Dem Zufall begegnen
Nicht zufällig ist vieles im Leben zufällig. Ob Assoziationsketten auch dazu gehören? Ich erinnerte mich, dass es ein Paul Auster-Buch gibt, das den Zufall im Namen trägt und in dem ich einige Stellen markiert hatte. Und natürlich spielt der Zufall in diesem Buch eine Rolle, so auch bei dem Protagonisten der Geschichte:
"Einige Wochen las er fast nichts. Dann nahm er eines Abends Ende November ein Buch von William Faulkner in die Hand (Schall und Wahn), schlug es irgendwo auf und stieß mitten in einem Satz auf folgende Worte: <<... bis er eines Tages im tiefsten Überdruss alles auf eine Karte setzt ...>>."
Paul Auster: Die Musik des Zufalls: Roman. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1992, S. 237
Daraufhin habe ich auch das Faulkner-Buch aufgeschlagen, es gibt in ihm keine Markierungen, um Folgendes zu lesen:
"Die Schatten auf der Straße waren so reglos, als wären sie mit einer Schablone aufgezeichnet, mit den schrägen Stiften der Sonne."
William Faulkner: Schall und Wahn: Roman ; mit einer Genealogie der Familie Compson. Diogenes-Taschenbuch. Zürich, 2008, S. 123
Kann man gleich eine schöne Metaphernwelt aufmachen: Wir alle sind Schatten – oder mehr platonisch: das, was wir als wirkliche Welt wahrnehmen, sind nur die Schatten der Dinge (und hatte ich nicht letztens einen aufschlussreichen Text gelesen – von wem nur? –, in dem es um die verdrehte Rezeption dieser Schatttengeschichte ging? Vielleicht finde ich ihn zufällig wieder).
Wir alle leben in Zufälligkeiten. Zufälligkeiten der Vergangenheiten, der Gegenwart und der Zukunft. Unsere Herkunft ist kein Resultat einer Abstimmung, unsere Zukunft größtenteils ungewiss und die Gegenwart ereignet sich in eigenartigen Windungen. Es bedarf schon großer metaphysischer Anstrengungen und / oder großer verschwörungstheoretischer Windungen, aber konvertiert nicht beides, um diesen Zufall negieren zu können. Ein Beispiel:
"Die Beobachtung der Welt zwingt uns, von einem Kosmos zu sprechen und jegliche Zufälligkeit auszuschließen. (...) Wenn der Kosmos aber eine geordnete Einheit darstellt, dann muss auch überall die gleiche Gesetzmäßigkeit herrschen, im Großen wie im Kleinen, wie oben, so unten."
Thorwald Dethlefsen:Schicksal als Chance: das Urwissen zur Vollkommenheit des Menschen. München: Goldmann, 2006, S. 34
Sollte es keinen Zufall geben, so hat das Schicksal entschieden, mich nicht an dieser Erkenntnis teilhaben zu lassen – also in aller Notwendigkeit. Aber vielleicht hat das Schicksal mir auch damit eine Chance gegeben. Was also bedeutet der Zufall? Robert Anton Wilson schlägt zur Erforschung des Denkens das folgende Experiment vor:
"1. Denken Sie so intensiv wie möglich an ein normales 10-Pfennig-(Cent sb)-Stück und stellen Sie sich vor, sie würden eine solche Münze auf der Straße finden. Jedesmal wenn Sie spazierengehen, suchen Sie auf der Strasse nach ihr und versuchen Sie auch weiter, ihr Bild stets vor Augen zu haben. Warten Sie ab, wie lange sie brauchen, um ein solches 10-Pfennig-Stück zu finden."
Robert Anton Wilson: Der neue Prometheus: Die Evolution unserer Intelligenz. Kreuzlingen München: Hugendubel, 2003, S. 23
Er schlägt dann 2. vor, den Fund durch eine selektive Wahrnehmung zu erklären und weiter zu suchen. 3. Soll man sich von der Hypothese leiten lassen, dass das Gehirn alles beeinflusst und dann ebenfalls weitersuchen. 4. soll man die Zeit messen, die zum Auffinden des Geldstückes benötigt wird, und zwar sowohl nach der zweiten als auch nach der dritten ‚Methode‘. 5. Soll man ähnliche Experimente ausführen und beide Theorien vergleichen: selektive Wahrnehmung (Kontrolle) versus Kontrolle durch das Gehirn (Psychokinese).
