Der Spuk der Dekonstruktion (nur für Gläubige)
Heute ist Halloween, eine Unruhenacht, in der Geister, Gespenster und Untote ihr Unwesen treiben. Meist sind es wohl Kinder, die das Spukgeschäft, d.h. den Tausch „Süßes sonst gibt`s es Saures“ betreiben, bevor „All Hallows’ Eve“, also der Abend vor Allerheiligen, um Mitternacht zum ersten November und damit zum christlichen Festtag wird, an dem aller Heiligen gedacht wird. Heilige sind diejenigen, die es christlich gesehen schon zur Vollendung gebracht haben, für die der Spuk also vorbei ist. Während sich für die Heiligen die Dinge in guter Weise erledigt haben, spukt es für die Gläubigen weiter, ist die Welt doch beseelt von unerledigten Dingen. Umgekehrt gilt: Ungläubig ist nur der, der meint, die Heimsuchung, die aus der Vergangenheit in die Gegenwart reicht, nicht zu kennen. Wer könnte sich unter solchen Vorzeichen wirklich als Ungläubiger bezeichnen? I’m a believer!?
Die Anschlussfrage für alle Gläubigen lautet nun, wie werde ich zu einem Heiligen? Oder, um die Aussichtslosigkeit der Sache etwas freundlicher zu gestalten: Wie bekomme ich das Unerledigte aus der Welt, wie bereite ich dem Spuk ein Ende? - Als Parenthese: ein spuk- und spaßbefreiter Zug des Protestantismus besteht darin, hart und fleißig zu arbeiten, redlich zu leben und ansonsten auf die Gnade Gottes zu vertrauen. So geht’s auch, aber ist das noch ein Leben? - Auf einer mehr theoretischen und denkerischen Ebene hat Jacques Derrida sich dieser Frage angenommen - also der Spuk-Frage -, Meister und Begründer der Hantologie und Experte für dekonstruktive Angelegenheiten.
Um es vorweg zu beantworten: für Derrida kann (und muss) das Unerledigte angedacht und angegangen werden; es kann (und muss) im Namen der Gerechtigkeit besprochen, bearbeitet und schließlich begraben werden. Da wir es aber mit weltlichen Angelegenheiten zu tun haben, wird es – so man mit dem Anti-Hegelianer Derrida denkt - zu keiner Erlösung kommen – wir leben phylogenetisch gesehen in einer Fortsetzungswelt. *
Die interessante und im eigentlichen Sinne höchst politische Frage: wie stehen wir zu den unerledigten Dingen und wie können wir sie angehen? Bekanntlich bestehen Welt und unser gemeinsames Zusammenleben auch aus der organisatorischen Anstrengung möglichst viel erledigt zu bekommen. Die Gesellschaft und erst Recht die Ökonomie ist (auch) ein Erledigungszusammenhang. Ein kurzer Blick auf die Gegenwart, und - so Zeit vorhanden - ein längerer in die Vergangenheit, zeigt, dass das nicht richtig funktioniert (hat): irgendwas ist immer, zum Teil auch deshalb, weil die Kategorie der Erledigung nicht zu den Dingen passt, mit denen wir konfrontiert werden. Als nicht ganz unrelevant hat sich die Frage herausgeschält, welche Art von Reste-Verwertung und Mangel-Management wir zuneigen. Die klassisch metaphysische Antwort lautet grob: die Vollkommenheit ist greifbar, die Erlösung machbar. Das was nicht passt, also der Rest, muss eliminiert, das was fehlt, also was mangelt, noch hinzugefügt werden. Als Mechanismus zur Herstellung wünschbarer Verhältnisse hat sich in diesem Zusammenhang die Kritik durchgesetzt, verstanden als konstruktive Anleitung zur Komplementierung unvollständiger Lebenslagen und -welten. **
Und die Dekonstruktion? Genau, die Welt ist nicht zur Vervollkommbarkeit, zur Erlösung bestimmt, sondern gezeichnet durch die produktiven, wenn auch nicht immer „schmerzfreien“ Momente der Differenz und des Aufschubs. Ausgehend davon und getrieben durch unsere Heimsuchungen, gilt es die erledigungstechnischen Vereisungen, Sedimente und Verhärtungen aufzutauen (Arendt), abzubauen (Heidegger) und zu dekonstruieren (Derrida), damit es wieder Frühling werden kann, wir das Spielfeld sehen und mit scheinbar alten Steinen neu beginnen können.***
Doch die Dekonstruktion eignet sich schlecht, um lediglich Ideologien zu öffnen und zu zerlegen, ohne sich selbst aufs Spiel zu setzen. Wir sind alle Metaphysiker, die von verschiedensten Dingen heimgesucht werden und deshalb - vielleicht - zu Dekonstruktivisten werden, um andere Anfänge bzw. Ausgänge suchen und zuweilen auch zu finden: Neubeginn. Aber wir werden auch dann nicht jenseits „der Ideologie“ landen oder leben können. Unvermeidlich fallen wir wieder auf oder in (neue) „Konstruktionen“ zurück, also zurück in unsere Erledigungs- und Entscheidungszusammenhänge. Hier würde uns die Dekonstruktion daran erinnern, dass wir davon lassen sollten, unsere „Konstruktionen“ in der Hoffnung auf Vervollkommnung immer weiter abzudichten, mit der Folge, uns und anderen Gewalt anzutun; uns an das Versprechen erinnern, dass es jenseits des Zwangs und/oder der Versuchung auf Vervollkommnung immer andere Ausgänge geben kann.
