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Adieu Herr Nancy (* 26. Juli 1940 - † 23. August 2021)

Jean-Luc Nancy starb am 23. August 2021, also vor fast einem Monat. Ich habe ihn, den Philosophen aus Frankreich, nur durch seine Schriften gekannt, aber was heißt schon nur. Ich bin mir nicht sicher, ob und wie er mich in meinem Denken beeinflusst hat. Da ich ihn gelesen, einige seiner Bücher gekauft, mit Bleistift einige seiner Sätze markiert habe, denke ich: ja wichtig, schade dass er nicht mehr 'da' ist. In einem seiner Essays, den ich heute nochmals gelesen habe, spricht er über die Haltung des Denkens gegenüber jedem Denker: "ihn nicht zitieren, ihn nicht studieren, sondern in auswendig lernen, par coer, mit dem Herzen - also mit dem Organ, das um zu begreifen, ergreifen und sich ergreifen lassen muss." (Nancy, Jean-Luc: Dekonstruktion des Christentums. Zürich Berlin: Diaphanes, 2008, S. 133).

Das gefällt mir schon gut, die Idee, dass unser Gehirn vielleicht steuert, aber nicht das Zentrum unseres Seins bildet, nicht einmal unseres denkerischen Seins, eines Seins, von dem Nancy immer gesagt hat, dass es ein sehr abgründiges Sein ist. Es schlägt, es ist ein Rhythmus. Ein anderer Essay in dem gleichen Buch ist betitelt mit "Trost,Trostlosigkeit" und beschäftigt sich mit dem "Adieu", dem letzten Gruß, von dem er mit Bezug auf Derrida sagt, dass es immer die absolute Abwesenheit von Heil grüßt. Der Grüßende, der den Tod des Anderen grüßt, der den toten Anderen grüßt, bleibt mit seinem Gruß auf einem Rand, dem kein anderer Rand gegenüberliegt. Der Tod rührt an das Intakte, im Sinne einer absoluten Hermetik, zu der wir keinen Zugang haben, so Nancy. Also ein unmenschliches Sein und man ist versucht zu fragen, wo sonst sollen die Götter wohnen, wenn es sie gibt. Der letzte Satz des Textes lautet:

"Ohne uns zu retten, berührt ein solcher Gruß uns immerhin, und indem er uns berührt, weckt er diese fremdartige Aufregung, das Leben für nichts zu durchqueren - für nichts, doch exakt genommen nicht rein als Verlust."
Nancy, Jean-Luc: Dekonstruktion des Christentums. Zürich Berlin: Diaphanes, 2008, S. 177

Der Abschied und die Worte zum Abschied sind für die Lebenden, auch wenn wir uns als Überlebende fühlen und verkennen, dass es nur ein Aufschub ist. Weg-Gabe am Ende des Weges: unser Leben ist auf und für nichts gegründet, wir durchqueren es für nichts, keine Rettung in Sicht. Aber eben kein vollständiger Verlust; wir durchqueren das Leben, so sagt es Nancy, nicht rein als Verlust. Jeder Entzug, jede Erfahrung, dass eine - unsere - Ordnung und die dazugehörenden wohlgeordneten Gründe leise oder laut zusammenbrechen - und ist der Tod nicht der größte Entzug -, hinterlässt Spuren. Auch Verlust, aber nicht rein als Verlust - Berührungen, Herzensangelegenheiten.