Wenn wir nicht auf unsere psychokinetischen Fähigkeiten vertrauen, so ist es die selektive Wahrnehmung, die den Zufall zwingt zu verschwinden, ihn gleichsam als Zufall auslöscht. Unser Wille zur Bedeutungsfindung, der mit der selektiven Wahrnehmung verknüpft ist, sorgt dafür, dass bestimmte Ereignisse aus den Zufallskontinuum herausgehoben und ausgegliedert werden. Wir sehen einen schwarzen Raben, danach eine schwarze Katze und es ist Freitag der dreizehnte. Am gleichen Abend stirbt eine uns vertraute Person. Kann das Zufall sein? Etwas anders liegt der Fall bei Sigmund Freud, der in seiner Untersuchung „Zur Psychopathologie des Alltaglebens“ darauf hinweist, dass viele der zufälligen Dinge, die uns widerfahren, nicht so zufällig sind, wie sie scheinen:
“Untersucht man die scheinbar willkürlich gebildete, etwa mehrstellige, wie im Scherz oder Übermut ausgesprochene Zahl, so erweist sich deren strenge Determinierung, die man wirklich nicht für möglich gehalten hat.”
Sigmund Freud: Zur Psychopathologie des Alltaglebens; Frankfurt/M: 1969 (1904); S. 190
Die scheinbare Zufälligkeit verdeckt dem Bewusstsein, dass unser Unbewusstes unermüdlich bei der Arbeit ist. Man kennt den sprichwörtlichen Freudschen Versprecher, der eine Wahrheit offenbart, die uns – im Angesicht des/der Anderen – in seiner Offenheit unangenehm ist. Demnach determiniert unser Unbewusstes uns auch dort, wo wir uns im Vollbesitz unserer Entscheidungsfreiheit wähnen oder lediglich eine bedeutungslose Zufälligkeit sehen möchten. Selbst ein Unfall kann seine zufällige Unschuld verlieren, wenn er im zum Beispiel im Dienst einer unbewussten Selbstschädigung steht. Andere Fehlleistungen ließen sich hier anschließen. Doch heißt das nicht, dass das Unbewusste die Totalität unseres Lebens determiniert. Der Zufall wird hier nur partiell in Anspruch genommen, um im Dienste einer verdeckten Macht bestimmte Konflikthaftigkeiten zu vermeiden. So könnte zumindest eine Lesart lauten. Andererseits: gibt es vielleicht einen Willen zum Sinn (s.o.), der nachträglich noch den zufälligsten Begebenheiten seinen Stempel aufzudrücken vermag. Aber die Dinge beginnen hier verwickelt zu werden. Denn ebenso wie ein scheinbar zufälliger Unfall das unbewusst herbeigeführte Resultat einer Selbstschädigung sein könnte, ist es umgekehrt nicht abwegig, wenn zum Beispiel ein wirklich zufälliger Unfall, bei dem beispielsweise Menschen zu Tode kommen, von einem Überlebenden sich selbst schuldhaft zugerechnet wird. In Bezug auf unsere Deutungsmuster gilt also: Was zufällig wirkt, ist unter Umständen gar kein Zufall, und was nach einer selbstverursachten Angelegenheit aussieht, oder einer Begebenheit, die uns adressiert, ist vielleicht ein reiner Zufall.
Was man zumindest festhalten kann, ist die Verantwortungslosigkeit, die mit dem Zufall einhergeht. Was einem zufällig widerfährt oder was sich zufällig ereignet, ermangelt einer Ursache oder einer tieferen Bedeutung. Das gilt für die Dachpfanne, die sich zufällig löst und einen ahnungslosen Passanten auf den Kopf fällt, genauso wie für die Lottozahlen, die gezogen werden und einige Gewinner und sehr viele Verlierer hervorbringen. Dabei ist es keineswegs so, dass sich aus diesen Zufälligkeiten nichts Bedeutsames ergeben könnte – der Dachpfannenunfall oder der Lottogewinn zeigen dies. Nur schwindet die Zurechenbarkeit dieser Wirkung ins Nebulöse. Vielleicht wird man herausfinden können, dass die Dachpfanne durch einen Pfusch am Dach ins Fallen kam und die Ziehung der Lottozahlen manipuliert wurde. Das wäre die schon besagte Rückabwicklung des Zufalls, hin auf eine Ursache, auf eine Verantwortung. Aber ist der Zufall intakt, arbeitet er so nicht. Um den Zufall näher zu kommen, eignet sich allenfalls die Wahrscheinlichkeit. Trägt man genug ‚verwandte‘ Zufallsereignisse zusammen und definiert ihre Voraussetzungen, kann man den Zufall zwar nicht eliminieren, aber doch abschätzen. Unter idealen Bedingungen wird ein Münzwurf mit fünzigprozentiger Wahrscheinlichkeit die Kopfseite zum Ergebnis haben, was nichts daran ändert, dass die hundertmalige Wiederholung dieses Wurfes ganz zufällig hundertmal die Zahlseite zum Ausgang haben kann. Die Wahrscheinlichkeit lässt sich in diesem Fall auch ziemlich einfach berechnen (mit einer ähnlichen Operation wird übrigens aus einer unabsehbaren Gefahr ein kalkulierbares Risiko. Siehe: Niklas Luhmann: Soziologie des Risikos. Berlin ; New York: W. de Gruyter, 1991).
