Corona-Zone
Wahrscheinlich kann man in einem (englischen?) Wettbüro noch Wetten darauf abschließen, ob das Leben nach der Corona-Pandemie noch dem Leben ähneln wird, das wir kannten. Die Ordnung der Dinge ist mächtig durcheinander geraten. Manche sprechen von einer Strafe Gottes für unseren frevelhaften Lebensstil, andere sehen lediglich den Zufall der Natur am Werke, fühlen sich aber durch den umfassenden Staatszugriff in ihrer Freiheit beschränkt, fürchten gar um die Fortschreibung dieser Kontrolle in die Nach-Corona-Zeit, um nur zwei Ordnungs-Unordnungszeichen herauszugreifen. Kontrolle und Kontrollverlust hin oder her, zumindest ist Lesezeit entstanden, womit die Frage auftaucht, ob viele Geschichten und Erzählungen nicht auch Krisengeschichten sind, in denen die Ordnung, die innere und/oder äußere, durcheinander gerät und die Protagonisten versuchen, wieder etwas Halt in der Welt zu finden oder etwas Halt in die Welt zu bringen?
Iris Wolff stellt in ihrem kleinen Erzählband "So tun, als ob es regnet: Roman in vier Erzählungen" (Salzburg Wien 2017) gleich zu Anfang einen Soldaten vor, der im 1. Weltkrieg in Siebenbürgen stationiert ist und dort die Post seiner Kameraden zensieren muss. Im Zuge dieser Tätigkeit klassifiziert er schließlich die Briefeschreiber wie folgt:
1. Selbstverkünder
2. Träumer
3. Trottel
4. Scheinheilige
5. Dichter
Die Typisierung dürfte weder umfassend sein, noch gehorcht sie objektiven Kriterien. Nichtsdestotrotz lässt jede (neue) Ordnung etwas (neues) sehen und wirkt zugleich in Bezug auf die weitere Wahrnehmung und das weitere Denken "figurierend" (im obigen Beispiel sind es Charaktereigenschaften bzw. spezifische Talente). Auch oder gerade wenn man darüber nachdenkt, ob nicht jede Ordnung einem fast unendlichem Möglichkeitsraum abgetrotzt ist (also der Entropie entgegen wirkt, auch wenn Unordnung wiederum kein guter physikalischer Begriff ist), liegt es in der Natur der Ordnung, dass aufgrund der "figurierenden Eigenschaften" andere Ordnungs- und/oder Kombinations- oder gar Auflösungsmöglichkeiten verdunkelt, verdeckt oder gar verunmöglicht werden.
Die Ordnung der Dinge wird immer dann fraglich, wenn zeitlich und/oder räumlich sich Ordnungen zersetzen, z.B. weil das "Ordnungsraster" mit Dingen konfrontiert wird, die nicht nur nicht in das Raster passen, sondern die "Logik" des Rasters sprengen. Oder wenn Ordnungen aneinanderstoßen, wie in einem Konflikt. Oder wenn es sich um Zonen handelt, in denen Grenzen und Ordnungen per se immer wieder unscharf werden und verschwimmen. Wo beispielsweise Meer und Land sich treffen, entsteht die Küste, die sicherlich ihre eigene Ordnung etablieren kann - oder sollten wir besser sagen (und wer könnte dies entscheiden): welcher wir eine eigene Ordnung geben könnten -, die aber immer wieder durcheinandergebracht wird und Überraschungen birgt.
"Fischkisten mit der Aufschrift >gestohlen in Whitehaven< oder >gestohlen in Castletownbere< (dabei sind die Kisten nur über Bord gegangen und angeschwemmt worden), Stücke abgedrundetes Treibholz, ein Platikpalmenzweig, eine abgetakelte Krebsreuse, eine verknäueltes, dreißig Meter langes Seil, Wasserflaschen voller Sand, vom Kopf gewehte Käppis, Pinsel ohne Borsten, Topfdeckel ohne Henkel, Eimer ohne Bolden, ein rosa Laufelefant, ein Stück Fangnetz mit einem einzigen Schwimmer daran und zu guter Letzt ein merkwürdiger, winziger Hexenhut."
Miek Zwamborn: Algen, Berlin 2019 (Matthes & Seitz Berlin), S.85
So also präsentiert uns Miek Zwamborn einige Strandschätze nach einem Sturm, wobei der letztgenannte Hexenhut sich auf eine Alge bezieht, dem eigentlichen Thema dieses poetischen und schön illustrierten kleinen Naturkundebuchs. In den Mischzonen lassen sich überraschend(e) Dinge finden, finden Überraschungen statt. Nicht von ungefähr ist das Meer und die Küste auch eine Metapher für das Unbewußte und für die Kreativität. So entstehen ganz neue Konstellationen und neue Ordnungsmuster werden vorstellbar.
