Auto, Tausch und Tod
Als junger Mensch, ich war vielleicht neunzehn oder zwanzig, die Szene spielt also in den 8oer Jahren, kann ich mich an einen Besuch bei einem Freund erinnern, ich würde sagen: damals mein bester oder besser, mein interessantester Freund, der mir ein Buch zeigte, das er kürzliche gekauft hatte: Jean Baudrillard, Titel „Der symbolische Tausch und der Tod.“ Das Buch hatte einen grauen Einband, kein Hardcover, der wiederum aus gröberen, d.h. ungestrichenen festeren Papier bestand. Es hatte etwas Raues, Direktes, Ursprüngliches. Ich habe noch ein kleines Rimbaud-Buch, Seiten-Sprünge von 1986, ebenfalls bei Matthes & Seitz verlegt, das die gleiche Einband-Qualität aufweist.
(Nebenbei: darin die berühmten Worte „ES DENKT MICH. (…) ICH ist ein ANDERER.“
Arthur Rimbaud: Seiten-Sprünge. Debatte 26. München: Matthes & Seitz, 1986.S. 24
In diesem Zusammenhang, der sich noch gar nicht hergestellt hat, auch schön:
„Kapitalisten Könige Parlamente: Krepiert!
Gewalt, Gesetz Geschichte: Kratzt ab!
Das steht uns zu: Blut! Blut!
Die Flamme des Goldes!“
Ebda, S. 73 – Ja, die Jugend!)
Vielleicht irre ich auch, was den Einband angeht. Der Titel sollte jedoch über die Jahre fest im Gedächtnis verankert bleiben, obwohl ich damals gar nicht wußte, was in dem Buch verhandelt wird. Ich habe es erst viele Jahre später gelesen. Aber der Titel „Der symbolische Tausch und der Tod.“ war eine poetische Chiffre, eine noch ausstehende Verheißung für ein umfassendes, wenn auch esoterisches Seinsverständnis (Die französische Originalausgabe von 1976 heißt übrigens"L'échange symbolique et la mort"). Ich bin heute der Meinung, dass Baudrillard mit vielen seiner theoretischen und politischen Ausführungen neben der Spur liegt. Aber wie mir scheint, hat ein zentrales Motiv seines Denkens, das in dem besagten Titel auch schon angelegt ist, weiterhin Gültigkeit. Nämlich die Abkehr von einem linken ökonomischen Determinismus (1976!) hin zu einem Denken, das - nennen wir es hier der Einfachheit halber - das ‚undenkbare Andere‘ zum Anstoß für ein ‚anderes Sein‘ nimmt.
“Und die Naivität des (liberalen oder revolutionären) humanistischen Denkens liegt darin, nicht zu sehen, dass seine Ablehnung des Todes im Grunde die gleiche wie die des Systems ist: die Ablehnung von etwas, was dem Wertgesetz entgeht.”
Jean Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod; Berlin 2005 (1976), S. 273
Daher bleibt umgekehrt auf symbolischer Ebene der Tausch, auch wenn er reale Dinge - wie zum Beispiel beim Schenken - mitumfasst, immer ein ‚paradoxer‘ Tausch, weil man keine Werte austauscht, die nach einem Wertesystem in Beziehung gesetzt werden können, sondern im Grunde genommen etwas teilt, das niemand besitzt und für das es keinen Maßstab gibt, den man sich aneignen könnte. Vielleicht könnte man sagen: Der symbolische Tausch ist eine Teilung von etwas, das es nicht ‚gibt‘, uns aber (oder deshalb) affiziert. Das hat etwas – im freudschen Sinne – Unheimliches, ganz im Gegensatz zur Kommunikation, in der wiederum versucht wird, das Wertgesetz auf symbolischer Ebene einzuführen, indem die ‚Information‘ zur Wert-Einheit wird, die bruchlos vom Sender zum Empfänger und wieder zurück transferiert werden kann (In gleicher Weise tauschen / schenken wir heute keine Dinge mehr, sondern begleichen Außenstände, die immer im richtigen Verhältnis zueinander stehen müssen; aber so einfach ist das auch nicht).
In diesem Sinn kommt man dem Tod (und dem Sein) immer dort näher, wo der Tausch, das Geschäft, die Transaktion nicht aufgeht. Daraus lassen sich zahlreiche Schlussfolgerungen ziehen, zum Beispiel - sehr witzig - , dass der Kunstmarkt der Tod der Kunst ist. An den Rändern des Lebens spielt das Leben mit den größten Einsätzen. Deshalb sind Drogen und ihr Konsum ein äußerst sensibles Thema, weil man mit ihnen in die Tektonik ganzer Gesellschaften eingreift (das Handels- und Konsumverbot, das für zahlreiche Drogen gilt, führt – unschwer ist diese Wendung zu erahnen - zur Wiederkehr des Verdrängten, dergestalt, dass Drogenanbau und die Distribution eine äußerst große Schattenökonomie bilden, die durch umfassende Gewalt sich auszeichnet. Und vielleicht ist auch hier die Gewalt ein Zeichen dafür, dass es keine ‚reine‘ Ökonomie geben kann). Im Eskapismus, in der Bewusstseinserweiterung und im körperlichen, geistigen oder finanziellen Ruin teilen uns Drogen mit, dass es keine normale Lebensökonomie gibt.
