Es mangelt an: Nichts
Der Mensch, ein Mangelwesen. Wir kommen biologisch gesehen zu früh auf die Welt und müssen die ersten Monate, Jahre mit fremder Hilfe über die Runden gebracht werden. Wenn wir dann auf eigenen Füßen stehen, hört der Mangel keineswegs auf. Das Leben, eine zu kurz geratene Bettdecke: wie man sie auch zurechtzupft, zu kurz bleibt zu kurz. Entweder mangelt es oben oder unten an Wärme. Irgendwas ist immer.
So profan der Befund, so groß die Hoffnung auf Besserung, einstmals. War es nicht das Versprechen der Moderne, den Mangel, unseren Mangel endlich aus der Welt zu schaffen. Während noch vor hundert Jahren (in Worten: vor hundert Jahren) das Auto, der Fernseher, der Kühlschrank und das Mobiltelefon - eine zufällige Auswahl - für das normal sterbliche Mangelwesen kaum zur Verfügung standen, oder aufgrund technischer Limitiertheiten noch nicht einmal imaginierbar waren, freuten sich die meisten Menschen wohl über ein Bett, ordentliche Kleidung, über ausreichende gute Nahrung, über eine medizinische Notfallversorgung – ebenfalls eine zufällige Auswahl. Letzteres mag für einige Teile der Welt immer noch gelten, aber in jener Welt, die man westlich nennt, hat der große Mangelaufheber, etwas zu pauschal Kapitalismus genannt, die Verhältnisse fast grundlegend bereinigt. Inzwischen werden Mangelzustände produktbezogen versorgt, von denen wir nicht einmal ahnten, dass es sie gibt. Mangel scheint also eine relative Sache zu sein. Strickt man fleißig an der Bettdecke, scheint der Körper im gleichen Maße mitzuwachsen.
Allein, dies ist nur die halbe Wahrheit, maximal. Denn schon früher hieß es: der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Spätestens wenn man nicht mehr weiß, wohin mit all den Produkten, die für unsere Mangelaufhebung konzipiert wurden (best practice: Mülltonne), merkt man, dass der Mangel längst an anderer Stelle an uns nagt, ja schon immer genagt hat. Inzwischen weiß das natürlich auch Kollege ‚Kapitalismus’ und versucht die Produkte identitätsstiftend und für Anerkennungszwecke passend zu vermarkten (Stichwort: branding etc). Der Mehrwert lag noch nie in der Materie beschlossen.
Aber diese Art von Kritik ist billig. Die Vorstellung unendlicher Energieströme, die, um kein Mangelgefühl aufkommen zu lassen, permanent warenförmig in die Wohlstandskollektive eingespeist werden, bricht sich am Unbehagen derer, die postmateriell die Produktsackgasse mit Turboantrieb schon längst erkannt haben. Nein, die aufgeklärten Menschen wissen (und die konservativen schon längst), dass der Mangel keineswegs nur Bedürfnisse erschafft, die mit dem passenden Produkt kurzerhand zu befriedigen wären.
Selbst von immateriellen Bedürfnissen zu sprechen geht am Kern der Sache vorbei, produziert doch unsere Körper-Geist-Maschine in Rückkopplung mit dem, was Gesellschaft zu nennen wir uns angewöhnt haben, nicht nur dynamisch und situativ immer neue Momente des Mangels, sondern zugleich solche, die uns nur selten in aller Klarheit zu Bewusstsein kommen. Vielleicht ist es auch hilfreich den Komplementär-Begriff, nämlich den des Begehrens ins Spiel zu bringen. Ohne Begehren kein Mangel, ohne Mangel kein Begehren. Der Mangel drängt, das Begehren zeigt und spricht.
Dies im Hinterkopf jetzt also zu der der Frage, wie wir mit unserm Mangel/Begehren umgehen können, so wir nicht weiter auf den alten Schlawiner Kapitalismus, wie es liebevoll in einem Lied heißt, setzen können oder wollen. Darüber, keine Übertreibung, wurde schon das ein oder andere Buch geschrieben. Die konservativen Antwort-Varianten mögen existieren, haben es jedoch nicht zu großer Popularität gebracht. Aus gegebenem Anlasse, Vortrag von Götz Kubitschek, gehalten am 15. 02. 2018 in Kopenhagen*, der Versuch einer Auseinandersetzung, wobei besagter Text die Frage nur implizit aufgreift.