Die Konstruktionen metaphysischer und ideologischer Art können also nicht einfach verworfen werden. Unser Leben ist geprägt von Entscheidungen, geprägt von den Ausschließungen, die damit einhergehen, von den Grenzen, die davon zeugen. Ein Großteil der Moderne war (und ist teilweise noch) von der Illusion geprägt, dass diese einschränkenden Grenzziehungen im Zuge des Fortschritts und der Vervollkommnung verschwinden werden, ebenso wie die Gespenster und der Spuk. Wenn Dekonstruktion hingegen die Kunst des öffnenden Umgangs mit den Konstrukten, die Begegnung mit den Gespenstern „ist“, nicht der Wille zur Überschreitung oder Verwerfung, dann liegt auch der Gedanke nahe, dass unsere metaphysischen Konstrukte nicht nur „Funktionen“, sondern auch spezifische Qualitäten haben, die keineswegs voraussetzungsfrei sind. Peter Sloterdijek schreibt in seinem lesenswerten Derrida-Essay „Der Denker im Spukschloss“:
„In Wahrheit sind, wie Derrida zeigt, die Träume der Metaphysik unruhige Fabrikationen, die nicht wirklich vom Selbstgenuss des Wissens oder der Macht Zeugnis geben, sie sind vielmehr Manifestationen einer allumfassenden Sorge um sich und um das Gebäude der Welt und des Wissens – mit einem Wort, sie stellen eher kompensatorische Gebilde dar, die gegen die Gefahren der Unwissenheit und der Unübersichtlichkeit Abwehren errichten.“
Peter Sloterdijk: Der Denker im Spukschloß (2009); in: Was geschah im 20. Jahrhundert; Berlin 2016; S 168
Ich bin mir nicht sicher, ob Derrida diesen Satz in seiner Eindeutigkeit unterschrieben hätte. Worauf Sloterdijk zu Recht verweist: unsere Konstrukte, keineswegs naturgegeben oder substanzgegründet, deshalb im eigentlichen Sinne symbolische Ordnungen, haben als geschichtlich geprägte immunitäre Bündnisse nicht nur einschränkende, sondern zugleich ermöglichende Potentiale.**** Weltoffenheit ist nur durch sphärische Sicherungen lebbar, wobei umgekehrt die Sicherungen immer wieder am Offenen sich zu orientieren haben, so Sloterdijk weiter. Wenn also im Zusammenspiel von Sicherung und Offenheit die Qualität symbolischer Ordnungen in den Blick gerät, dann könnte man fast versucht sein, diese Qualität am Umgang mit den unvermeidlichen Gespenstern festzumachen. Kurzum: wenn die Gespenster zu Halloween klingeln, auf jeden Fall Süßigkeiten rausrücken.
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* Vielleicht könnte man sagen, dass das messianische Moment, das aus der Zukunft auf uns zukommt, uns nicht erlöst, sondern als erlösendes Versprechen uns immer nur ein Stück einer Lösung zukommen lässt. Und für Christen: die Auferstehung vollzieht sich nicht in dieser Welt; hier unten bleiben immer nur die Untoten.
** An dieser Stelle ein kurzer Hinweis zu den Kantschen Kritiken: Bekanntlich besteht die „Kritik der reinen Vernunft“, um eine Kritik herauszunehmen, nicht daraus, die Vernunft zu desavouieren, sondern ihren Geltungsbereich zu umgrenzen; insofern hält sich hier die Kritik noch am Rande der Immanenz.
*** Inzwischen hat es der Begriff, oder sagen wir besser das Wort „Dekonstruktion“ es fast bis in den Alltagsprachgebrauch geschafft, zumindest jedoch die feuilletonistischen Höhen erklommen, wobei es einer eigenen Untersuchung bedürfte, um jene schönen Verwechslungen nachzuzeichnen, die aus ihm einen kritischen Terminus machen: „Es ist notwendig diese Sicht der Dinge zu dekonstruieren (böse Meinungen, böse Meinungen), wobei ich schon im voraus weiß, dass mich nichts weiter erwarten wird, als die Richtigkeit meiner eigenen Wahrheit.“
**** Es ist offensichtlich, dass die geschichtliche Antwort auf eine einstmalige totalitäre Schließung nicht darin bestehen kann, im Namen der Offenheit alle Grenzen und Sicherungen zu negieren. Letzteres bleibt in unguter Weise an das gekettet, was unbedingt vermieden werden soll. Die Verachtung der eignenen symbolische Ordnung (im Namen eines universell Guten), wird jenes Moment schwächen, was das Zusammenspiel von Offenheit und Sicherung trägt. Nicht das Gespenst der totalitäre Schließung, sondern das der Nichtung der demokratischen/politischen Nation steht vor der Tür.
31. Oktober 2018