Der Sprung in der Schüssel
Einen Sprung in der Schüssel zu haben, heißt zunächst, dass man nicht ganz dicht, also etwas verrückt ist, man die Dinge nicht auf adäquate Weise begreifen, sich nicht adäquat zu Dingen verhalten kann. Weiterhin, dass das richtige "Funktionieren" zumindest fraglich wird, denn schließlich kann der Sprung dazu führen, dass das Ganze vollständig zerbricht und unbrauchbar wird. Richtiges Verhalten in der Welt und auch das Weltverstehen selbst scheinen, so man den Gedanken fortspinnt, in der Sprung-Schüssel-Perspektive eine Konsistenz vorauszusetzen, in der die feinen Haarrisse, die die Wirklichkeit unseren Seins-Oberflächen hinzufügt, nicht als produktive Kräfte vorgesehen sind.
Die Kinderlogik, die niemals eine Logik ist, läuft natürlich ganz anders. Astrid Lindgren zeigt dies exemplarisch in der Michel-Geschichte aus Lönneberga, in der Michel seinen Kopf in die Suppenschüssel steckt, in dem Bestreben, an die letzten Reste der Suppe zu gelangen, dann mit seinem Kopf stecken bleibt und die Schüssel schließlich, um die Ordnung der Dinge und einen freien Kopf wiederherzustellen, zerbrochen werden muss.
Um von der Kinderlogik zur Lyrik-Logik zu wechseln, mag man sich an die kleine Schwester der Schüssel, an die Schale erinnern, von der es bei C. F. Meyer in Bezug auf den römischen Brunnen heißt: "Und jede nimmt und gibt zugleich / Und strömt und ruht." Hier ist es die fast dialektisch zu nennende Überflussmetapher, die dem Dichtigkeitsdiktum weniger entgegengesetzt wird, denn die Schale ist an und in sich intakt, ohne Sprung, als dass sie das Letztere transzendiert. Eine Schale - zumindest als Teil eines größeren Ganzen, hier eines Brunnens - kann nicht selbstgenügsam sein, da sie von oben gespeist wird und den Überfluss nach unten abgibt (Es sei hier als Nebengedanke daran erinnert, dass dies, sofern man an die Schalenhaftigkeit des Menschen denkt, nicht nur ein geistiges Prinzip ist, sondern auch ein physiologisches. In diesem Zusammenhang sei weiterhin auf die erste Strophe des Rainer Maria Rilke-Gedichts hingewiesen: "Träume, die in deinen Tiefen wallen, / aus dem Dunkel lass sie alle los. / Wie Fontänen sind sie, und sie fallen / lichter und in Liederintervallen / ihren Schalen wieder in den Schoß.").
Um auf den Sprung in der Schüssel zurückzukommen und zu einem Menschen, der zweifelsohne nach landläufiger Meinung einen Schüsselsprung hatte, widmen wir uns kurz Benoît Joseph Labre, einem Pilger und Mystiker, der im 18. Jahrhundert gelebt hat und unter ärmlichsten und erbärmlichsten Umständen sieben Jahre durch Europa pilgerte, um schließlich in Rom zu landen, wo er weitere sechs Jahre in äußerster Armut und Frömmigkeit verbrachte und schließlich völlig entkräftet und verwahrlost starb. Walter Nigg schreibt über die Pilgerjahre von Labre in seinem 'Pilgerbuch':
"Nur einen Napf trug er bei sich, worin er sich gelegentlich an einer Klosterpforte ein wenig Suppe holte; doch am Rand des Holztellers hatte er ein Stück herausgebrochen, damit man ihn nicht mehr vollständig füllen und ihm nicht mehr geben konnte, als er unbedingt zum Leben brauchte."
Walter Nigg: Der Pilgers Wiederkehr; Zürich 1992 (1954); S 102
Der gewollte "Sprung in der Schüssel", also die tellerzentrierte Abbruchunternehmung, ist hier eine große Demutsgeste, eine Form der Selbstkasteiung. Und darin war das Christentum immer gut, in dieser Weltabgewandtheit, hart am Rande der Weltnegierung, die schließlich die intime Nähe zu Gott herstellen sollte. Der Sprung ist hier wahrlich auch eine Art des Hinüberspringens in eine heile Welt, womit der Mut zur Lücke und zum Sprung arg relativiert wird. Schließlich macht der liebe Gott, so könnte man meinen, am Ende alles wieder Ganz (allerdings muss man dem Christentum den Gedanken an den Sprung und das Sprungrisiko - Stichwort Nadelöhr - als Immanenz-Resistenz zugutehalten).
Eine letzte Schüssseldrehung führt ins ferne Japan, wo der Teeismus, also die Verehrung des Tees und der Teezeremonie, "im Wesentlich die Anbetung des Unvollkommenen" ist, wie Kakuzo Okakura 1906 schrieb, "ein behutsamer Versuch, in diesem unmöglichen Etwas, das wir Leben nennen, das Mögliche zu erreichen." Die Schale, die wir in den Händen halten, ist selbst der Sprung, das Mögliche im Unmöglichen, das Sein vor dem Abgrund. Die Dinge - und wir mit ihnen - sind und waren immer mehr als nur Objekte - oder Subjekte. Eine Teeschale?
"Doch wenn man bedenkt, wie klein die Schale menschlicher Freuden eigentlich ist, wie rasch sie von Tränen gefüllt, wie leicht sie in unserem unstillbaren Durst nach Unendlichkeit bis auf den letzten Tropfen geleert wird, dann haben wir uns nichts vorzuwerfen, wenn wir um die Teeschale so viel Aufhebens machen."
Kakuzo Okakura: Das Buch vom Tee; Köln, 2011 (1906); S. 8f.
27. Februar 2018