Demnach ist der Zufall auch eindeutig vom Wunder abzugrenzen. Denn ein Wunder transzendiert die Möglichkeitsbedingungen unseres Seins, während der Zufall, also der säkularisierte Bruder des Wunders, nur aufgrund seiner Unwahrscheinlichkeit auf sich aufmerksam macht. Und auch hier gilt: Während das Wunder zwar ebenfalls keine wirkliche Ursache im wissenschaftlichen Sinne vorweisen kann, zwingt es uns aber ob seiner überwältigenden Außergewöhnlichkeit an eine höhere Macht zu denken, wenn nicht gar an sie zu glauben, während der Zufall nur eine auffällige Abzweigung der endlosen Abzweigungsketten des Schicksals darstellt.
Was also kann man mit dem Zufall anfangen? Dort wo der Zufall bewusst auf den Sockel unseres Seins gehoben wird, ist Skepsis angebracht. Sehr wohl gibt es strukturelle Ungleichheiten, die das Leben und seine Möglichkeiten beziehungsweise Versagungen perpetuieren, und deren postulierte Zufälligkeit allenfalls das Feigenblatt für das Nichtstun derer ist, die es besser wissen müssten. Und wie Freud schon darlegte, ist das eigene Ich in Bezug auf solche Verschleierungstaktiken nicht weniger erfinderisch. Man muss nicht immer in die Ferne schweifen, um sich mit dem Freund Zufall aus der Verantwortung zu stehlen.
Auf der anderen Seite ist der Zufall ein großer Zerstörer von Sinnhaftigkeiten aller Art. Das ist zuweilen schwer erträglich, weshalb zum Beispiel die schon angesprochenen Verschwörungstheorien ihre Kraft wohl weniger aus der Kohärenz und Wahrscheinlichkeit ihrer Geschichte ziehen, sondern aus dem untergründigenen, um nicht zu sagen unbewussten Widerstand, den sie den Kontingenzen des Lebens entgegenbringen können (wie all unsere imaginären Anstrengungen). In ihrer Stabilisierungsfunktion muten diese Theorien zuweilen sehr komisch an – wer könnte sich bei der Vorstellung, dass die Menschheit eigentlich von Reptiloiden beherrscht wird, ein ungläubiges Lächeln nicht verkneifen -, obgleich ihnen jeder Humor und Ironie strukturbedingt völlig abgeht. Ist doch die Ironie der dezente Hinweis auf unsere postmoderne Verfasstheit, d.h. ein Hinweis darauf, dass unsere Überzeugungen durchaus zufällig sind (siehe: Richard Rorty: Kontingenz, Ironie und Solidarität. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2018).
Zu einer intelligenteren ‚Lösung‘ der Zufallsproblematik ist Friedrich Nietzsche im 19. Jahrhundert gekommen, der erst gar nicht versuchte, den Zufall in ein harmonisches Ordnungsgefüge einzugliedern und damit aus der Welt zu eskamotieren – solche geschichtlich gescheiterten Versuche wertete er als Zeichen der Schwäche: nein, bei Nietzsche läuft die Erlösung vom Zufall durch seine volle Anerkennung, durch die absolute Bejahung des Zufalls, mit der kleinen Modifikation, dass man sich zum Zufall nachträglich eine Geschichte einfallen lassen muss, die dem ganzen jenen Sinn gibt, der es mir erlaubt zu sagen: so wollte ich es, so sollte es sein.
„Und das ist all mein Dichten und Trachten, daß ich in Eins dichte und zusammentrage, was Bruchstück ist und Rätsel und grauser Zufall.
Und wie ertrüge ich es, Mensch zu sein, wenn der Mensch nicht auch Dichter und Rätselrater und der Erlöser des Zufalls wäre!
