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Der Sprung in die Weltverhältnisse – Teil IV

Abenddämmerung hat sich über die Stadt gesenkt, Dunkelheit kommt; Lichtspuren fahrender Autos, Ampelrhythmen, Geräusche der Beschleunigung, Lärm der Sirenen, Dringlichkeit anmahnend. Stunden werden vergehen, bevor das Dunkel die Strassen beruhigt und eine halbe Stille einkehrt. Vor mir ein Glas Wein, das Butterbrot schon gegessen, zuvor. Noch einmal Rosa und die Frage nach der Resonanz. Und darüber hinaus auch die Frage nach der Schwelle. 

Rosa will die Idee der Beziehung radikalisiert wissen (Hartmut Rosa: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung; Berlin 2019 (2016), S. 62). Subjekt (sollte man in Klammern einfügen: Leib und Geist?) und Welt sind keine Entitäten, sondern werden erst durch eine wechselseitige Bezogenheit konstituiert. Schaut sich man die Art dieser Bezogenheit von Welt – Leib –Geist (oder Gehirn?) genauer an, so Rosa weiter, kann man nicht von einer Repräsentation oder Kausalität sprechen, die von der einen in die andere Richtung oder umgekehrt läuft (ebd. S. 246; siehe auch: Der Sprung in die Weltverhältnisse - Teil I und die Frage nach der „empirisch-transzendentalen Dublette“ / http://www.schwingungsbreite.de/index.php?archive=201907 ). Stattdessen entsteht unser Zugang zur Welt und zu unserem Leib und zu unserem Denken als Beziehungswesen aus Antwort- und Rückkopplungsverhältnissen und dies von Anfang an, so könnte man mit Rosa sagen und diesen Aspekt weiter fort führen. So ist auch unsere Subjektwerdung davon betroffen. Wir sind keineswegs der selbstbewusste Akteur unseres Werdens vom Säugling zum sich selbst identifizierenden Kleinkind, sondern Zuschauer einer ‚Entwicklung’, die unbedingt von äußeren Umständen abhängig ist. Das ist einerseits insofern trivial, als dass ein Säugling ohne Hilfe nicht lange überleben würde. Andererseits sichert diese Hilfe aber nicht nur das physische Überleben, sondern trägt überhaupt dazu bei, dass sich unser psychischer Apparat entwickeln kann.*

Wenn wir uns als souveräne Subjekte imaginieren, verkennen wir nicht nur unsere radikale Abhängigkeit von einer ‚sorgenden Umwelt’, die uns nicht nur versorgt hat, sondern die uns in und mit einer Beziehungsstruktur überhaupt erst ein Selbstverhältnis ermöglicht hat (insofern hat Subjekt hier die ursprünglichere Bedeutung von lateinisch subiectum ‚das Daruntergeworfene‘). All dies ist mehr oder minder explizit auch Teil der von Hartmut Rosa vertretenen Resonanzpriorität. Interessant ist nun die Rolle, die dieses Verkennungsmoment im weiteren Verlauf der Resonanztheorie spielt. Denn man könnte ja, so das Subjekt erstmal „ausgehärtet“ ist (einige Theorien nennen das Entwicklung), auf die Idee verfallen, dass das Subjekt der Welt selbstbewusst und ausgereift gegenüber stehen kann. 

Obwohl Rosa diese Position nicht ganz zu Eigen macht, schwankt er jedoch bezüglich der Bedeutung des Verkennungs- bzw. des Öffnungsmoments, was auch für den weiteren Fortgang seiner Untersuchung von Bedeutung ist. Exemplarisch sei hier kurz auf das Kapitel IV – 1, Angst und Begehren als elementare Formen der Weltbeziehung (ebd. S. 187 ff.), eingegangen. Er rekurriert dabei unter anderem auf Fritz Riemann und seinem Klassiker „Grundformen der Angst“ (München 1961). Bei Riemann, so Rosa, werden auf den beiden Achsen „Bindung“ und „Ordnung“ die Qualität der Weltbeziehung bestimmt (ebd. S. 192). Die Subjekte würden sowohl hinsichtlich der Achse der Ordnung, als auch bezüglich der Achse der Bindung Ängste entwickeln (können), wenn ein Zuviel oder Zuwenig im Spiel ist. Ist ein Zuviel an Bindung im Spiel, droht Selbstverlust (schizoide Persönlichkeit), während Bindungslosigkeit zur Vereinsamung führt (depressiver Typ). Ist hingegen eine Ordnung zu starr, findet eine einengende Überregulierung statt (hysterische Persönlichkeit), während zuwenig Halt zum Chaos führt (zwanghafter Charakter). Für Rosa präsentieren diese vier Formen misslingende Weltbeziehungen, was zunächst auch nachvollziehbar ist. Hingegen wäre der angstfreie und ausgeglichene Schnittpunkt der beiden Achsen eine Form der intakten Weltbeziehung (ebd. S. 193).