"Jeder Drogenkonsum beruht auf einem Gegengeschäft. Wer sich darauf einlässt, der bietet eine selbstverständliche Funktion seines Körpers - vorausgesetzt alles dort befindet sich in einem guten Zustand -, um eine außergewöhnliche Fähigkeit einzutauschen. Ein gutes Hautbild beispielsweise kann zum Tauschobjekt werden, eine unproblematische Leberfunktion, ein zuverlässiges Gedächtnis. Möglicherweise auch Lebenszeit. Unter Umständen das Leben selbst."
Alexander Wendt: Kristall: eine Reise in die Drogenwelt des 21. Jahrhunderts. Tropen Sachbuch. Stuttgart: Tropen, 2019. S. 9
Das Gegengeschäft, das wir mit den Drogen eingehen, geht oftmals nicht auf. Wir bekommen immer mehr oder immer weniger von dem, was wir wollen, that’s life. Dennoch: das Drogenproblem der Moderne besteht nicht aus den Drogen – Wie Alexander Wendt anmerkt, stammen fast alle Drogen der Moderne aus der Schweiz oder Deutschland, weil: „Nirgends stand zwischen 1860 und 1930 die Wissenschaft der Chemie höher.“ Ebda, S: 65 -, sondern darin – so könnte eine These lauten –, dass wir mit den Drogen den Tod (und das Leben) nicht teilen, sondern uns durch die Drogen oftmals arbeits- und freizeittechnisch optimieren wollen: die Inwerksetzung eines ökonomisch grundierten Exzesses: drogeninduzierte Todesverdrängung.
Der Stoff, aus dem einige bemerkenswerte Science Fiction-Romane sind, handelt von Drogen, die so perfekt sein sollen, dass der Tod (als schlechtes Hautbild, schlechtes Gedächtnis, schlechte Leberfunktion) nicht wiederkommt. Klassiker wie "Schöne neue Welt" (1932) von Aldous Huxley oder "Der futurologische Kongreß" (1971) von Stanisław Lem, um nur zwei berühmte Bücher zu nennen, sind hier einschlägig. In gewisser Weise handelt auch Christoph Höhtkers Roman „Schlachthof und Ordnung“ von einer solchen Droge. Ihr Name lautet Marazepam und sie wird im Roman als Marom R. durch den Pharmakonzern Winston Pharma and Medical Care Deutschland Ltd. vertrieben. Die Wirkung ist so erstaunlich, dass die Konsumenten sogar Dankesbriefe an den Konzern schreiben:
"Marom R hat mich abgedichtet, meinen Kopf uneinnehmbar gemacht. Ich bin friedlich und frei, und ich habe Lust, Dinge zu tun. Ich bin aktiv und abends aber schlafe ich wie ein Stein. (...) Es ist, als hätte Marom in mir eine wärmende, unauslöschliche Flamme entzündet; manchmal glaube ich sogar, Marom selber ist diese Flamme."
Christoph Höhtker: Schlachthof und Ordnung: Roman. Zürich: weissbooks.w, 2020. S. 52 f.
Hört sich gut an, auch wenn sich herausstellt, dass der – eigentlich nicht notwendige (sic) – Entzug sich schwierig gestaltet. Die Droge scheint den Tod abzuweisen, ihn fast zum Verschwinden zu bringen. Doch dieser kehrt an anderer Stelle wieder: es gibt Schusswechsel, Familiendramen, Tote.
Auch einer der Protagonisten des Buches, Patrick Esnèr, hat zum Tod eine innige Beziehung. Er arbeitet für einen französischen Schlachtkonzern als Pressesprecher. Nach außen verkauft er das Produkt, das geschlachtete Tier, und den Prozess des Schlachtens professionell und weist auf die Fortschritte für das Tierwohls hin. Nach der Arbeit lässt er seinen Lebensfrust in sadistischer Weise an den Schweinen aus, indem er ihnen vor der Schlachtung die Nasen abschneidet. Zudem ist er unzufriedenes Mitglied in der sozialistischen Partei und möchte perspektivisch als Manager bei dem schon erwähnten Marazepam-Pharmakonzern einsteigen. Folgende Stelle ist gleich auf den Anfangsseiten des Buches zu finden, auch wenn sie für den weiteren Verlauf der Handlung nicht besonders wichtig ist (aber wer weiß das schon):
"Patrick Esnèr hatte es eilig. Mit langen Schritten eilte der Dreiundvierzigjährige über den windigen Firmenparkplatz, ließ bereits aus zwanzig Metern Entfernung per Fernbedienung die Türschlösser aufspringen und warf sich kurz darauf mit einem energischen Schwung in den mattschwarzen, schon etwas angejahrten, jedoch weiterhin relativ zuverlässigen und zeitgemäßen sowie relativ bis völlig unerheblichen Citroen DXC E-Wavecross."
