung für ein anderes Hören und Sagen mitträgt (Diese Sätze sind in ihrer Abstraktheit vielleicht nicht zielführend und man müsste sie inhaltlich unterfüttern, sie also mit konkreten Signifikanten koppeln. Wer aber meint, dass es sich primär um ein inhaltliches Problem handelt, der irrt). Keine Politikerin oder Politiker kann dies, selbst in Anbindung an konkrete politische Inhalte, unmittelbar gegen die Hegemonie der Souveränität in die politische Arena hineintragen, ohne die eigene politische Karriere zu gefährden oder zu beenden. Aber ein Hauch eines anderen Anfangs hätte zumindest einen hoffnungsvolleren Ausblick gegeben, auch wenn dies sich nicht unmittelbar in Wählerstimmen ausgezahlt hätte ( die Akzeptanz dieser Währung = Wählerstimmen ist ein Zeichen dieser Souveränitätsdiktatur, die, obwohl immer davon gesprochen wird, keine wirkliche Öffnungen zulässt).

Die Grünen hatten das Potential diese Verschiebung, vielleicht auch nur minimal mit anzustoßen (inwieweit sie - jenseits parteipolitscher Programmatik - tatsächlich zu einer Weitung des politischen Feldes seit den 70er Jahren beigetragen und neue Möglichkeiten geschaffen haben und was das bedeutet, ist durchaus eine wichtige Frage. Sehr erhellend dazu und zu dieser Thematik generell: Zoltán Szankay: The Green Treshold. In: Laclau, Ernesto, Hrsg. The making of political identities. Phronesis. London ; New York: Verso, 1994.).

Wenn man sich den Programmentwurf zur Bundestagswahl 2021 der Grünen, betitelt mit "Deutschland. Alles ist drin.", anschaut, so wird schon im Inhaltsverzeichnis das Wir-Machen-Alles-Gut-Desaster deutlich (wie schon am Anfang erwähnt, sind die anderen Parteien in dieser Disziplin schon viel geübter; umso trauriger, dass der Geübteste in dieser Disziplin die Wahl gewinnen wird). Jedes Kapitel beginnt mit einem grünen "Wir", gefolgt von einem Verb und dem entsprechenden "Inhaltsbereich", auf den sich die Anstrengung bezieht. Entfernt man letzteres, lesen sich die Versprechen so:

Wir schaffen
Wir schaffen
Wir sorgen
Wir schützen
Wir stärken
Wir ermöglichen
Wir fördern
Wir geben
Wir bringen
Wir kämpfen
Wir machen
Wir vollenden
Wir haushalten
Wir fördern
Wir sorgen
Wir schaffen
Wir sichern
Wir geben
Wir schaffen
Wir invertieren
Wir fördern
Wir stärken
Wir ermöglichen
Wir verbessern
Wir machen
Wir treten ein
Wir erneuern
Wir gestalten
Wir rücken
Wir stärken
Wir garantieren
Wir fördern
Wir bauen
Wir treiben
Wir stärken
Wir arbeiten
Wir verteidigen
Wir schützen
Wir streiten
Wir treten

26. September 2021