Bücher-Übrigkeiten 1: manchmal, jedenfalls …
Was bleibt von den gelesenen Büchern? Sind sie nützlich für das gewöhnliche oder gar das ungewöhnliche Leben? Was bleibt im "Geist" und für das Leben haften? Vermutungsweise: für das „wirkliche Leben“ – das vermutungsweise immer woanders ist - unmittelbar nicht viel, so man nicht ein Ratgeber-Buch erwischt hat, dessen Anweisungen man unverzüglich umsetzt. Andererseits würde die Fraktion der Ästheten- und Ästhetinnen-Fraktion darauf verweisen, dass es ist die unmittelbare und zuweilen nachhallende Lust beim Lesen selbst ist, die zum Leben hinzukommt, so dass zumindest der Buchkonsum keine Residualkategorie bildet.
Schließlich, so man sie nicht weggibt oder wegwirft, bleiben die Bücher natürlich als Gegenstand im Raum, meist in den eigenen vier Wänden, und damit in gewisser Weise auch übrig. Somit: ein Bücherregal eine Sammlung von Übrigkeiten.
Aber als Hegelianer, zu denen wir alle mal gemacht wurden*, muss man sich die Dinge natürlich aneignen, bzw. ‚der Geist`’ muss sich die Dinge aneignen, nicht zuletzt um die Widersprüche aufzuheben**. Unter post-modernen Vorzeichen ist dieser Vorsatz eine Art von Hybris, da – schon vor langer Zeit wurde uns das vermittelt – keine großen Erzählungen mehr existieren und die Signifikanz sich höchstens in Bruchstücken zu erkennen gibt, so man Glück hat. Es bleiben die Satz- und Ideenfragmente, die man aus den Buchseiten herausfischen, mit Klebezettelchen oder Anstreichungen markieren kann, um sie in andere Kontexte neu anzupflanzen, damit sie wachsen und zuweilen erblühen können.***
Also, ganz zufällig nach Jahren des einsamen Bücherregal-Dasein ist mir Christian Kracht: Faserland in die Hände gefallen. Ich weiß noch, dass mich das Buch, obwohl für meine Generation gemacht, damals unangenehm kalt gelassen hat. Das lag zum einen daran, dass das kulturelle Milieu der reichen, hochnäsigen, blasierten Internatsschüler (inklusive des Ich-Erzählers), die an Langweile und existentieller Leere leiden, wenig Identifikationsmöglichkeiten bot. Damit fiel der eine Pol der popkulturellen Dechiffrierungsmöglichkeit, wenn man Faserland – Fatherland, Faser, Fäden, Verwebungen, zerfasen, faseln – als postmoderne Popliteratur gelten lässt, weg.
Wenn das große JA der Popkultur, die Feier des Lebens durch Überschreitung und die Versicherung der eigenen Identität durch subtile Distinktionen, natürlich im Namen des wahren Lebens, nicht zugänglich wird, bleibt noch das große NEIN, d.h. der radikale Abgesang auf das So-Sein der Dinge. In Bezug auf Faserland liegt dieses Nein vielleicht in einer besonders vertrackten Form vor. Wenn man nicht davon ausgeht, dass es sich um eine rein beobachtende und oberflächliche Zeitgeistliteratur handelt, die sich mit seinen Protagonisten gemein macht, was bei der Klugheit des Autors schwer vorstellbar ist, so haben wir eine fast schon denunziatorisch zu nennende Literatur vor uns (in einem Interview spricht Kracht selbst von dieser Denunziations-Absicht; aber wer zahlt schon gerne auf das Wort des Autors ein), die uns Oberflächen-Menschen der unangenehmsten Art vor Augen führt, um uns für eine andere Art des Unbehagens an der Kultur zu sensibilisieren: Überdruss an einer gesättigten, aber sinnlosen Welt, bei gleichzeitiger Inanspruchnahme ihrer Annehmlichkeiten mit der schönen Voraussetzung, dass man sich diese Dekadenz auch leisten können muss.