Coda
Wann habe ich zum ersten Mal einen Text von Nancy gelesen? Ich weiß es nicht mit Bestimmtheit. Aber wahrscheinlich war es der Essay in einer Ausgabe der Zeitschrift Lettre International von 1993. Dort schrieb Nancy einen Text, der mit "Lob der Vermischung. Für Sarajevo, März 1993" betitelt war (Jean-Luc Nancy: Lob der Vermischung: in: Lettre International, Heft 21, II. Vj./93, S. 4-7). Auf den ersten beiden Seiten waren zwei (Tusche-)Zeichnungen der serbischen Künstlerin Marina Abramovic abgebildet - ein weinender Mensch oder eine weinende Frau und ein fünfzackiger Stern mit brustähnlichen Schleifen an den Enden (auf den beiden darauffolgenden Seiten gibt es zum einen eine kleine Anzeige für ein Schuhgeschäft, mit Standorten in vier Straßen. In welcher Stadt? Man erfährt es nicht. Auf der gegenüberliegende Seite ist eine Werbung für einen Bücherschrank bzw. ein Möbelgeschäft platziert, diesmal mit Postleitzahl - noch vierstellig - samt Stadt = Berlin). Also Sarajevo: bekanntlich kam es zum Konflikt zwischen den drei ethnischen Gruppen - den muslimischen Bosniaken, bosnischen Kroaten, bosnischen Serben -, weil die ersten beiden Gruppen sich für die Unabhängigkeit von Jugoslawien aussprachen, letztere mit großer Mehrheit für den Verbleib stimmten. Im Frühjahr 1992 kam es dann zur Belagerung von Sarajewo durch bosnisch-serbische Truppen, die insgesamt 1425 Tage andauerte. Der Wikipedia-Eintrag zu Sarajewo spricht von 10.615 Toten aus allen Volksgruppen, darunter 1.601 Kinder und insgesamt 50.000 teilweise schwer Verletzten.

Nancy schreibt im März 1993 das "Lob der Vermischung". Der Krieg ist seit einem Jahr im Gange. Natürlich verurteilt Nancy die Idee eines reinen Volkes und einer reinen Identität, was philosophisch-denkerisch und politisch erwartbar ist. Zum Ende des Textes kommt er auf die systematische Vergewaltigung der bosnischen Frauen zu sprechen, die auf exemplarische Weise alle Gestalten einer irrsinnigen Bejahung der 'einen' einheitlichen Gemeinschaft vorgeführt hat:

"Nichtiger und nichtender Akt, Negation des Sexus selbst, Negation der Beziehung, Negation des Kindes und der Frau, reine Affirmation des Vergewaltigers, in dem eine 'reine Identität' (eine 'reinrassige' Identität) sich nicht besser zu helfen weiß als dadurch, dass sie das, was sie negiert, auf abscheuliche Weise imitiert: die Beziehung und das Zusammensein."
Jean-Luc Nancy: Lob der Vermischung: in: Lettre International, Heft 21, II. Vj./93, S. 7

Neben der politischen Intervention, wenn man es so nennen will, liegt das Spannende des Textes darin, dass er als Antwort auf die reine Identität keineswegs die Idee einer multikulturellen Gemeinschaft vertritt. Wahrscheinlich ist dies auch der Grund, warum ich hier darauf zu sprechen komme, warum ich mich an den Text erinnere, warum ich ihn sogar weiter empfohlen habe. Auf den Schrecken gibt es keine einfache moralische Antwort. Die Dinge liegen komplizierter. Nancy spricht davon, dass wir alle fühlen und wissen, dass "die Rassenmischung, das generalisierte Tauschen und Teilen, die transzendentale Buntscheckigkeit" als solche nicht genügen. Die Mischung, weder in Form der Verschmelzung, noch als völlige Unordnung, gibt es einfach nicht; die Mischung ist weder ein Wert, noch ein fixierbarer Zustand. "Die Mischung ist also nicht, Sie geschieht oder ereignet sich: Es gibt Vermischung, Kreuzung, Verwebung, Austausch und Teilung, doch nie ist es ein und dasselbe." (Ebenda S. 5) Es gibt und gab immer nur Vermischung, ohne einen Anfang, ohne ein Ende - auf der anderen Seite gibt es nur den Tod, oder - politisch gesehen - Kräfte, die das Todeswerk lostreten, um die Vermischung zu unterbrechen. Und diese Unterbrechung ist natürlich insofern absurd, als dass eine reine Identität sich nicht mehr identifizieren kann, in sich begraben liegt. "Sie ist nur mit dem identisch, das mit sich identisch ist, das sich also im Kreise dreht (…)." (ebenda S. 6).

