Das Gewissen am Tag des Herrn
Als junger Mensch gab es eine kurze Phase, in der ich als Messdiener Sonntags meinen Dienst versah. Heute gehe ich Sonntags nicht in die Kirche, sondern lese, so das Wetter mitspielt, meist ein Buch; öfters werfe ich auch einen Blick in verschiedene Bücher. Die Denktagebücher von Hannah Arendt sind als Zwischenlektüre dankbar. Man kann kreuz und quer blättern, die Länge der Einträge ist meist überschaubar, etwas Interessantes findet sich immer. Manchmal fügen sich Dinge, ganz zufällig (was in diesem Fall kurios ist, weil ich zunächst einen Text über den Zufall schreiben wollte). Und zwar steht dieser Zu-Fall im Zusammenhang mit dem Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche, der schon länger schwelt und in den letzten Wochen wieder verstärkt in den Medienfokus rückte. Vor allem die Unfähigkeit der Kirche sich zu einer wirklichen Aufklärung durchzuringen, ist ein großer Skandal und eine Verhöhnung der Opfer.
Inzwischen gibt es sogar einen eigenen Wikipedia-Eintrag zu dieser Sache ( https://de.wikipedia.org/wiki/Sexueller_Missbrauch_in_der_r%C3%B6misch-katholischen_Kirche_in_Deutschland ). Das Internetportal der katholischen Kirche informierte vor einigen Jahren über das Ausmaß des Dramas und schrieb von "insgesamt 3.677 Opfer, die von mindestens 1.670 Priestern und Ordensleuten in den Jahren von 1946 bis 2014 missbraucht wurden." ( https://www.katholisch.de/artikel/18889-spiegel-3677-falle-von-missbrauch-durch-geistliche ). Die Dunkelziffer wird hoch sein. Aber selbst wenn man die genauen Zahlen letztendlich nie erfahren wird, reichen schon diese Eckdaten, um fassungslos auf dieses Desaster und den fehlenden Aufklärungswillen zu blicken.
Auch in Bezug auf die Ursachen des Mißbrauchs wurden Studien in Auftrag gegeben. Ergebnis: berufliche Krisen, Gefühle der Einsamkeit, soziale Isolation, eine Nähe-Distanz-Problematik, sehr selten Pädophilie (Norbert Leygraf, psychiatrische Studie im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz 2012). 2014 wurde eine weitere Studie unter Leitung von Harald Dreßing ebenfalls von der Deutschen Bischofskonferenz in Auftrag gegeben. Hier kam man zu dem Schluss, dass Strukturen der katholischen Kirche den sexuellen Mißbrauch begünstigen, als da wären: klerikale Macht, Zölibat, Umgang mit Sexualität, insbesondere Homosexualität, Sakrament der Beichte (alle Angaben sind dem erwähnten Wikipedia-Eintrag entnommen: https://de.wikipedia.org/wiki/Sexueller_Missbrauch_in_der_r%C3%B6misch-katholischen_Kirche_in_Deutschland ).
Nun zu den Denktagebüchern von Hannah Arendt. Dort sind einige Einträge bezüglich des Gewissens zu finden, wobei sie sich mit dem Gewissen auch an anderer Stelle in ihrem Werk, zum Beispiel in ihrem Eichmann-Buch (1964) oder in dem Aufsatz "Über den Zusammenhang von Denken und Moral" (1971, zu finden in: Hannah Arendt: Zwischen Vergangenheit und Zukunft: Übungen im politischen Denken I. München, 1994) auseinandersetzt. In den Denktagebüchern, es ist ein Eintrag aus dem Jahre 1953, spricht sie davon, dass es ohne Einsamkeit kein Gewissen geben kann, "weil das Mit-mir-selbst-Übereinstimmen sich ja nur in der Zwiefalt und Zwie-tracht der Einsamkeit realisieren kann." (Hannah Arendt: Denktagebuch: 1950 bis 1973. München 2002, S. 443). Arendt weist darauf hin, dass die Maßstäbe des Gewissens nicht in der Einsamkeit gedeihen, sondern weltlicher Natur sind, wie zum Beispiel Mut und Ehre. Man könnte zum Beispiel auch die Gerechtigkeit hinzufügen.