Erster Punkt: entschiedene Ablehnung dessen, was die Optimierung und Vernutzung des Menschen vorantreiben will. Dagegen Bejahung der fundamentalen Freiheit und Verantwortung für das eigene Leben. Ein Ja zum Mangel, zur Last der Geschichte, zur Leidenschaft, zur Trauer, zum Zorn, zum Risiko. Also grundlegende Anerkennung des Mangels und des leidenschaftlichen Begehrens als Voraussetzung für ein Leben, das auch so genannt werden kann.
Schon im „Anschwellenden Bocksgesang“ von Botho Strauß, Kubitschek geht der Frage der Wirkungsmächtigkeit dieses Essays nach, hieß es, dass sich die Rechte keine künftige, heilsgeschichtlich gefärbte Utopie ausmale, sondern Wiederanschluss an die lange, unbewegte Zeit suche:
„Sie ist immer und existentiell eine Phantasie des Verlustes und nicht der (irdischen) Verheißung. Eine Phantasie also des Dichters, von Homer bis Hölderlin.“
(Botho Strauß: Anschwellender Bocksgesang; in: Der Spiegel vom 08.02.1993)
Das ist gesprochen gegen die durchaus ins Totalitäre kippende Idee eines Himmels auf Erden, gegen die phantasmatische irdische Verheißung, wobei die sorgfältig gesetzte Klammer um irdisch den vertikalen Bezug offen lässt. Das, was wir Menschen teilen, ist zunächst und zuerst der Mangel und der Verlust, nicht die Erfüllung. Daran zu erinnern, ewige Dichterpflicht, ist eine Mahnung an die menschliche Hybris und ein Wink an unser gemeinsames Band.
Und ja, in diesem Zusammenhang werden auch die durch die Gegenwartsfixierungen zum Schweigen gebrachten Primärtugenden eines seinsoffenen und -bewahrenden Lebens ins Spiel gebracht, die da lauten: Hinhorchen – Dankbarsein – Wiederherstellen. In anderen Kontexten von anderen Autoren heißt es, dass wir unsere Gespenster pflegen sollten, wollen wir eine Zukunft haben. Hier allerdings sind wir an einen kritischen Punkt angelangt, der in die Frage mündet, ob wir es mit einer rein reaktiven, quasi aufhaltenden Geste zu tun haben: Katechon? Auch Strauß bleibt im „Anschwellenden Bocksgesang“ was den - wenn man es so nennen will – konstruktiven Teil angeht - sicherlich nicht sein primäres Anliegen -, etwas vage. Zumindest gibt er den Hinweis, dass bei der fortgesetzten Erosion von Tradition und Autorität wir in der Not freischwebend werden:
„Aber in wessen Hand, in wessen Mund die Macht und das Sagen, die Schlimmeres von uns abwenden?"
Aber welche Not und welches „Schlimmeres“ ist schließlich gemeint? Handelt es sich um die am Horizont in neuer Gestalt aufziehende Hybris neuer Vervollkommnungsattacken, die durch das richtige Sagen aus der Tradition heraus abgewendet werden müssen. Abwegig ist diese Sorge keineswegs. Man denke nur an die gentechnischen Eingriffe ins Erbgut und an die kühnen bis abstrusen Visionen künstlicher Intelligenzen. „Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch“ und so sieht Götz Kubischek im November die Kreuzkirche in Dresden immerhin voll besetzt, wenn dort das Brahmsche Deutsche Requiem gegeben wird.
Jedoch, was ist der Punkt?. Mag Strauß noch einen poetisch gefärbten Text geschrieben haben, in dem es sich dichterisch sicherlich wohnen lässt, so gilt das für Götz Kubitschek, als einen politisch engagierten Schreiber und Verleger, und seinen Text nicht, mögen auch die poetisch-pathetischen Anteile hoch sein.
Das heißt, in Fragen des Politischen geht es nicht nur um die Abwehr imaginärer, letztendlich destruktiver Verheißungen (konservatives Moment), sondern auch um die Frage der Kreation, des Gestaltens und des Versprechens. Dabei ist ein politisches Versprechen keine ideologische Verheißung, auch wenn, ganz sophisticated, ein Teil des Versprechens die Abwehr der Verheißung umfassen kann. Denn schließlich besteht die in Anspruch genommene Freiheit nicht aus heiliger Mangelbewahrung oder aus reinem Schmerz, sondern auch daraus, auf das Begehren eine neue, gemeinsame Antwort zu finden.