Christoph Höhtker: Schlachthof und Ordnung: Roman. Zürich: weissbooks.w, 2020.S. 24
Die Erwähnung eines Automobils, zumal eines bestimmten Automobils, ist in einem Roman natürlich überterminiert, könnte man vermuten (ich kann mich an Paul Auster-Romane erinnern, wo der ‚Held‘ zum Beispiel einen Saab fährt; oder der Nachwende-Roman von Lutz Seiler “Stern 111“, wo ein „Schiguli“ eine wichtige Rolle spielt usw.). Ein Automobil verkörpert schon durch seinen Wortsinn - übersetzt ‚Selbstbeweger‘ - ein Fortschritts- und meist auch ein Freiheitsmonent; man denke an die vielen Roadmovies. Obwohl in dem Höhtker-Roman Autos durchaus eine Rolle spielen, wird im obigen Zitat explizit auf die völlige Unerheblichkeit des Automobils der Marke Citroen hingewiesen. Die Attribute zuverlässig und zeitgemäß lassen den Puls nicht höherschlagen. Wenn man den zwei Jahre später erschienen neuesten Roman von Michel Houellebecq liest, der im Wahljahr 2027 spielt, könnte man fast meinen, dass hier eine Antwort auf die von Höhtker ausgerufene Mediokratisierung der französischen Automarke gegeben wird.
"Größtenteils vom Staat refinanziert, der damit de facto die nahezu vollständige Kontrolle übernommen hatte, hatte sich der Automobilkonzern darangemacht, die Luxusklasse zurückzuerobern, und sich dabei auf eine einzige seiner Marken konzentriert: Citroen."
Michel Houellebecq: Vernichten. Köln: DuMont, 2022. S. 36
„Vernichten“ ist ein für Houellebecqsche Verhältnisse sehr melancholischer Roman, in der schließlich sogar die zwischenzeitlich sehr brüchige Ehe des Hauptakteurs zu einer guten Form findet, die Eheleute also wieder zueinander finden, auch wenn der Tod des Mannes dieser Wiedervereinigung ein zu frühes Ende setzt. Wie überhaupt der Roman, auch wenn er nicht zu den Besten im Houellebecqschen Oeuvre gehört, nicht nur den Respekt für das Alter und die damit einhergehenden meist unangenehmen Metamorphosen anmahnt, sondern auch die Spiritualität und die Transzendenzbemühungen als ernsthafte Lebensoptionen aufgreift.
Und ist nicht auch die Fiktion des Aufstiegs von Citroen als die weltweit führenden Auto-Luxusmarke in mehrfacher Hinsicht eine Wiederauferstehung, wo doch Citroen in der realen Welt inzwischen in den niederländischen Stellantis-Konzern eingegliedert wurde, zu dem u.a. auch Chrysler, Dodge, Fiat und Opel gehören. Vielleicht berührt mich dieser Roman-Hinweis auch nur deshalb, weil ich selbst einen gebrauchten Citroën C5 Tourer fahre, der sich dadurch auszeichnet, dass es die letzte Citroen-Baureihe ist, die noch hydropneumatisch gefedert wird. Die Druckspeicher für die Federung / Dämpfung sehen dabei aus, wie gestauchte kleine Wok-Töpfe mit einem Deckel, denen man am Boden noch einen kleinen Standzylinder verpasst hat. Wenn man die Motorhaube öffnet, scheint es fast so, als wären sie die Torwächter zur Fahrgastzelle.
Noch eine letzte Wendung, bevor der Text, der sich bis hierhin fast automatisch entwickelt und bewegt hat, zu Ende geht. Mit einer pneumatischen Federung fährt es sich natürlich bequem (Vielleicht auch daher der Werbe-Slogan „Nichts bewegt Sie wie ein Citroen“, der allerdings noch eine andere Bedeutung bekommt, wenn man die Werkstattrechnungen begleichen muss. Auch interessant ist der fast schon existentialistische Slogan aus den 50er Jahren: „Du vin, du pain, du Citroën.“). Aber das Pneuma hat natürlich auch eine lange philosophische und theologische Geschichte. Es ist nicht nur der (Heilige) Geist, der sanft Geist, sondern auch der entflammende Geist, der wiederum das Zerstörerische und das Böse in sich zu bergen vermag (zu Geist, pneuma, spiritus und ruah siehe auch: Jacques Derrida: Vom Geist: Heidegger und die Frage. 1. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1988.). Die beiden herbeizitierten Bücher, auch wenn das Auto dort als belangloses Gebrauchs- oder Luxusgut eingeführt wird, heißen schließlich „Schlachthof und Ordnung“ und „Vernichten“. Literatur ist immer auch Pneumologie und diese wiederum ist niemals harmlos. Genauso wenig wie der Tausch und der Tod – und so soll es sein.
28. Juli 2022