Wenn Angst also ein Zeichen dafür sein soll, dass etwas mit unserer Weltbeziehung nicht stimmt, heißt das dann, dass ein angstfreies in-der-Welt-sein auf eine intakte Weltbeziehung hindeutet? Oder wäre es nicht ebenso legitim zu sagen, dass die vier Defizitär-Typen nicht Resultate der Angst darstellen, sondern aus ‚falschen’ Antworten auf die Angst resultieren. Oder sollte es grundsätzlich so sein, dass aus der Angst keine resonanzfähigen Antworten gegeben, keine Resonanzen aufgebaut werden können? Wenn umgekehrt in einer intakten Weltbeziehung die Resonanz schon immer ‚da‘ wäre, d.h. die Beziehung nach Rosa nicht zu starr und auch nicht zu chaotisch ist, wie können sich dann Beziehungsformen ändern? 

Kurzum, müsste man nicht in aller Konsequenz von den Menschen als „geöffnete Wesen“ sprechen, durch die ein Riss geht, deren Oberfläche nicht nur in mehrfacher Hinsicht durchlässig und durchbrochen ist, sondern in die die Seinsunabgeschlossenheit konstitutiv ins Innerste miteingeschrieben ist. In dieser Hinsicht wäre zum Beispiel die Angst nicht ein Ausdruck eines defizitären Lebens, sondern ein unhintergehbares Zeichen unserer Existenz (diese „Idee“ ist keineswegs neu, siehe: Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 1986 (1927)).

Ähnlich verhält es sich mit dem, in dem obigen Kapitel des Rosa-Buches ebenfalls angeführten Komplementärbegriff zur Angst, mit dem Begehren. Nicht nur wäre darauf hinzuweisen, dass auch das Begehren, ebensowenig wie die Angst, einfach durch den Willen zu steuern ist und / oder auf den Willen verweist (deshalb führt die Erfüllung des Habens-Wollens auf Dauer selten zu einem stabil glücklichen Zustand). Das Begehren ist nicht nur „da“, unabhängig von unserem Willen, sondern es verschiebt sich, schiebt sich auf, maskiert sich und operiert hinter unserem Rücken, sozusagen in und auf den abschüssigen Ebenen unseres Seins. Gerade die Unverfügbarkeit des Begehrens (und auch der Angst) sind paradoxer Weise zugleich die Bedingung der Möglichkeit unserer eigenen Freiheit, die Bedingung der Möglichkeit für die Freiheit unseres Selbstbezugs. Denn – entgegen der scheinbar intuitiven Annahmen – dass wir erst dann wirklich bei uns sind, wenn wir so denken und handeln wie es unserem Selbstverständnis und unseren Idealvorstellungen entspricht (das gute Leben wäre von der richtigen Entwicklung eines ursprünglichen Ich-Kerns abhängig, wäre also nur die praktische Umsetzung einer präexistenten Vorgabe), ist es gerade die strukturelle Uneinholbarkeit des Begehrens, die uns den Freiheitsspielraum überhaupt erst ermöglicht.

Unser „wahres Ich“ ähnelt eher einer revoltierenden Instanz, von der „Ich“ (also mein reflektierendes Ich) im besten Fall erst im Nachhinein weiß, wohin „es“ mich geführt bzw. revoltiert hat. Daher auch das von dem französischen Psychoanalytiker Jacques Lacan in diesem Zusammenhang so gern verwendete Futur II: ich werde gewesen sein. Weiterhin nimmt es kein Wunder, dass Lacan gerne und in immer neuen Wendungen auf die Dezentrierung dieses Ichs verwiesen hat:

„Ich bin nicht, dort wo ich das Spielzeug meines Denkens bin, ich denke an das, was ich bin, (nur) dort, wo ich nicht denke, dass ich denke.“
Jacques Lacan: Schriften II, S. 43; zitiert in: Samuel Weber: Rückkehr zu Freud. Jacques Lacans Ent-stellung der Psychoanalyse; Wien 1990 (Passagen Verlag), S. 115

Wenn also unser „unbewußtes“ und „wahres“ Ich als halbanonyme Instanz mit revoltierender Kreativität neue Wege in die Freiheit bahnt, so wäre der Begriff der Entfremdung zumindest ein sehr fragwürdiger. Ich bin entfremdet, wenn ich aufhöre zu werden – oder etwas antimetaphysischer: wenn ich aufhöre mich zu ereignen (damit im Zusammenhang: wir sind am sozialkonformsten dort, wo wir uns glauben verwirklicht zu haben). Ich bin dort entfremdet, wo ich allzu sicher bei mir bin. Umgekehrt wäre Freiheit die sich ereignende Differenz. Das körperliches Symptom - beispielsweise - ein Zeichen für die ausbleibende Einschreibung in den sozialen und politischen Körper. Weites Feld.**

Als geöffnete und sterbliche Wesen wohnt also ein abgründiger Überschuss von Freiheit in uns, der zuweilen im Namen der Stabilität und Stabilisierung an unscheinbare Ränder gedrängt wird und weiter vor sich hin schwelt. Zuweilen aber auch mit Kreativität und Witz sich handelnd in die Welt schlägt. Rosa schreibt nun:

