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Zettels Traum

"Ich hatte 'nen Traum - 's geht über Menschenwitz, zu sagen, was es für ein Traum war. Der Mensch ist nur ein Esel, wenn er sich einfallen läßt, diesen Traum auszulegen. (…) mir von diesem Traum eine Ballade zu schreiben; sie soll Zettels Traum heißen, weil sie so seltsam angezettelt ist (…).”
Shakespeare, William: Shakespeares dramatische Werke. Bd. 5: Ein Sommernachtstraum. Diogenes Taschenbuch 20635. Zürich: Diogenes, 2005, S. 55

Draußen probt der April schon im März, als ob der jahreszeitliche Übergang der Kälte zur Wärme parallel durch den tagesinternen Wechsel von Sonne und Regen begleitet werden müsste. Besser man bleibt zu Hause und freut sich an einem warmen und trockenen Zimmer. Doch so wie im Frühling vieles in loser Abfolge durcheinander geht, so breitet sich auf dem Schreibtisch ein wildes Durcheinander von Ideensplitter aus, schnell notiert auf größeren und kleineren gelben Haftzetteln, über- und nebeneinander geklebt, von der Alltagbeobachtung bis zur Theorie-Idee. Jeder Zettel im Ursprung, der Begriff zu groß für den schnellen Einfall, ein scheinbarer denkerischer Blitz, dessen Ausarbeitung, so die Hoffnung, ein schönes Licht in die angedachte Sache bringen wird. Später stelle ich fest, dass ich meine Schrift oftmals nicht mehr, zumindest nicht vollständig lesen kann, der Sinn der Notiz rätselhaft bleibt. Letzteres passiert auch, wenn die Entzifferung gelingt und sich der einstmalige 'Blitz' im Licht der späteren, nüchternen Durchsicht als trivial erweist, der Inspirationsanschluss sich nicht einstellen will. Oder: der Gedanke hat zwar offensichtlich (s)eine Berechtigung - gibt es dafür Passierscheine? -, entwickelt aber nicht den Schub für eine größere Ausarbeitung. Die erwartbare Mühe zu groß, um eventuell aus einem Stückwerk ein anderes Stückwerk zu machen. Also einfach entsorgen? Hier die Idee, die auf einem weiteren Zettel steht: die 'Zettel' als Fragmente zueinanderstellen, in der Hoffnung, dass sie sich vertragen.

  • Der Krieg ist keineswegs der Vater aller Dinge 
  • Ideologie: die innere Verhärtung als Opfer gegen sich selbst feiern
  •  Golgatha, Ort des Schädels / Golum, Ringbegehrer
  •  Das Gegenteil von Erlösung ist nicht Verdammung, sondern das Aushalten von Ungewissheit
  •  Aufgeschnappt: der Sturz von Gott ins ich
  •  Das Wunder des Christentums: vielleicht der Umstand, dass eine liebende, nachgebende und schwache Glaubensform sich erfolgreich ausbreiten konnte
  •  Schwere Worte
  •  Gott ist nicht Tod, er ist nur nicht mehr da
  •  Der Schlaf ist der Gott des Vergessens
  •  Trauerkarte: das Runde muss ins Eckige
  •  Begriffe der Zeit: Vereinzelungsanlagen (Drehkreuze etc.)
  •  Hoffnung: rückausgerottet
  •  Für Wankelmütige: Trudelturm
  •  Neue Berufe: Lebensmittelverderbnisbeobachter (wochenlang vor dem Joghurt am Schreibtisch sitzen)
  •  Neue Sportarten (mit Chance auf den Weltmeistertitel): Gummiband-Büroklammer-Schleuderung
  •  Aus einer Krimi-Serie: Es gibt zwei Wölfe die miteinander in uns kämpfen - der Wolf aus Neid, Missgunst und Hass und der Wolf der Liebe, des Glaubens, der Hoffnung. Gewinnen wird der, den wir besser füttern
  •  Pinocchio-Film: Mein Vater sagte stets, bleib optimistisch, dann wir das Leben stets leichter
  • Das Argument gegen Verschwörungstheoretiker: als ob es einen zentralen Punkt in der Gesellschaft geben könnte (oder, ganz empirisch: in der Firma, in der Familie, im Verein - egal auf welcher Organisationsebene), von dem man die Welt zielgenau zum Besseren oder Schlechteren steuern könnte
  • Carpe diem: es gibt keine Lebensweisheit, die man nicht  widerlegen könnte
  • Die Begeisterung für einen Weisheiten-Redner entstammt seiner eigenen Autosuggestion, wobei die Weisheiten sich nicht allzu weit von den gemeinen Plattitüden entfernen dürfen, damit er auch für sich selbst noch überschwenglich überzeugend wirken kann
  • Die 'negativen' Tarot-Karten sind ästhetisch besser
  • Privileg der Jugend: der Glaube, dass das 'Eigentliche' noch kommt
  • Älterwerden ist auch ein Vergleichszugewinn, der mit dem Wegfall noch verbleibender Lebenstage bezahlt wird: ist der März noch so wie früher?

29. März 2023