Die Vergangenen zu erlösen und alles »Es war« umzuschaffen in ein »So wollte ich es!« – das hieße mir erst Erlösung!“
Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra: ein Buch für alle und keinen. Frankfurt am Main: Insel-Verl, 1992, S. 142
Zu Recht kann man Nietzsche eine Metaphysik des Willens vorwerfen, die sich dem Zufall durch jenen anderen Zufall entgegenstemmt, den der Dezisionismus mit sich bringt. Einen Auftakt zu einer poetischen Welterschließung bietet diese Idee jedoch allemal.
Während der Zufall destabilisierend wirken kann und die Strategien zu seiner symbolisch-imaginären Einhegung geschichtlich eine große Tradition haben, hat sein Auflösungspotenzial zugleich auch produktive Momente, kann es uns doch von der Last der Verantwortung befreien. Der Ökonom und Nobelpreisträger Daniel Kahneman hat diesen Zusammenhang in seinem Buch ‚Thinking, Fast and Slow‘ insofern berührt, als dass für ihn Erfolgsgleichungen zugleich auch Zufallsvariablen enthalten.
"success = talent + luck / great success = a little more talent + a lot of luck."
Daniel Kahneman: Thinking, Fast and Slow. London: Penguin Books, 2012, S. 177
Was im Vorfeld einer Unternehmung demotivierend wirken kann - nicht meine Herkunft, mein Charakter, mein Wissen, mein Talent können den Erfolg garantieren -, ist im Falle des Scheiterns zugleich auch entlastend. Nicht ‚ich‘ bin es, der scheitert, sondern es sind auch die zufälligen Umstände (oder können es sein). Je öfter ich es im Falle des Scheiterns neu versuche, umso höher die Wahrscheinlichkeit, dass sich der Zufall zu meinem Glück fügt (nun wird man das Verhältnis von Talent und Zufall im Einzelfall niemals klären können. Die, die es immer schon besser wissen – und wer kann sich von einer solchen Gruppenzugehörigkeit durchgehend freisprechen -, erklären den Erfolg, ebenso wie den Krieg im Nachhinein immer lückenlos, d.h. ohne Kontingenzanteile).
Zum Schluss: Wie also den Zufall begegnen? Wenn nicht alles unter Kontrolle ist, wenn das Ganze aus grundsätzlichen Gründen nicht gänzlich unter Kontrolle zu bringen ist, dann ist mit dem Zufall zu rechnen oder besser: kann man sich auf den Zufall einlassen, etwas aus ihm machen – mit und ohne Verantwortung (dies heißt auch Entsicherung: dies ist eine Dimension, die insbesondere das linke (deutsche) politische Denken mit aller Macht auszuschließen versucht, weil unterstellt wird, dass durch diese Lücke der Teufel kommt). Dies wiederum, so scheint mir, ist auch eine Akzeptanzfrage und berührt existentielle Momente, mit durchaus tragischen Dimensionen. Auch zufällig gefunden: David Richo und die fünf Dinge, die wir nicht ändern, doch akzeptieren können:
1. Everything changes and ends.
2. Things do not always go according to plan
3. Life is not fair.
4. Pain is part of life.
5. People are not loving and loyal all the time.
David Richo: The Five Things We Cannot Change: And the Happiness We Find by Embracing Them. Boston, Mass.: Shambhala, 2006
Auch wenn dies zufällig trivial sein sollte, geht daraus doch notwendig eine Auf-gabe hervor.
Heino Bosselmann hat das im Dezember 2021 am Ende seines Textes "Streß?" im Sezessions-Blog (böse, böse, böse) sehr poetisch so beschrieben:
"Scheinbar geht es immer um alles, eigentlich jedoch um nichts. Nur darf man diese Tragik nicht bejammern, sondern hat sie mit der Liebe zum Menschen zu tragen, gehört man doch selbst zur Gattung der Paradiesvertriebenen, die mit ihrer Natur in der Natur keine Heimat finden, und kann einerseits das Wahre, Gute und Schöne nur erfassen, wenn man andererseits gelassen in die Abgründe zu blicken vermag."
Heino Bosselmann - https://sezession.de/65008/stress
Die Formel könnte also lauten: Leben akzeptieren heißt den Zufall akzeptieren. Vielleicht – immer nur vielleicht – heißt die zufällige Begegnung mit dem Zufall: in den Abgrund schauen – und vielleicht manchmal – nur vielleicht – auch in den Himmel.
31. März 2022