Indem ich mein Gewissen befrage, gleiche ich mich und meine Handlungen mit den Maßstäben ab, die in der Welt existieren. Die Maßstäbe existieren, um eine gemeinsame und sinnvolle Welt bewohnen zu können und mein Gewissen existiert (so es existiert), um meine Handlungen an diese Welt anzugleichen oder mit meinen Handlungen die Welt mit Bezug auf diese Maßstäbe besser zu machen. Wenn man so will, ist dieser Denkvollzug des Mit-mir-selbst-Übereinstimmens in zwiefältiger Auseinandersetzung das Gewissen. Der nächste Absatz im Denktagebuch lautet nun:
"Die erste Macht, welche das Gewissen aus der Welt schaffte, war die Religion, und zwar nicht wegen ihrer dogmatisch-tyrannischen Maßstäbe, sondern weil der wirkliche 'homo relegiosus' die Einsamkeit nicht kennt; er ist, sobald er allein ist, mit Gott, nicht mit sich selbst zusammen. (...) Er gehorcht Gott, nicht wie man seinem Gewissen 'gehorcht', sondern wie Menschen eben Anderen gehorchen, seien die Anderen Menschen oder Engel."
Hannah Arendt: Denktagebuch: 1950 bis 1973. München 2002, S. 444
Die von Arendt hier beschriebene Abschaffung des Gewissens muss und kann nicht als Gewissenlosigkeit im Sinne der Gleichgültigkeit gegenüber dem Bösen verstanden werden. Es geht ihr um die Unstrittigkeit des Gehorchens, das von Arendt scheinbar als eine Art Weisungsbefugnis verstanden wird. Wenn Gott mir befiehlt, weder an andere Götter zu glauben, noch zu töten, noch zu stehlen usw., so bedarf dies keiner weiteren Gewissensbefragung. Ganz im Gegenteil werden solche Handlungsweisen als moralisch hochwertig geschätzt. Und gibt es nicht wiederum unzählige Beispiele, in denen Priester zum Teil unter Einsatz ihres eigenen Lebens anderen Menschen geholfen haben?* Nichtdestotrotz steht Arendt ‚extern‘ legitimierten Handlungsnormen, z.B. auch solchen, die aus einer Funktionslogik oder einer Ideologie folgen, und seien sie auch noch so gut gemeint, skeptisch gegenüber. Ohne das Arendt diesen Gedanken an dieser Stelle weiter ausführt, folgt er doch aus ihrem politischen Denken, das man in diesem Zusammenhang vielleicht wie folgt fortschreiben kann: wenn die Welt strittig ist und ich ein Teil dieser Welt bin, dann muss sich diese „Welt-Strittigkeit“ auch in meinem Inneren öffnen, gerade wenn es um mich in der Welt oder um die Welt, die um herum ist, schlecht bestellt ist. Trotzdem hat der liebe Gott von seinen Priestern nicht verlangt, Schutzbefohlene sexuell und emotional zu mißbrauchen.
Sicher nicht; was passiert aber, wenn in einem religiösen Kontext die eigene Innerlichkeit und die eigene Körperlichkeit mit ihren Ansprüchen, Sehnsüchten und Zweifeln mit einer Welt in Berührung kommen, die nicht allumfassend mit vorgezeichneten Geboten versehen ist. Hier scheint mir der arendtsche „Welt-Gedanke“ insofern interessant, als dass man mit Blick auf den Mißbrauchsskandal vermuten könnte, dass sich das priesterliche Denken auch hier nicht an weltlichen Maßstäben orientiert hat, um mit sich selbst in Zwietracht zu geraten. Vielmehr liegt es nahe, dass die eigene 'Not' mit Gott bilateral verhandelt und die Schuld des eigenen Handeln Gottes Gnade anvertraut wurde.** Religiös gedacht ist Gott mir immer schon voraus und kennt nicht nur meine Handlung, sondern auch meine Intention und meine Schwäche. Er kann nicht nur Strafen, sondern auch Verzeihen. So gesehen, handelt es sich um eine eigenartige priesterliche Zwiesprache mit Gott. Denn Gott ist dabei zugleich in der Position des Zeugens, des Richters, des Vergebers und des Trösters. Insofern kann man ihm weder folgen, noch gehorchen, noch widersprechen, weil hier kein Maßstab existiert, der Orientierung böte. Man begibt sich in Gottes Hand. Während das Gewissen auf die Welt mit ihren - wie auch immer gearteten - Maßstäben rekurriert, steht Gottes Urteil über meine Handlungen aus, solange ich lebe, bis ich sterbe.
