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Die unvollständige Entzauberung

Der Begriff der Entzauberung nimmt Ende des 19. Jahrhunderts seinen Aufschwung. Nachhaltig geprägt hat ihn dann der Soziologe Max Weber in seinem 1919 erschienenden Aufsatz "Wissenschaft als Beruf". Dort heißt es:

 „Die zunehmende Intellektualisierung und Rationalisierung bedeutet also nicht eine zunehmende allgemeine Kenntnis der Lebensbedingungen, unter denen man steht. Sondern sie bedeutet etwas anderes: das Wissen davon oder den Glauben daran: daß man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren könnte, daß es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, die da hineinspielen, daß man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne. Das aber bedeutet: die Entzauberung der Welt."
Max Weber: Wissenschaft als Beruf, in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre; Tübingen 1988 (1919); S. 594

 In früheren Zeiten waren die Kenntnisse der Lebensbedingungen also keineswegs geringer, eher im Gegenteil, nur waren sie teilweise durchsetzt mit magischen Elementen. Heutzutage andererseits können die meisten von uns nicht genau oder vollständig erklären, welche physikalischen und technischen Prinzipien beispielsweise Computersysteme funktionieren lassen. Aber wir sind natürlich überzeugt, dass es solche Prinzipien gibt, dass sie auf wissenschaftlichen Fundamenten ruhen und dass wir diese, so wir uns Mühe geben, auch nachvollziehen können. Weber sagt, dass es ausreicht, wenn wir damit 'rechnen' können, dass Technik funktioniert, während der 'Wilde' seine Werkzeuge noch ungleich besser verstand.

In diesem Zusammenhang führt Weber, einige Zeilen vor dem obigen Zitat, ein eigentümliches Beispiel an. Selbst Nationalökonomen könnten die Frage, so Weber, wie das Geld es macht, dass man dafür etwas kaufen kann, nicht einstimmig beantworten.

Was sollen und können wir aus diesem Hinweis schlussfolgern? Dass prinzipiell auch das Geld berechenbar ist, die dazugehörige Wissenschaft jedoch noch weiterentwickelt werden muss, sich also - noch - nicht auf der Höhe des Seins befindet? Oder dass es im Herzen des gesellschaftlichen Lebens weiterhin Dinge gibt, die magisch funktionieren? Im ersten Fall wäre die Entzauberung sozusagen - noch - nicht ganz abgeschlossen, im zweiten wäre sie schlichtweg unvollständig.

1921 schrieb Walter Benjamin das Fragment "Kapitalismus als Religion". Im Zentrum seiner Überlegungen steht die These von der Umwandlung des Christentums (in der Reformationszeit) zum Kapitalismus. Dies soll sich nach Benjamin primär durch eine Schuldumwandlung bzw. Schuldradikalisierung vollziehen, dergestalt dass nun eine totale Verschuldung ohne eine in Aussicht gestellte Erlösung einsetzt: Gott wird durch Geld substituiert (An dieser Stelle sei dahingestellt, ob mit dem Geld nicht auch eine andere Schulddynamik in Gang gesetzt wurde, die Schuld nicht mehr als eine durch die Vergangenheit verursachte Bürde, sondern als Hoffnungszeichen für eine produktive Zukunft liest. Erst wenn die Schulden nicht mehr getilgt oder diese beglichen werden, hört eine dynamisch sich entfaltende Zukunft, das heißt wirtschaftliches Wachstum auf).

Das von Weber fast beiläufig erwähnte Geld-Beispiel ist demnach alles andere als eine Nebensächlichkeit. Vielmehr durchwebt ein Schuldzusammenhang unser Sein, der sich der Berechnung entzieht (obwohl und weil wir permanent mit dem Geld rechnen). Die scheinbare Immanenz des Geldes lässt vergessen, dass mit ihm eine Vergebungs- und Versprechensdimension, mithin zeitliche Latenzen verbunden sind, die dem souveränen Zugriff der Menschen nicht zugänglich sind. Oder anders formuliert: das Geld verzaubert uns weiter.

24. April 2017