Bewegung, Geist und Müdigkeit, Lebenskraft
Unser Körper spricht mit uns, mal mehr, mal weniger, mal sanft, mal nachdrücklicher. Wir haben Hunger, wir haben Lust auf Sex, wir müssen unsere Notdurft verrichten und wir haben Schmerzen. Da kann sich unser Geist so ziemlich auf den Kopf stellen, man muß diese Körpersignale zumindest zu Kenntnis nehmen - nein, man muß gar nicht, sie sind einfach da. Nun hat wohl jeder seine eigenen Strategien entwickelt mit diesen Dringlichkeiten umzugehen - in den meisten Fällen wird man einen Weg finden, dem Körper das zu geben, was er verlangt.
Nun haben einige Menschen die Angewohnheit, den Körper mehr zu bewegen, als es die Lebensumstände verlangen. Der Fachbegriff dafür lautet Sport. So man sich entschieden hat, sich sportlich zu betätigen, stehen fast unendliche Möglichkeiten zur Verfügung. Man kann Schwimmen, Segeln, Golfen oder auch Schach spielen - alles Sport. Für mich ist es das Laufen, teils weil ich aus Jugendzeiten diese Sportart intensiv betrieben habe, also mit ihr vertraut bin, teils weil sie relativ einfach umzusetzen ist, man kaum technisches Equipment braucht und man seine Trainingseinheiten frei einteilen kann.
Wie bei so vielen Dingen, und erst recht beim Sport, und ganz besonders bei Ausdauersportarten, lernt man schnell, dass der Körper seine eigenen, uns oftmals sehr unvertrauten Ansprüche und Gewohnheiten hat. Zunächst erfährt man nachdrücklich, dass der Körper ein Beharrungswesen ist. In gewisser Weise könnte man sogar sagen: wo Körper ist, da ist Todestrieb. Damit ist nicht nur gemeint, dass der Körper, erstmal auf dem Sofa geparkt, höchst selten sich zu sportlichen Aktivitäten überreden lässt. Nein, viele kennen auch die Momente innerhalb des Trainings und des Wettkampfs, wo der Körper nicht mehr so Recht weiter will; man fühlt sich erschöpft, der Rhythmus stimmt nicht mehr, die Beine fühlen sich schwer an oder brennen - man möchte am liebsten die Bewegung abbrechen und sich und dem Körper etwas Ruhe gönnen. Zurück zum Urzustand.
Aber ein erfahrener Sportler muss man nicht sein, um zu wissen, dass mit dem 'Nachgeben' der Trainingseffekt ziemlich schnell gegen null tendiert, ja der Angang zum Training erschwert, gar verunmöglicht wird. Eigentlich besteht das Training oftmals daraus, diese Schwelle - der Körper meldet: es ist anstrengend, bitte aufhören - zu betreten und sich in ihr einzurichten. Zuweilen kommt es vor, dass der Körper quasi nachgibt und die negativen Signale ganz einfach wieder verschwinden. Der magische Flow stellt sich ein und alles geht von ganz alleine. Aber bei mir ist das eher die Ausnahme. Gleichwohl ist es so, dass dem Körper auch das Training zur Gewohnheit wird und dass er, erstmal im Training, gerne weiter bewegt werden möchte, sich gar Unwohl fühlt, wenn das Training ausbleibt. Nichtsdestotrotz steht mein 'Ich', also mein geistiges Ich im Gegensatz zum Körper-Ich, oft genug vor der Aufgabe, mit den 'unangenehmen' Körpersignalen umzugehen.*
Erstaunlicher Weise wird dieses Thema bei den meisten Lauftipps sehr stiefmütterlich behandelt und beispielsweise mit dem Hinweis abgetan, dass man sich mental auf seine Laufstrecke vorbereiten soll, was immer das genau heißen soll. Oder es wird empfohlen, dass Laufen maximal entspannt anzugehen, es als eine Variante des ambitionierten Spazierengehens zu betreiben, was weder zu einer Verausgabung, noch zu anderen Arten von negativer Rückkopplung führen kann.
