Allein, einsam und bloß, so west das Menschenkind auf Erden. So würde das der Protestantismus sicher nicht sagen, hat aber in seiner Hinwendung zum unmittelbaren Gottesbezug einige "Allein-Sein-Postulate" aufgestellt:
Sola Fide (allein der Glaube)
Sola Scriptura (allein die Schrift)
Solus Christus (allein Christus)
Sola Gratia (allein die Gnade)
Soli Deo Gloria (allein Gott gehört die Ehre)
Unschwer ist dabei zu erkennen, wie durch Umgehung bis dahin gängiger Vermittlungsinstanzen, primär der römisch-katholischen Kirche, der Gottesbezug fast bis auf die Knochen frei geschabt wird. Kein Ablassbrief, kein Priester, kein Pabst kann dir bei deinem Seelenheile helfen, heißt es von nun an in der reformatorischen Kehre. Alles Äußerliche wird sich entledigt, die Liturgie entschlackt, der Prunk der Kirchen asketisiert, bis der nackte Mensch in sinnlicher Genügsamkeit allenfalls in die nun übersetzte Bibel schauen kann, fortan bemüht, in seinem Glauben auf die Gnade Gottes zu vertrauen. Diese neue Innigkeit zwischen Erde und Himmel, in früheren Zeiten ein Privileg der mystisch inspirierten Gestalten des Katholizismus, führt einerseits zu größeren Energieaufladungen in Glaubensdingen, bringt aber andererseits die Gefahr des unmittelbaren Kurzschlusses mit sich. Auch der Aspekt der Bedürftigkeit erfährt eine gegenstrebige Fügung. Während auf der einen Seite keinerlei Autorität meine Beziehung zu Gott konfigurieren kann und darf, bin ich auf der anderen Seite umso mehr der transzendenten Macht ausgeliefert. Die neue Nähe zu Gott ist immer auch ein Welt- und Souveränitätsverzicht für das eigene Ego.
Von nun an kann es eine Wette werden - und wie Max Weber erkannte, hat dies im weitesten Sinne dann irgendwann später auch mit Geld zu tun -, wie nah ich Gott kommen kann. Ich muss nur radikal genug der Welt den Rücken kehren und meine christliche Lebensführung radikalisieren, um die Chancen - vielleicht - tatsächlich zu erhöhen. Vom Pietismus bis zu den Zeugen Jehovas wurde dieser Weg immer wieder mit Überzeugung beschritten. Wie heißt es bei Johannes 18,36: "Mein Reich ist nicht von dieser Welt."
Aber wie jede Münze, die zum Einsatz kommt, hat auch diese eine Rückseite, auf der geschrieben steht: wenn ich mir in transzendenten Dingen die Abdankung jedweder Autorität genehmige, was hindert mich daran in weltlichen Dingen die Souveränitätsfrage zu stellen, nun mit umgekehrten Vorzeichen. Denn wenn das Band, das die beiden Körper des Königs - den weltlichen und göttlichen - einst zusammenhielt, scheinbar endgültig durchschnitten ist, wem gehört dann meine weltliche Stimme. Im ersten Schritt nicht Rom, sondern meinem lokalen Fürsten und im zweiten meinem Volk und meiner Nation. Die Einsamkeit des Glaubens-Ichs, so man dieses Ego nicht zur Lobpreisung Gottes radikal vereinsamen will, kompensiert sein transzendentales Ausgeliefertsein durch die Hinwendung zur Macht und zur Gemeinschaft. Wenn mein Ich dem lieben Gott gehört, dann muss das Wir bitte schön unter uns bleiben. Fast scheint es so, als ob der Protestantismus die Immanenz der bestehenden Verhältnisse geradezu heraufbeschwört. Die Geltung des Faktischen soll daher von allen Einflüssen beschützt und bereinigt werden, die nicht der gemeinsamen Souveränität unterliegen. Die ästhetische Urteilskraft gilt hier ebenso wenig wie der Zwischenraum des gemeinsamen politischen Handelns. Im Zweifelsfall ist der Status Quo die bessere Wahl, die Entscheidung zum Staatskirchentum demnach folgerichtig. Der Einwand, dass protestantische Christen für ihre Überzeugungen gestorben sind, auch explizit in Gegnerschaft zum politischen System, verkennt, so bewunderns- und ehrenwert diese Haltung im Einzelfall gewesen ist und aktuell auch sein mag, dass dieser Widerstand meist aus der Gegenwehr zur Übergriffigkeit des Systems auf den persönlichen Glaubenskern entstanden ist und nicht aus genuin politischen Motiven.
Wenn der heutige Protestantismus seinen Staatkonformismus und seine Staatstreue politisch konterkarieren möchte, ohne wiederum auf das einsame Glaubens-Ich rekurrieren zu wollen, so bleibt in Ermangelung einer Idee des Politischen nur der Rückgriff auf einen faden universellen Moralismus. Es steht zu befürchten, dass damit auch der produktivere Kernbestand der Reformation, sozusagen die energetische Aufladung des Ichs - sola fide, sola gratia -, langsam dahinschwindet. Demnach heißt es dann nicht nur: wie weiter mit der Welt, sondern auch: wie weiter mit Gott?
31. Juli 2017