Auf der anderen Seite - und nun also der Knackpunkt der ganzen Angelegenheit - gibt es laut Nancy sehr wohl so etwas wie Identität, wenn auch nur in 'Anführungszeichen'. Eine Kultur, ein Volk, eine Nation, eine Zivilisation ist einzigartig: "Die Tatsache und das Recht dieses 'einen' dürfen nicht vernachlässigt, erst recht nicht geleugnet werden im Namen einer Essentialisierung der 'Mischung'." (ebenda S. 6). Was ist also dieses Einzigartige, wodurch zeichnet es sich aus. Die Antwort: es ist der Stil und/oder der Ton der Vermischung und zugleich sind es die pluralen Stimmen und Register, die diesen Ton interpretieren und so die Vermischung weitergeben und weitertreiben, den Ton variieren und modulieren. Nancy schreibt: "Die Unterschiedenheit nicht mit der Grundlage zu verwechseln, ist ohne Zweifel das, worauf es - philosophisch, ethisch und politisch - ankommt (…)." (ebenda S. 6) (An dieser Stelle nur der Hinweis, das von hier aus auch eine jugoslawische Identität denkbar ist und sich die Frage stellt, ob und in welcher Form es sie gab und was mit ihr passiert ist und welche "Rolle" der Westen dabei gespielt hat).

Anhand dieser Unterschiedenheit dürfte auch klar werden, warum Nancy ein post-fundamentalistischer und kein anti-fundamentalistischer Denker ist. Es gibt eine Identität, die sich im Handeln und in den je spezifischen Handlungsräumen, in denen sich das Handeln 'bewegt' und die zugleich durch das Handeln geformt werden, entfaltet, sich jedoch nicht festschreiben lässt. Dieses Zwischen ist nicht steuerbar und unterliegt keiner Souveränität. Es ist eher eine Resonanzraum, ein vielfältiger Einschreibungsraum, in dem sich Spuren finden und verlieren, in dem Traditionslinien sich kreuzen, verworfen werden und wieder aufleben. Trotzdem bleibt dieser Raum in seiner Unreinheit identifizierbar.

Zu Recht hat Oliver Marchart auf die Nähe einiger Zentralbegriffe von Nancy - Mit-Sein, Freiheit, Pluralität - zu Hannah Arendt hingewiesen. (Oliver Marchart: Die politische Differenz: zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben. Berlin: Suhrkamp, 2010; zu Nancy insbesondere S. 87-117). In der Tat lassen sich hier Parallelen finden, bis hin zu der von Marchardt aufgeworfenen Frage, ob dieses ent-gründete Freiheits- und Pluralitätsdenken nicht den politischen Streit, die antagonistischen Momente und die Konflikthaftigkeit, unterschlägt, somit als politische Philosophie letztendlich im Philosophieren stecken bleibt. Vielleicht, sofern sich daran zum Beispiel Fragen nach der Qualität der symbolischen Räume knüpfen, daran, was und warum einige Räume Konflikthaftigkeiten besser aushalten als andere, warum einige Räume empfänglicher sind für ideologische Phantasmen als andere, warum zu bestimmten Zeitpunkten ... Schwierig, bis hin zu der Vermutung, dass sich diese Fragen nicht mit einem "rein" ontologischen Register beantworten lassen. Vielleicht auch hier eine Frage des Tons, der Stimmlage, der Stimme.

Nun, eine Stimme wird zukünftig fehlen. Grund genug, um sie nochmals zu hören:

"Nur wenn man die Welt, und nicht ein Subjekt der Welt will (weder Substanz noch Urheber noch Herr), kann man das Widerweltliche [l`immonde] verlassen.“
Jean Luc Nancy: Die Erschaffung der Welt oder Die Globalisierung; Zürich - Berlin 2003 (2002), S. 45

19. September 2021