____schwingungsbreite__________________________________

    
 

Der russische Weg in die souveräne Destruktivität - Teil 2

Ukrainische Wahl

Freiheit mag für viele nicht nur ein schwieriger, sondern auch ‚süßlicher‘ Begriff sein, der scheinbar mehr verspricht, als er -insbesondere heutzutage – halten kann. Wird Politik nicht von einer oligarchischen Schicht von Berufspolitikern bestimmt, von mächtigen Wirtschaftsinteressen, von Funktionseliten usw.? Aber vielleicht hat man sich zu sehr an einen durch Souveränität verzerrten Freiheitsbegriff gewöhnt, in dem die Grundlagen des Handelns und der Freiheit schon definiert sein müssen, bevor man von Freiheit sprechen will. Daher die immer wiederkehrende Idee der basisdemokratischen Abstimmungen, in der die die Essenz des Individuums in den politischen Prozess unmittelbar einfließen soll (was ungefähr dem Versuch gleichkommt, sich selbst zu therapieren, indem man permanent mit sich selbst spricht). Aber unser Handeln ist (selbst für uns selbst) immer vermittelt, ist medial durchwoben, ist immer auch ein Stück weit unserer Kontrolle entzogen. (Daher ist Freiheit an sich gefährdet, immer kurz davor von einer ‚sicheren‘ Wahrheit verschlungen zu werden. Und in ihrem ‚Sein‘ ist sie, ob dessen was sie sich erhandelt, niemals frei von Irrungen).

Nichtsdestotrotz ist Freiheit mit Handeln verknüpft, was selbst bei einem so einfachen Handlungsakt wie einer Wahl (zu einer Regierung) zum Tragen kommt, sofern es sich um eine freie Wahl handelt und sofern unzählige Handlungsmomente natürlich in den Debatten, Kontroversen und Konflikten vor der Wahl realisiert werden. So weist Thilo Sarrazin in der Zeitschrift Tumult – diese einer unkritischen Ukraine-Position unverdächtig – darauf hin, dass die Sowjetunion 1991 in einem von allen Sowjetrepubliken unterzeichneten Vertragswerk aufgelöst wurde, die Unterzeichner-Staaten vollständig souveräne Subjekte des Völkerrechts wurden und dass in der Ukraine parallel dazu bei einer Volkabstimmung zur Unabhängigkeit 90 Prozent der Abstimmenden, bei einer Wahlbeteiligung von 84 %, für die Unabhängigkeit stimmten (in Luhansk 83 %, in Oblast Donezk 77 % und auf der Krim 54 %). Auch alle nachfolgenden ukrainischen Präsidenten wurden direkt gewählt (siehe Thilo Sarrazin: Bemerkungen zum Ukraine-Krieg, in: Tumult. Vierteljahresschrift für Konsensstörung, Herbst 2022, S. 8-13).

Das heißt wiederum nicht, dass Korruption in der Ukraine kein wirklich großes Problem ist und dass es auch dort keine oligarchische Strukturen gibt. Und beides droht in ihrer undemokratischen Souveränität den Handlungs- und Gesetzesraum zu unterwandern. Nichtdestotrotz hat sich in der Ukraine ein Handlungs- und Freiheitsraum entfaltet, der neue Möglichkeiten geschaffen und neu Perspektiven eröffnen konnte. So sorgte zum Beispiel der jetzige Präsident Wolodymyr Selenskyj nach seinem Amtsantritt dafür, dass mit Hilfe des Parlamentes ein Lobbygesetz verabschiedet wurde, das den Einfluss der Oligarchen offenlegte und etwas beschnitt (siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Wolodymyr_Selenskyj ). 