Etwas verstörend an Faserland ist der Umstand, dass dieses So-schrecklich-wollen-wir-nicht-leben-Nein sich nicht auf die etablierte Welt der Elterngeneration bezieht, sondern auf eine Jugend, die doch dafür stehen sollte, neue Formen des JA und NEIN zu entwerfen, wie blödsinnig auch immer. Wenn der ‚Kern’ des Buches aus der Denunziation einer sinnlosen und abstoßenden Oberflächen-Dünkel-Jugend-Kultur bestehen sollte, ohne an irgendeiner Stelle den moralischen Zeigefinger zu heben, so gelingt das deshalb - jetzt also die These -, weil Kracht doch Teil dieser Kultur ist oder war und die Beschreibungen sich nicht nur der kühlen Distanz des teilnehmenden Beobachters verdanken, sondern einer gut verstauten Hass-Liebe. Ein bisschen Weltbindung, die zarte und treue Liebe zum Sein, waltet auch hier.
Jedenfalls - = an Vorangegangenes anknüpfend: nach, trotz dem, was vorher geschehen ist – wird mir Faserland als Jedenfalls-Buch in Erinnerung bleiben, was kein Zufall sein kann. Auf folgenden Seiten (insgesamt umfasst das Buch in dieser Ausgabe 158 Seiten) fängt ein Absatz mit "jedenfalls" an:
Seite 23
Seite 31
Seite 36
Seite 38
Seite 52
Seite 65
Seite 69
Seite 107
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Wer sucht, und ist das Lesen eines Buches nicht immer eine Suchbewegung, findet immer Dinge - vielleicht nicht die erhofften. Aber das macht, im Fall des Buches, seine Stärke und seine Schwäche aus.
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* Schon vor 40 Jahren benannte Botho Strauß dieses Problem wie folgt: “(Ohne Dialektik denken wir auf Anhieb dümmer; aber es muß sein: ohne Sie!)” Botho Strauß: Paare, Passanten; München / Wien 1988 (1981) S. 115
** Geist, an sich schon ein höchst problematischer Begriff – wer es verschnörkelt mag, dazu: Jacques Derrida: Vom Geist: Heidegger und die Frage. Frankfurt am Man, 1988. Des Weiteren: die Aneignung als Einverleibung hat natürlich einen kannibalistischen Zug; was man mag, ist nun ganz nah bei uns. Die Aufhebung ist zudem prozesshaft zukunftsorientiert – die Zukunft wird am Ende abgeschlossen, womit man sich auch die Zeit in gewisser Weise einverleibt. Wenn man zu Freud fortschreitet, heißt dort die Maxime „Durcharbeiten“: erst indem man der Vergangenheit nachträglich neue Zukunftsmöglichkeiten gibt, kann die Gegenwart sich breiter – zukunftsoffener - entfalten. Aneignen oder Durcharbeiten: das Material muss massiert werden.
*** So kann man zum Beispiel in der Stalin-Biografie von Simon Sebag Montefiore nicht nur erfahren, dass Stalin ein regelrechter Vielleser war und gute Literatur durchaus zu schätzen wusste (u.a. Wilde, Maupassant, Steinbeck, Hemingway, Tschechow, Hugo, Gogol, Balzac, Bulgakow, Zola, Goethe – Sebag Montefiore: S. 115 f.), sondern auch fleißig Anstreichungen und Anmerkungen vornahm: "Stalin war nicht nur der oberste Zensor, er genoss auch seine Rolle als Staatslektor, der endlos in Textvorlagen herumfuhrwerkte und nichts mehr liebte, als den Kommentar hinzukritzeln, der die Seiten seiner Bibliothek füllt - das höhnische Gelächter: 'Ha-ha-ha!'"
Simon Sebag Montefiore: Stalin: am Hof des roten Zaren, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 2006, S. 118
**** Christian Kracht: Faserland: Roman, München: Dt. Taschenbuch-Verl, 2014
31. Januar 2021