Das Ding im Streit
Es gibt Tage, da möchte ich den ganzen Zivilisationsmüll einfach hinter mir lassen. Ich gehe auf die Suche nach einer entschlackten Ruhe, die nicht müde, sondern aufmerksam macht und mich gelassen durch den Tag trägt. Nehme ich ein Buch zur Hand, stellen sich solche Momente zuweilen ein. Die Dinge beruhigen sich, manchmal nur für kurze Zeit, bevor ein Überschuss oder ein Mangel wieder Bewegung in die Sache bringt. Und dann suche ich nach einem Buch, das genau diese Bewegung durchdenkt, sie von einer anderen Seite beleuchtet und neu austariert. Kein Geheimnis auch, dass man sich oftmals von fremden Weltzugängen mehr verspricht, als von den schon bekannten. (begleitet von der Ahnung, dass die Frage des Zugangs und die Frage des Denkens mitten in die hier verhandelte Problematik führt). Vielleicht gab es mal eine Zeit, in der der Begriff der 'erbaulichen Lektüre' diesen Sachverhalt ironiefrei zum Ausdruck bringen konnte.
Zweifelsohne versprechen von Zeit zu Zeit die fernöstlichen Zugangsweisen und Lektüren mehr Verheißungen als westliche Praktiken: Lieber Yoga als Bodybuilding, lieber Meditation als Gehirnjogging, lieber ein "Buch vom Tee" als ein Buch zu den Grundlagen der Chemie. So führt Kakuzo Okakura in seinem Teebuch den Leser nicht zur Fülle der (Tee-)Welt, sondern verweilt zum Beispiel bei dem taoistischen Gedanken der Raumgebung, der das Wesentliche nicht im physischen Vorhandensein eines Dinges zu fassen sucht.
"Der Nutzen eines Wasserkrugs liege im Hohlraum, der mit Wasser gefüllt werden kann, nicht in der Form des Kruges und auch nicht im Material, aus dem der Krug hergestellt ist."
Kakuzo Okakura: Das Buch vom Tee; Köln, 2011 (1906); S. 40
Nun geht es hier zunächst um einen Nutzen und um den Hohlraum des Kruges, aber weiter gedacht auch um den Horizont einer Leere und Offenheit. Der in Deutschland lehrende Philosoph Byung-Chul Han spricht in seinem Buch "Philosophie des Zen-Buddhismus" von der Leere als einen unsichtbaren Atemraum der Formen. Bekanntlich setzt das abendländische Denken hingegen mehr auf die Anwesenheit, auf die Präsenz und Geschlossenheit der Dinge. Das Wirkliche ist gerade jenes, was sich als Substanz jeder Veränderung entzieht oder auch jeder Veränderung als Unveränderliches zu Grunde liegt.
Nicht von ungefähr hat sich auch Martin Heidegger, einer der Anti-Präsenzdenker schlechthin, mit dem Ding auseinandergesetzt, wobei nicht ausgeschlossen ist, dass er in Bezug auf seine 'Motivwahl' von einem östlichen Denken inspiriert wurde. Denn in seinem berühmten Ding-Aufsatz von 1951 geht es zunächst, man ahnt es schon, um den Krug:
"Doch was ist ein Ding? (...) Ein Ding ist der Krug? Was ist der Krug?"
Heidegger, Martin: Das Ding, in: Vorträge und Aufsätze; Pfullingen 1954 (1951), S. 164
Für Heidegger reduziert der Sprachgerbrauch der abendländischen Metaphysik das Ding und damit auch den Krug, auf etwas, das "überhaupt und irgendwie ist", d.h. auf das Seiende. Dagegen spinnt Heidegger in einer poetische-denkerischen Weise das Ding, konkret hier den Krug, in ein Bezugs- und Bedeutungsgeflecht ein, legt Bedeutungsschichten an und frei, durchaus auch anknüpfend an die weiter oben zitierte Teestelle:
"Die Leere ist das Fassende des Gefäßes."
Heidegger, Martin: Das Ding, in: Vorträge und Aufsätze; Pfullingen 1954 , S. 167
Und weiter heißt es bei ihm:
"Im Schenken des Gusses west das Fassen des Gefäßes."
Heidegger, Martin: Das Ding, in: Vorträge und Aufsätze; Pfullingen 1954 (1951), S. 170
Das Geschenk des Gusses versammelt dabei Erde und Himmel, die Göttlichen und die Sterblichen, wobei die Zusammegehörigkeit dieser Momente die Einheit der Vier, das Geviert vereignet.
"Das Ding verweilt das Geviert. Das Ding dingt Welt. Jedes Ding verweilt das Geviert in ein je Weiliges von Einfalt der Welt."
Heidegger, Martin: Das Ding, in: Vorträge und Aufsätze; Pfullingen 1954 (1951), S. 179
Im Rahmen der hier vorgenommenen (Ver-)Kürzung mögen sich die Heideggerschen Denkausschnitte wie DaDa-Philosophie ausnehmen - warum auch nicht -, so man nicht vergisst, wie präzise Heidegger - auch mit Bezug auf andere Philosophen - denkt*.
Gut, halten wir mehr proklamierend als nach-denkend fest, dass Heidegger das Ding und den Krug aus den Fängen eines präsenzbehafteten her- und vorstellenden Denkens lösen möchte, eines Denkens, das Dinge zum Stand bringt und nur die so stehenden Dinge gelten lässt (Geltung also nur für das, was der Fall ist; die Nähe zum Phallus ergibt sich nicht nur unter DaDa-Gesichtspunkten).