Wo ein freiheitlicher Handlungsraum mit dem Gesetzesraum und mit den Gesetzen zusammenspielt, mithin eine demokratisch politische Nation entstanden ist, sind die Ermächtigungstendenzen jedweder Souveränität zurückgedrängt worden. Dies betrifft sowohl die Exekutive als auch alle Instanzen, die ihre Ansprüche auf die politische Macht durch eine geschichtliche, göttliche oder auch wissenschaftliche Wahrheit geltend machen wollen. Sicherlich kann auch ein (religiöser, autokratischer, oder diktatorischer) Staat durch einen Gesetzesrahmen, der nicht demokratisch legitimiert ist, die Willkür einhegen. So mag zum Beispiel die Scharia der Anarchie einen Riegel vorschieben, indem sie gleichermaßen die "vertikalen" wie "horizontalen" Beziehungen jedes Menschen regelt. Es gibt Vorgaben dafür, wie sich die Menschen in der Gesellschaft und in der Familie zu verhalten haben (Straf- und Eherecht). Darüber hinaus wird auch die Gottesverehrung reglementiert, so dass alle Lebensbereiche in Bahnen verlaufen müssen, die der individuellen Spontanität ebenso wie einer übergeordneten Willkür entzogen sind, was die religiös legitimierte Souveränität nicht daran hindert, mit aller Härte gegen jene vorzugehen, die sich dieser ‚Anordnung‘ aus welchen Gründen auch immer wiedersetzen (Unter demokratischen Gesichtspunkten hat das Gesetz natürlich etwas verbindliches, kann aber keine überzeitliche Wahrheit für sich beanspruchen. Insofern ist es interessant, dass im Judentum die ‚Heiligkeit des Textes und der Gesetze‘ dadurch relativiert wird, dass man sie interpretieren muss. D.h., Gottes Wort wirkt hier nicht unmittelbar und es gibt auch keine Instanz, die eine wahre Interpretation für sich exklusiv beanspruchen könnte. Auch vor diesem Hintergrund ist es interessant, dass die Ukraine mit Wolodymyr Selenskyj nicht nur einen Präsidenten hat, der ein Jurastudium abgeschlossen, der als Schauspieler, Moderator, Drehbuchautor und Produzent mit dem Bereich der ‚Erscheinungen‘ zu tun hat, im Unterschied zu der Sphäre der Essenzen und Wahrheiten, und der schließlich eine jüdische Herkunft hat). 

Die russische Wahrheit

Es bedarf keiner großen analytischen Anstrengung, um festzustellen, dass das Russland unter Putin weder freiheitlich noch rechtsstaatlich verfasst ist. Wer politisch kein opportunes Verhalten an den Tag legt, dem wird ein Prozess gemacht, der diesen Namen nicht verdient. Karl Schlögel spricht davon, dass im dritten Imperium von Putin, das auf das Russische und Sowjetische folgt, ein Totalitarismus neuen Typs entstanden sei, welcher auf Mythen, Zensur und Hassrede aufbaut. Es verbinden sich Ideen der nationalen Größe und einer geschichtlichen Mission, die zur ideologischen Stabilisierung der Verhältnisse beitragen, mit jenen Praktiken der Willkür, die all jenes – oft gewaltsam – beseitigen, was dieser Idee, oder besser, dem ideologisch unterfütterten Machterhalt im Wege steht. An anderer Stelle und mit Bezug auf den stalinistischen Terror der 30er Jahre und auf die analytischen Möglichkeiten der Literatur hinweisend, hier von Michail Bulgakow ‚Der Meister und Margarita‘, schreibt Schlögel:

"Der 'magische Realismus' Bulgakows öffnet den Raum für Beschreibungsmöglichkeiten, die den Geschichtswissenschaften weitgehend verwehrt sind: eine Geschichte der Verwirrung und Auflösung alles Festen, ein Raum des Phantastischen, das keineswegs irreal oder surreal ist - des Realphantastischen."
Schlögel, Karl. Terror und Traum: Moskau 1937. München: Hanser, 2008, S. 35 

Der stalinistische Terror, der Millionen von unschuldigen Menschen das Leben kostete und der selbst die innersten Machtzirkel der Partei permanent durchpflügte, von den Moskauer Prozessen (1936 – 1938) bis hin zu den ‚Aufräumarbeiten‘ im Politbüro während des Weltkriegs und danach, verdeutlicht sehr anschaulich, was passiert, wenn eine ideologische Wahrheit ungebremst und ungehindert von Regeln und Gesetzen sich ins Werk setzen will. Der dafür benutzte Begriff der ‚Bewegung‘ deutet an, dass hier nicht nur eine Dynamik am Werk ist, die jeden ‚Rückschlag‘ mit einer weiteren Beschleunigung beantwortet, sondern dass alle haltenden und gesetzten Momente schlicht überflüssig (gemacht) werden. Schon in der Oktoberrevolution von 1917 wurde von der jungen revolutionären Szene all jene Tugenden und Praktiken aussortiert, die dem revolutionären Furor entgegenstanden, als da wären: Bildung, Kultur, Recht und Rechtsstaatlichkeit, wobei auch im vorrevolutionären Russland die Beschäftigung mit Rechtsfragen und Rechtsräumen nicht ausgeprägt war (siehe auch: Karl Schlögel (Hrsg.): Wegzeichen: zur Krise der russischen Intelligenz ; Frankfurt am Main: Eichborn, 1990).

