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Deprimierender Anfang

Ganz sicher gibt es unzählige Themengebiete, die in Frage kommen, wenn man mal über etwas wirklich Deprimierendes schreiben möchte. Unser Verhältnis zu den Tieren gehört auf jeden Fall dazu, wenn auch nicht vollumfänglich. Das Tier ist auch unser Freund, unser Begleiter, unser Beschützer, also vielfach ein Glücks- und Sicherheitsspender - aber natürlich auch eine Nahrungsquelle, die im Zuge der Industrialisierung der Lebensmittelerzeugung nicht nur erbarmungslos ausgebeutet, sondern selbst vollständig der industriellen Herstellung unterworfen wird. Wir alle wissen, dass diese Produktionsweise äußerst selten mit dem Tierwohl in Übereinstimmung zu bringen ist. Zunächst ist schon die reine Masse der getöteten Tiere verstörend, wenn man kurz darüber nachdenkt.

So wurden in Deutschland zum Beispiel im Jahre 2020 53 Millionen Schweine geschlachtet (siehe u.a. : https://www.landwirtschaft.de/landwirtschaftliche-produkte/wie-werden-unsere-lebensmittel-erzeugt/tierische-produkte/schweinefleisch/). Mathematisch gesehen wurden in jeder Sekunde 1,68 Schweinen das Leben ausgehaucht, so diese pneumatische Metapher in vielen Fällen auch nur den Hauch einer Chance hätte, mit der Realität zu korrespondieren. Während das postmortale verkaufsgerechte Zerstückeln der Tiere schmerzfrei abläuft, ist der vorhergehende Tötungsakt nicht immer empfindungsfrei beziehungsweise lebensfern.

In der ausgezeichneten Reihe 'Naturkunden', in denen in kleinen, wundervoll aufgemachten, bebilderten und fadengehefteten Büchern Tiere und Pflanze porträtiert werden, stellt der Kulturwissenschaftler Thomas Macho in seinem Schweine-Essay nüchtern fest: 

"Immer wieder geraten etwa Schweine lebend und bei Bewußtsein in die Brühanlagen, 2013 erlitten nach Presseberichten eine halbe Million Schweine diese Tortur." 117
Thomas H. Macho: Schweine: ein Portrait. Naturkunden, No 17. Berlin: MSB, Matthes & Seitz Berlin Verlagsgesellschaft mbH, 2015, S 117

In unserer Kultur ist Tod und Leiden ein beliebtes Thema der Verdrängung, so dass man den Tieren zu Ehren sagen könnte, dass auch sie in diesen Vorgang integral mit eingebunden sind. In den meisten Fällen, in denen fleischverzehrende Menschen aufrichtig über die unhaltbaren Zustände der industriellen Tierhaltung reden, kann man nicht einmal von kognitiver Dissonanz ausgehen, da in Bezug auf tierische Nahrung Denken und Handeln so schön und komplett auseinanderfallen, wie das Fleisch vom Knochen, nachdem das Tier gekocht wurde (Zu diesem Themenkomplex gibt es einige Bücher. Zum Beispiel: Jonathan Safran Foer: Tiere essen. Frankfurt am Main: Fischer, 2019.)

Generell ist es kein Geheimnis, dass unsere Lebensweise, insbesondere die der Industriestaaten, auch wenn sie sich Dienstleistungs- und Wissensgesellschaften nennen, den anderen Lebewesen (und natürlich auch der Flora) nicht gut tut. Nach kurzer Suche weiß man folgendes: 

- Von geschätzten fünf bis neun Millionen Tierarten verschwinden jährlich zwischen 11.000 bis 58.000 (https://www.landsiedel-seminare.de/weltretter/artensterben.php). 

- Täglich werden ca. 150 wildlebende Tier- und Pflanzenarten von der Erde eliminiert (https://www.aktiontier.org/artikel/artenvielfalt-und-artensterben).

- Dazu sind ein Viertel der Säugetierarten, jede achte Vogelart, mehr als 30 Prozent der Haie und Rochen sowie 40 Prozent der Amphibienarten bedroht, vermeldet der WWF (https://www.wwf.de/themen-projekte/artensterben).

Der Mensch zerstört seine eigenen Lebensgrundlagen, heißt es dann. Oder: Wir sägen an dem Ast, auf dem wir sitzen. Auch wenn das Unbehagen an der eigenen Dummheit meines Erachtens nicht ausreichend sein wird, um ein wirkliches Umdenken zu befördern, ist es doch ein Anfang. In diesem Sinne kann man vielleicht folgende Geschichte lesen, die in einem weiteren Naturkunden-Buch, diesmal von Lothar Franz über Nashörner, wiedergegeben wird:

"So waren auch bald die Rhinozerosse aus vielen Teilen ihres angestammten Nashornlandes verschwunden: Ein einziger Jäger, John Alexander Hunter, schoss mehr als 1600 von ihnen, allein zwischen August 1944 und November 1946 erlegte er 996 Rhinozerosse - im Auftrag der kenianischen Regierung, die das Kamba-Land urbar zu machen wünschte. Später stellte sich heraus, dass Nutzpflanzen hier gar nicht gediehen - die Ausrottung der Rhinozerosse also überflüssig war."
Lothar Frenz: Nashörner: ein Portrait. Naturkunden, No. 36. Berlin: MSB Matthes & Seitz, 2017, S. 69

31. Mai 2022