Angefangen bei den Fragen der Mobilität, über die Energieversorgung, die Landwirtschaft, die Tierhaltung bis hin zur medizinischen Versorgung und der Arbeitswelt, um nur einige Stichworte zu nennen, sind andere Weltentwürfe denkbar. Nun erwartet niemand in einem Vortragstext ein ausgearbeitetes Thesenpapier zu politischen Fragen, die an anderer Stelle auch nur unzureichend beantwortet werden. Aber die Einbindung von Kreations- und Versprechensmomenten auf einer theoretischen/abstrakteren Ebene wäre möglich. Denn ansonsten entsteht der nicht unbegründete Verdacht, dass es sich lediglich um eine konservative Verhärtungsstrategie handelt, die das Begehren still stellt. Dann bekommen Schmerz und Verzicht einen Wert an sich, anstatt sie als unausweichliche Momente des Lebens zu sehen, mit denen man sich nolens volens auseinandersetzen muss.**
Eine Ethik angesichts des Mangels? Dem Begehren nicht nachgeben (im Sinne einer Verheißung), das Begehren nicht aufgeben (im Sinne der Konformität oder eines falsch verstandenen Konservatismus). Es ist offensichtlich, dass jedes Zeitalter seine eigenen Schauplätze schafft, auf denen das Begehren sich je spezifisch einzuschreiben sucht.***
Und um eine letzte - etwas forcierte - Schraubendrehung vorzunehmen. Wenn die Tradition weniger ein Hafen, denn eine vielfältige Quelle ist, aus der man immer wieder neu schöpfen kann und die mit jedem Schöpfungsvorgang sich mit anderen Quellen vermischt und neue Quellen entstehen lässt, wie sollte es dann reine Quellen geben? Und warum sollte eine reine Quelle wünschenswert sein? Sind die besten Momente unseres Lebens nicht produktive Mischungen?**** Dies dürfte gelten, solange man den Mangel, sein Begehren und das Begehren des Anderen ernst nimmt. Bezogen auf den politischen Raum und die politische, demokratische Nation, also bezogen auf den gemeinsamen Raum der politischen Freiheit, gibt es keinen „reinen“ Bürger, der durch Abstammung oder intensive Traditionsbewahrung besondere Rechte beanspruchen darf, was aber umkehrt nicht heißt, dass der Zugang zu diesen politischen Raum voraussetzungslos ist.
Für alle, die das Recht, Rechte zu haben - was nur innerhalb eines politischen Gemeinwesens, nicht in einer Weltbürgergemeinschaft möglich ist -, nicht qua Geburt geschenkt bekommen haben, gibt es formale Voraussetzungen für den Zugang, womit es scheinen könnte, als wäre mit der Erlangung dieses Rechts und der Anerkennung seiner Geltung die Inklusion vollständig. Damit aber eine politische Nation als Freiheits- und Konfliktraum existieren kann, müssen die Bürger, vermittelt durch welchen politischen Diskurs auch immer, ihre eigenen identitätsverknüpften Anliegen artikulieren können und wollen, sowie die Anliegen der Anderen verstehen und partiell akzeptieren können und bereit sein, sich darüber auseinanderzusetzen. Oft wird in diesem Zusammenhang von Zivilgesellschaft gesprochen, was die Sache nicht trifft. Eher: konflikthafter Austrag identitätsberührender Momente mit affektiver Aufladung - das ist weniger politische Romantik, denn demokratischer Glutkern. Kurzum, es gibt für den politischen Austrag, bei dessen Fehlen ein politischer Raum implodiert, anspruchsvolle Voraussetzungen, die insbesondere für Neubürger im ersten Schritt des Ankommens mehr oder minder schwer zu erfüllen sind, aber den Kern der Integration als politische Partizipation ausmachen.*****
Eigenartiger Weise spielt dieser Aspekt der Integration in der Zuwanderungsdebatte kaum eine Rolle. Menschen mit einem anderen kulturellen Hintergrund können selbstverständlich eine Bereicherung sein, wenn sie bereit und fähig sind, das Gemeinwesen mitzutragen und mitzugestalten. Damit zusammenhängend ist es ebenfalls unbestreitbar, dass man den Zugang zu einem politischen Gemeinwesen nicht überdehnen darf, will man seine grundlegenden Prinzipien und Möglichkeiten nicht mittel- und langfristig zerstören. Dabei geht es weniger um die anfallenden Kosten oder darum, dass jemanden etwas weggenommen wird (richtig bleibt auch hier, dass man die Einnahmen nur einmal verteilen kann), sondern um die, wenn auch langsame Zerstörung eines Freiheits- und Konfliktraums, den man weder mit funktionalen Mitteln, noch mit moralischen Ressourcen eben mal wieder aufbauen kann, was für alle Seiten desaströse Auswirkungen haben dürfte.