In diesem Sinn steht Putin auf dem festen Grund einer unguten Tradition, die er mit Modifikationen und Mischungen neuer und alter ideologischer Versatzstücke fortschreibt. Sicherlich muss man sich abgewöhnen, im ‚Realphantastischen‘ den Zauber einer anderen, schöneren und aufregenderen Wirklichkeit mitzuhören, um den Begriff sinnvoll zu verwenden. Aber trifft er – bereinigt um seinen märchenhaften Zauber - nicht sehr genau unsere Wirklichkeitswahrnehmung im Jahre 2022, wo in Europa wieder Krieg geführt wird, wo Sirenen in ukrainischen Großstädten, die vor nicht allzu langer Zeit als spannendes Touristenziel galten, vor Luftangriffen warnen, wo Zivilisten durch russische Soldaten erschossen und verscharrt werden. Und – um eines unserer hauseigenen realphantastischen Momente zu benennen -, wo wir uns Sorgen darum machen, ob nicht auch wir im kommenden Winter frieren werden. Wenn es also so ist, dass die russische Geschichte politisch gesehen von einer monadischen Souveränität durchsetzt ist, in der das Zusammenspiel von Handeln und Gesetz / Recht keinen Raum entfalten konnte und kann, worüber soll man dann in einem Krieg, indem es um diese Fragen, Fragen der Freiheit, der Selbstbestimmung, der Rechtsordnung geht, verhandeln?

Noch mehr Realphantastisches

Hätte der Westen all dies verhindern können? Der Verzicht auf eine Nato-Ost-Erweiterung hätte die Lage wahrscheinlich nicht verbessert, vielleicht bestimmte Konflikte schon frühzeitiger forciert. Die Ursache des Krieges und die Verantwortung für den Krieg liegen allein in Russland. Aber vielleicht gab es im ‚Westen‘ nach 1989 auch realphantastischen Momente, insofern der proklamierte Siegeszug des Liberalismus dazu führte, dass man wirtschaftspolitische Beschränkungen und Eingrenzungen als Relikte einer alten Zeit betrachtete. Auch hier wurde etwas in Bewegung gesetzt, eine Dynamik entfaltet, die zwar immer noch durch einen gesetzlichen Rahmen begrenzt wurde, aber zu fantastischen ökonomischen Volten führte, von denen die Finanzkrise im Jahre 2008 vielleicht das deutlichste Zeichen war. Welche Gefahren zum Beispiel von den neuen digitalen Plattformökonomien, die aufs engste mit der Finanzökonomie verwoben sind, ausgehen, kann noch gar nicht ermessen werden. Die von Joseph Vogl hierzu im Jahre 2021 vorgelegte Studie konnte mit ihrer von Pessimismus gefärbten Schlusssentenz nicht ahnen, wie komisch-tragisch die Wirklichkeit sich ganz anders verwirklichen würde, als gedacht:

„Auch wenn es keine Enden und keine pure Ausweglosigkeiten in der Geschichte gibt, muss man wohl konzedieren, dass die Feindseligkeit aller gegen alle nicht nur zu einem erfolgreichen Geschäftsmodell, sondern zu einem überaus zukunftsfähigen Gemeinschaftsgefühl geworden ist. Es ist nicht ausgeschlossen, dass es das Ferment einer neuen Vorkriegszeit liefern wird.“
Joseph Vogl: Kapital und Ressentiment: eine kurze Theorie der Gegenwart. München: C.H. Beck, 2021, S. 182

Dass ein politischer Freiheitsraum nicht umstandslos mit einem entgrenzten Wirtschaftsraum kompatibel ist, spürten insbesondere jene osteuropäischen Länder schon zu jenem Zeitpunkt, als sie ihre Freiheit erstritten, so Polen, oder machtvoll ergriffen haben. Etwas von dieser schmerzhaften Konflikthaftigkeit und von den damit verbundenen Effekten ist selbst noch in jener Propagandarede zu hören, die Putin am 30.09.2022 gehalten hat:

„Als die Sowjetunion zusammenbrach, beschloss der Westen, dass die Welt und wir und alle sich dauerhaft seinem Diktat unterwerfen sollten. 1991 dachte der Westen, Russland würde sich nach solchen Erschütterungen nie wieder erheben und von selbst in sich zusammenfallen. Das wäre auch fast passiert. Wir erinnern uns an die furchtbaren 1990er Jahre, an Hunger, Kälte und Hoffnungslosigkeit. Aber Russland blieb aufrecht, wurde lebendig, wurde stärker und nahm seinen rechtmässigen Platz in der Welt ein.“

Wladimir Putin (https://weltwoche.ch/daily/der-westen-behauptet-seit-jahrhunderten-dass-er-anderen-nationen-freiheit-und-demokratie-bringt-nichts-koennte-weiter-von-der-wahrheit-entfernt-sein-rede-von-putin-in-moskau)

Das kann weder eine Entschuldigung noch eine Erklärung für den von Putin entfesselten Krieg sein. Doch sollte es uns an jene Realphantasmen erinnern, mit denen wir meinen, die Welt unbegrenzt in Bewegung setzen zu können.

31. Oktober 2022