„An der Wurzel der Resonanzerfahrung liegt der Schrei der Nichtversöhnten und der Schmerz des Entfremdeten. Sie hat ihre Mitte nicht im Leugnen oder Verdrängen des Widerstehenden, sondern in der momenthaften, nur erahnten Gewissheit eines aufhebenden >Dennoch<.“
(Hartmut Rosa: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung; Berlin 2019 (2016), S. 322; Kursiv im Original)

Auch wenn die Differenz nur unscheinbar und marginal erscheinen mag und Rosa die folgende Interpretation nicht ganz gelten lassen würde, so zeigt sich doch in diesem Satz letztendlich eine hegelsche Denkfigur, die weniger in ein Substanz-, denn in ein Prozessdenken mündet. Das Subjekt „ist“ (mit seiner Resonanzerfahrung) zwar auch hier die „Differenz“ zu den Verhältnissen, entwirft sich aber nicht auf etwas Neues hin (was natürlich auch heißt, dass man in Freiheit scheitern kann), sondern erfährt sich als entfremdet. Während das „dezentrierte Subjekt“ in der (Wurzel der) Resonanz die Möglichkeit eines anderen Seins, die Pluralität anderer Ausgänge erfahren könnte, ahnt das Rosa-Subjekt die „Gewissheit eines aufhebenden >Dennoch<“. Und „Aufhebung“ heißt bekanntlich, so man hier einer hegelschen Lesart folgt, wozu Rosa allen Anlass gibt, die Subsumierung des geschichtlichen Seins als Baustein zu einem sich – durch die Negativität - vervollkommnenden Prozess. Die Freude und / oder der Schmerz liegt nicht im Handeln selbst, in der Freiheit des Handelns mit all seinen Unwägbarkeiten, sondern in der Gewissheit, dass vom Ende her gesehen sich noch etwas „aufheben“ lässt. Kurzum, in guter schwarzer Tradition der Dialektik der Aufklärung wird die Wurzel allen Seins mit Schrei und Schmerz amalgiert, um so den dialektischen Prozess zumindest mit einem moralischen Mehrwert auszustatten (wer leidet büßt).

Die Frage also: werden hier nicht jene Zugänge verschlossen, die mit dem Begriff der Resonanz als Anti-Überschreitungs-, Anti-Substanz- und Anti-Prozess-Begriff erfahrbar gemacht werden sollten? Resonant sprechen, wie?

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* So weist Joachim Bauer in seinem Buch „Das Gedächtnis des Körpers“ darauf hin, dass die Erzeugung von Vorstellungen erst durch die Verbindung von Nervenzellen geschehen kann, wobei die Nervenzellen-Netzwerke in einer simultanen, synchronen und rhythmischen bioelektrischen Aktivität sich befinden müssen, damit eine Vorstellung entstehen kann (Joachim Bauer: Das Gedächtnis des Körpers; Frankfurt/M. 2002, S. 76). Bei der Frage, wie Säuglinge Signale „verstehen“ können, scheint es interessanter Weise so zu sein, dass die eigenen Säuglings-Körpersignale im Gehirn mit Signalen und Handlungen der Mutter verknüpft werden, wobei die Muttersignale und -handlungen den Empfindungen des Säuglings rückwirkend (!), so sie für den Säugling erfreulich und problemlösend sind, eine >Bedeutung< verleihen (Joachim Bauer: Das Gedächtnis des Körpers; Frankfurt/M. 2002, S. 87).

Das heißt, unsere ersten ‚inneren’ Vorstellungen sind von einem Außen abhängig, dass ihnen (rückwirkend) überhaupt erst Bedeutung verleiht. An dieser Stelle sei auch auf den britischen Psychoanalytiker D. W. Winnicott hingewiesen, der davon spricht, dass für das (psychische) Wohl des Kindes das Handeln der Mutter (oder einer anderen primären Bezugsperson) ‚gut genug’ sein muss. Die Mutter erfüllt die Wünsche des Kindes auf eine (keineswegs perfekte) Art und Weise, dass dieses im Laufe der Zeit die aufgeschobene Versorgung nicht als traumatisches Fehlen, sondern als Abwesenheit erfahren kann. Läuft alles gut, wird die Erfahrung der Abwesenheit und des “Kommens” (dessen was man sich wünscht, was wünschbar ist) als psychische Rahmenstruktur vom Kind übernommen, die auch und gerade dann ‘funktioniert’, wenn die Mutter nicht mehr da ist (siehe zum Beipsiel: D. W. Winnicott: Reifungsprozess und fördernde Umwelt; Frankfurt/M. 1990 (1960)).

** Insofern werden politischer Kämpfer und Kämpferinnen vermutungsweise wenig von neurotischen Problemen geplagt. Sicher, sie haben besseres zu tun. Aber: ist der Gedanke einer gewünschten Veränderung – und hier die Frage die an anderer Stelle anzugehen wäre: was ist eine gewünschte Veränderung - erst mal artikuliert und symbolisiert, verschwindet das Symptom (der Verdrängung).

31. Januar 2020