Diese Wellness-Sportidee ist mir ob ihrer Anstrengungslosigkeit immer etwas suspekt geblieben. Oder wie Haruki Murakami in seinem Laufbuch schreibt:
„Ich erreiche allmählich das Alter, in dem man nur etwa bekommt, wenn man auch dafür bezahlt hat.“
Haruki Murakami: Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede; Köln 2008, S. 53
Was also tun, wenn der Körper signalisiert: "genug" und dein Geist darauf anspringt und ernsthaft überlegt, beispielsweise die Strecke abzukürzen. Wahrscheinlich gibt es ganz viele Antworten darauf. Meiner Erfahrung nach sind die Möglichkeiten überschaubar und nicht eindeutig voneinander zu trennen, sondern gehen ineinander über, als da wären: ignorieren – konzentrieren – verschmelzen. Naheliegend ist es, den Körper-Unmut zunächst als kleinen, fehlgeleiteten Wink zu betrachten, sozusagen als eine Falschmeldung, die sich im weiteren Fortgang des Laufens von alleine korrigieren, das heißt verschwinden wird. Kennt jeder auch aus anderen Kontexten: ein leichtes Stechen im Bauchbereich, ein Anflug von Kopfweh und dann wieder weg. Das Ignorieren eignet sich also für den Anfang, da es mit der Hoffnung verbunden ist, dass der Körper mit sich und seinem Tun auch wieder ins Reine kommt und das Quengeln einstellt. Sollte dies nicht der Fall sein, kann man im eigentlichen Sinne nicht mehr von Ignorieren sprechen. Ich lasse meine Gedanken schweifen, werde ‚unterbrochen’, ignoriere den ‚Köperhinweis’, versuche an andere Dinge zu denken, werde wieder ‚unterbrochen’ usw. Setzt sich dieses Spiel über einen gewissen Zeitraum fort, weiß ich, dass diese Strategie nicht aufgeht und ich mich mit meinem Körper anders ins Einvernehmen setzten muss.
Statt also nur so vor mich hinzudenken, schalte ich in den Modus der Konzentration. Ich lade meinen Körper ein, ebenfalls mitzumachen, indem ich mich zum Beispiel voll und ganz auf das Atmen konzentriere und diese ‚Bewegung’ noch mit einer ‚Satzformel’ unterlege, damit mein Geist nicht auf die Idee kommt, wiederum selbst Gedanken fortzuspinnen, die mit der Atmung nichts zu tun haben. Und damit mein Körper sich nicht durch meinen Geist gegängelt fühlt, benutze ich immer eine passivische ‚Satzformel’ wie zum Beispiel ‚es läuft mich gut’. Der Körper lässt sich darauf ein und ich laufe ganz zufrieden vor mich hin, bis ‚Ich’ - ja welches Ich - merke, dass mein Geist ganz unauffällig das Thema gewechselt hat und sich mit anderen Dingen beschäftigt. Das ist natürlich nicht in Ordnung, da auch der Körper wieder anfängt auf sein Recht zu pochen. Also heißt es, Konzentration aufbauen und sich die Dinge fügen lassen. Oft wechseln sich diese Phasen der Konzentration und des Abschweifens eine Zeit lang ab, manchmal bis ins Ziel. Auch gut. Schließlich gibt es die glücklichen, jedoch seltenen Augenblicke, in denen die Konzentration sich quasi verselbständigt und zu einer Art Verschmelzung führt. Ein beglückendes Gefühl, da Körper, Geist, Bewegung und Umwelt sich nicht mehr wie verschiedene Dinge gegenüberstehen, sondern sich ineinander verschränken, ohne ineinander aufzugehen und doch zusammengehörig. Daher mag Verschmelzung auch nicht ganz der richtige Begriff sein; jedoch zeigt er an, dass ich in etwas eingelassen bin, das mich trägt, ohne dass ich es wollen muss oder kann. Insofern ‚läuft es mich dann wirklich gut’. Selten, sehr selten.
Der Körper ist ein sehr ehrlicher Begleiter (Bin ‚Ich’ das auch immer? Aber was weiß ‚Ich’? Sprechen wir nicht ganz oft miteinander, ohne dass ‚Ich’ es merke?). Wenn ich schließlich meine Sportaktivitäten beendet habe, belohnt er mich, je nach Trainingsintensität und nach Tageszeit, mit einer tiefen und umfassenden Müdigkeit. Diese unterscheidet sich von der Erschöpfung, weil sie in sich eine Zufriedenheit vermittelt, die ich mit allen Fasern spüre. Ich weiß, dass ich mich dieser Müdigkeit nicht nur bedenkenlos hingeben kann, sondern ich mich hingeben möchte. Es ist ein Versprechen auf einen tiefen Schlaf und auf eine umfassende Erholung. Zweifelsohne, abseits der Couch und abseits der Trägheit offenbart der Körper seine thymotische Dimension.
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* An dieser Stelle der pädagogische Hinweis, dass man bestimmte Körpersignale keinesfalls überhören oder ignorieren sollte, insbesondere wenn etwa schmerzt. Beendet man dann die sportliche Aktivität nicht, können sich Verletzungen verschlimmern oder gar chronisch werden. Schwieriger wird es bei der Frage, inwieweit man seinen inneren „Schweinehund“ bis zur welchen Grenze überwinden sollte. Es gibt Marathonläufer, die sich zur finalen Verausgabung führen, weil sie kurz vor dem Ziel voller Euphorie die buchstäblich letzten Signale überhören und sich in den Tod laufen
30. September 2018