Dies wiederum führt zu einem Buch, dessen Titel im Text schon weiter oben auftauchte: "Die Ordnung der Dinge" von Michel Fouault. Berühmtheit erlangten insbesondere zwei Passagen dieses Buches. Zum einen die Bildbeschreibung von "Las Meninas" (1656) von Diego Velázquez, ein wahrlich aufregend-verwirrendes Bild, anhand dessen Foucault virtuos das Wissenssystem der Repräsentation veranschaulicht und die Stelle im Vorwort, in der er Jorge Luis Borges zitiert. Dabei geht es um eine alte chinesische Enzyklopädie, die die Tiere in die folgende Ordnung bringt:
„a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese Gruppierung gehörende, i) die sich wie Tolle gebärden, j) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind, k) und so weiter, l) die den Wasserkrug zerbrochen haben, m) die von Weitem wie Fliegen aussehen.“
Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge; Frankfurt/M: 1994, S. 17
Der kurze Essay von Jorge Luis Borges, aus dem Foucault wiederum dieses Zitat entnommen hat, heißt "Die analytische Sprache John Wilkins'" - wobei besagter John Wilkins im 17. Jahrhundert lebte und versuchte eine universale philosophische Sprache zu entwickeln - und ist zudem erwähnenswert, weil es mit einem Zitat von G. K. Chesterton endet, in dem dieser sich davon überzeugt zeigt, dass das Schattierungsuniversum der menschlichen Seele nie und nimmer mit den Grund- und Krächzlauten entfaltet werden kann, die wir gemeinhin Sprache nennen. Nun, Foucault wählte aber nicht das Chesterton-Zitat, sondern das "chinesische Tierordnungsschema", um auf mehr oder minder ironische Weise einerseits auf die letztendliche Kontingenz aller Kategorisierungen hinzuweisen und andererseits - und dies betrifft den Kerngedanken der "Ordnung der Dinge" - in die Machtkonstellationen einzuleiten, die von den Wissenssystemen ausgehen und die sich wiederum in sie einschreiben.
Um auf unsere eingangs erwähnte Krisenkonstellation zurückzukommen, könnte man beispielsweise fragen, ob die Hegemonie des medizinischen (hier des medizinische-virologischen) Diskurses - und dies ist ein Thema mit dem sich Foucault ausgiebig beschäftigt hat - nicht aufgrund seiner Mächtigkeit im Sinne seiner Möglichkeiten (Leben retten) besteht , sondern durch das "Primat des nackten Lebens" getragen wird, von der Idee, dass das Leben (ohne den Kontext des sterblichen Lebens weiter zu betrachten), an sich ein hoher, wenn nicht der höchste Wert ist, dem sich alles andere unterzuordnen hat. Insofern entbehrt es nicht einer gewissen Komik, wenn man "der" Ökonomie, die wagt, dieses Primat in Frage zu stellen, der Menschenverachtung bezichtigt. Mag jede Ökonomie auch im Namen des "stumpfen" (und auch nackten) Lebens, das heißt im Sinne der Reproduktion funktionieren, so waltet doch uranfänglich immer ein Überschuss in ihr, der das Leben (auch) transzendiert (Man kann diesen Überschuss auch Kapital nennen, wobei jeder Marxist natürlich dies erst ab einer bestimmten Produktionsweise für zulässig erklären würde, und seine Schlüsse daraus ziehen, was aber nicht bedeutet, dass man damit das Kapital der Ökonomie erschöpft hätte).
Betrachtet man die Antworten auf die Krise, so muss man zu dem Schluss kommen, dass es keine wirklichen Antworten sind. Die Kontingenzbewältigung besteht darin, nicht Antworten auf neue (und alte) Fragen zu suchen, sondern die Kontingenz so schnell wie möglich verschwinden zu lassen, um zur alten Ordnung zurückkehren zu können (Ausbreitung verringern, Medikamente und Impfung entwickeln; weiter wirtschaften). Die Unterdeckung an "Sinn" taucht in umgekehrter Form bei all denjenigen auf, die lieber an abstruseste Verschwörungstheorien und strafende Götter glauben, also an bewährte und glaubensgesättigte "Ordnungen", als an unsere Existenz, das heißt an das Rendezvous unseres Lebens mit der Freiheit. Das die Corona-Krise auch eine Zone ist, davon zeugt ein neuer enzyklopädischer Eintrag, der in gewisser Weise aus einem weiteren Essay von Jorge Luis Borges stammt, diesmal zu finden in seiner "Bibliothek von Babel":
- Menschen mit Fieber und mit Husten
- Menschen, die sich selbst die Haare schneiden
- Menschen, die nicht mehr oder nur von zu Hause arbeiten
- Menschen mit Mundschutz
- Menschen die Corona hatten, aber nicht getestet wurden
- Menschen über 63 Menschen, die Rauchen und sich vegetarisch ernähren
- Menschen die Angst vor Corona haben
- Menschen die in diesem Jahr gestorben sind
- Menschen die falsch geschrieben wurden
30. April 2020