Die hier fast bis zur Erbaulichkeit herbeizitierten Dinge haben jedoch, wer hätte es gedacht, eine Kehrseite, die relativ früh in der Geschichte auftaucht.
"Das Weib aber trug in den Händen ihr Geschenk, ein großes Gefäß mit einem Deckel versehen."
Schwab, Gustav: Sagen des klassischen Altertums; Köln 2011 (1838), S. 20
Das Weib hieß Pandora und bekanntlich entflog dem Gefäß, dem Pithos, also einem Tonkrug, eine Schar von Übeln, wo doch die Geschlechter der Menschen bis dahin übelfrei auf Erden wandeln durften (und nur, weil Promotheus Zeus hintergangen hat). 'Alles Gute kommt von oben' gilt also nur eingeschränkt, sofern in der Büchse als letzte Zutat immerhin die Hoffnung enthalten war. Das Verhältnis Götter-Sterbliche darf also keineswegs als ein permanent harmonisches verstanden werden. Zumindest kann mit Bezug auf Pandora den oben zitierten Heidegger-Satz "Im Schenken des Gusses west das Fassen des Gefäßes" nicht eine gewisse Dramatik und/oder Komik absprechen**.
Wo Zwietracht gesät wird, wo Streit ausbricht, ist es mit dem "Dingen", sozusagen das handelnde Wesen des Dings, als "versammelnd-ereignenden Verweilen", Stichwort Nähe, zumindest schwierig. Interessanter Weise gibt es in dem Ding-Aufsatz eine Passage über die Bedeutungsgeschichte der Wörter Ding, res, causa, coa, chose, thing, wo Heidegger das Ding als Angang und Angelegenheit beleuchtet, und zwar als eine Sache, die alle angeht (res publica), die öffentlich verhandelt wird, ja als ein Streitfall. Allerdings bügelt er diesen Bedeutungsstrang relativ schnell wieder ab, indem er den ursprünglich römisch erfahrenen Angang als unzureichend kennzeichnet, da das Wesen des Anwesenden verschüttet bliebe. Aber ist nicht der Streitfall, als ein Ding das angeht, nicht ebenfalls die Öffnung zu einem "(Noch-)Nicht-Seienden"? Befreit der Streitfall die Dinge nicht aus ihrer Eindimensionalität, lässt er nicht auch Verluste spüren, also den Entzug des Dings / der Dinge?
"Frau Marthe
:
Seht ihr den Krug, ihr wertgeschätzten Herren?
Seht ihr den Krug?
Adam:
O ja, wir sehen ihn.
Frau Marthe:
Nichts seht ihr, mit Verlaub, die Scherben seht ihr;
(...)"
Kleist, Heinrich von: Der zerbrochne Krug; 1811, Siebenter Auftritt
"Der zerbrochene Krug" von Heinrich Kleist dreht sich bekanntlich um Begierde, Korruption, Hochmut, Erpressung, Recht und Gerechtigkeit. Der zerbrochene Krug kann vor allem als Anspielung auf die mögliche verlorene Unschuld der Protagonistin Eve verstanden werden (fußend auf der damals gängigen Analogie zwischen dem Krug und der Gebärmutter). Daneben hat der Krug noch eine buchstäbliche, nun im zerbrochenen Zustand nicht mehr sichtbare Geschichte zu erzählen, die von Eves Mutter Marthe ausführlich geschildert wird, nämliche die der niederländischen Provinzen.
So "sind" die Dinge auch: Geschichte ist immer auch Verlust-Geschichte (wobei der Verlust die Nähe zu dem Ding durchaus befördern kann) und Gerechtigkeit immer auch ein Ding im Kommen. Genauso wie die Ruhe.
-----------------------------------------------------------------------------------------
* Wer's nicht glaubt, möge Heidegger lesen. Byung-Chul Han, der dies sicherlich gründlich getan hat, kommt am Ende seiner Auseinandersetzung über die Leere zu der Vermutung, dass trotz der Parallelen zwischen Zen und Heidegger in dieser Frage, letzterer doch einen metaphysischen Haftgrund oder besser Hafthimmel beibehält. Die Welt, so Byung-Chul Han, ist bei Heidegger nicht wirklich leer, da sie noch auf Gott verwiese, also um eine verborgene theologische Achse kreisen würde. Das dafür hinzugezogene Zitat stammt allerdings, für den Leser nicht kenntlich, aus dem Aufsatz "... dicheterisch wohnet der Mensch ...". In dem Ding-Aufsatz spricht Heidegger von den Göttlichen und den Sterblichen, nutzt also in beiden Fällen den Plural. Davon abgesehen müssten man an dieser Stelle wahrscheinlich den Fragen der Begegnung, des Anspruchs und des Zuspruchs nachgehen.
** Zumindest erwähnenswert in diesem Zusammenhang, ist quasi die Umkehrung der Gottesfrage im Namen des Kruges. Allerdings entsteht dadurch weniger ein prometheushaftes Aufbegehren - Ich dich ehren? Wofür? -, sondern eine mehr melancholisch eingefärbte lose-lose-Situation:
"Was wirst du tun Gott, wenn ich sterbe?
Ich bin dein Krug (wenn ich zerscherbe?)
Ich bin dein Trank (wenn ich verderbe?)
Bin dein Gewand und dein Gewerbe,
mit mir verlierst du deinen Sinn.
(...)
Was wirst du tun, Gott? Ich bin bange. "
Rilke, Rainer Maria: Als du mich einst gefunden hast. Die schönsten Gedichte; Köln 2016 (1899), S. 43
29. März 2018