Nun scheint es mir, dies die letzte Anmerkung, dass der rechte Diskurs die Ein- und Zuwanderungsdebatte zuweilen nicht im Namen der (bedrohten) Freiheit, sondern im Namen der kulturellen Identität und einer reinen Tradition führt. Warum das ein entscheidender Unterschied ist? Weil sonst die irdische Verheißung aufkommen könnte, dass das deutsche Volk am besten unter sich bleiben sollte, um so den Mangel doch aus unserer Welt zu eskamotieren oder zumindest am schönen Schmerz sich zu ergötzen. Um Ernst Jandl zu zitieren: „werch ein illtum“.
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* Gefunden auf Sezessions-de: Götz Kubitschek: Nachtgedanken (5): angeschwollener Bocksgesang; 23. Juli 2018; dort auch als PDF verfügbar
** Um zu sich selbst zu kommen, ist es zuweilen notwendig den Riss in sich zu spüren, vielleicht. Aber ob es zielführend ist, auf den Schmerz hinzuarbeiten, um im Land der letzten Dinge das Leben zu spüren, weil ansonsten am Lebensrand so gar nichts mehr gedeiht, ist doch fraglich.
*** Auch wenn die stiftenden Dichter das Selbe sagen, so sagen sie doch nicht das Gleiche. "Das Selbe lässt sich nur sagen, wenn der Unterschied gedacht ist." Martin Heidegger: „…dichterisch wohnet der Mensch.“, Vorträge und Aufsätze, GA 7, Frankfurt/M. 2000, S 197
Und noch eine kleine Anmerkung zu einer Art konformistischen Konservatismus, den ich Kubitschek nicht unterstellen möchte. Mentalitäten wie „weil wir das immer so gemacht haben“ oder, einer abstrakten Verzichtslogik folgend: „weil es nicht geht“ sind nicht immer eine gute Antwort. Das weiß jede lebendige Tradition, die zu ihrer Fortschreibung und Umschreibung anstiftet. Und: Die Antwort im Unterschied zur Reaktion lässt immer Spielraum, ist also keine Wiederholung. Um nochmals Botho Strauß und den „Anschwellenden Bocksgesang“ zu zitieren: „Das Genaue ist das Falsche. Es läßt den Hof, den Nimbus nicht zu. Unsere Lebenssphäre ist das Vage, das Ungefähre.“
**** Dies hat nichts mit einer toleranten Beliebigkeit zu tun, wie sie von einem bestimmten Liberalismus gelebt wird. Jede Mischung, die den Namen verdient, ist das Produkt einer - konflikthaften – Durcharbeitung. Daher auch der berechtigte Vorwurf an den Liberalismus, die in Anspruch genommenen Ressourcen nicht zu regenerieren bzw. nichts zu deren Regeneration beizutragen.
***** Sollte dieser Schritt nicht möglich sein, wäre vielleicht die Assimilationsforderung immerhin noch besser, als die gutmütige Billigung parallelgesellschaftlicher Lebensweisen. Das Unbehagen an den parallelen Lebenswelten besteht m.E. nicht darin, dass hier andere kulturelle Praktiken gepflegt werden. Das Problem taucht vielmehr an den Bruch- und Konfliktlinien auf, die durch diese Praktiken entstehen. Zum einen werden Überschreitungen rechtlich nicht konsequent geahndet und zum anderen werden diese Konflikte auch nicht politisch ausgetragen bzw. können nicht ausgetragen werden können. Was oftmals bleibt ist ein Vakuum, das sich, bis hin zu kriminellen Strukturen verselbständigt.
Enttäuschend ist in diesem Zusammenhang oftmals auch das Verhalten großer Teile der muslimischen Verbände und Gemeinden. Einerseits werden Rechte eingefordert, während andererseits kleine Zeichen der Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen politischen Artikulationsraum ungenutzt bleiben. So kamen zum Beispiel 2017 zur muslimischen Demonstration gegen den fundamental-islamistischen Terror kaum 2.000 Bürger. Die Chance, verunsicherten Mitbürgern zu verstehen zu geben, dass man ihre Befürchtungen und Ängste wahrnimmt und als Bürger mit muslimischen Wurzeln den Terror ebenso entschieden ablehnt, wurde vertan. Wer dazugehören möchte, muss sowohl hinhören als auch adressieren können. Ansonsten bleibt allein der Eindruck der Gleichgültigkeit.
26. Juli 2018