Weiterhin fördert das Zusammenspiel von Entweltlichung, die im Zölibat in Bezug auf den Körper bewußt vorangetrieben wird (zusammen mit der restlichen Sexualmoral), und den aus dieser Entweltlichung folgenden übergriffigen Handlungen vermutungsweise nicht die Sensibilität für die Verletzlichkeit der anderen Person und stärkt auch nicht das Gefühl für die Fragilität der Welt. Und wenn in letzter Konsequenz nach christlicher ‚Logik‘ nur Gott zu einer gerechten Strafe ‚fähig und befugt‘ ist, verliert auch die weltliche Gerichtsbarkeit und die weltliche Strafe als ‚welt-erhaltende‘ Instanz ihren Wert.
Soweit ich sehe, ist Arendt später nicht nochmals auf die ‚religiöse Gewissenslosigkeit‘ zurückgekommen. Man kann nur darüber spekulieren, warum sie diese These nicht aufgegriffen hat. Skandalbefürchtungen, theoretische Zweifel? Wie das Zitat zeigt, hat Arendt die religiöse Gewissenslosigkeit mit dem Gehorchen begründet. Man könnte, wie hier versucht, noch andere Aspekte hinzuziehen, wie zum Beispiel den göttlichen Gnadenaspekt, mit dem sich die weltliche Seite eines Unrechtes leichter überspringen lässt. Sicherlich gibt es auch einen Unterschied zwischen dem Judentum und dem Christentum. Letzteres hat mit dem Liebesgebot die ‚religiöse Gewissenslosigkeit‘ einerseits entschärft, andererseits durch die transzendentale Rückkopplung aber auch die Tür für eine maßstabslose Innerlichkeit geöffnet.***
Was man sagen kann, ist, dass Arendt dem Dreiklang von ‚Denken - Einsamkeit - Weltbezug‘ den Vorzug vor der Trias ‚Glauben - Zweisamkeitstranszendenz - Gottesbezug‘ gegeben hat. Zumindest den Opfern wäre mit einer Besinnung der Kirche auf die weltlichen Gegebenheiten und auf das weltliche Gewissen (im eigentlichen Sinne ein politisches Gewissen) mehr geholfen, als mit der impliziten Annahme der noch ausstehenden göttliche Gerechtigkeit. Oder um Arendt zu paraphrasieren: mehr Denken, weniger glauben - mehr handeln, weniger beten.
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* Die einschlägigen Bibelstellen zur Beziehung: Gott <> weltliche Macht sind bekannt und fordern nicht unbedingt zur Einmischung in weltliche Angelegenheiten auf: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt.“ (Joh. 18, 36). "Da sprach Jesus zu ihnen: Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!" (Mark. 12, 17). Aber ‚die‘ Kirche hat dazu auch verschiedene Antworten gegeben.
** Bestimmt gibt es unter den ‚gefallenen‘ Priestern genügend Zyniker sowie (selbst)gerechte Sadisten, für die der Gottesaspekt nicht ‚zählt‘. Während der gottesgläubige und in ‚Not‘ geratene Priester mit seinem Unrecht sich zwar noch weiter von der Welt entfernt, aber mit seiner Schuld von Gott gesehen wird, haben die ersteren sich von Gott und der Welt verabschiedet. Letzteres nennen manche auch das Böse.
*** Im Unterschied zu einer ‚Immanenz-Ideologie‘, die in ihrer Buchstäblichkeit und Konsequenzhaftigkeit kein Halten kennt, hat die Religion mit ihren Vertikalbezügen und ihren ethischen Ansprüchen zweifelsohne nicht das Ziel der systematischen Vernichtung ihrer ‚Gegner‘. Trotz aller ‚Kreuzzüge‘ und ‚Inquisitionen‘ ist dieser Unterschied kein marginaler.
26. Februar 2022