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Etwas Besseres als das Nichts finden wir n/irgendwo

Vielleicht gibt es eine kollektive Imagination dessen, was für uns Heutigen das Nichts "ist" (Schon die erste Frage: Hat denn das Nichts ein Sein?). Und wahrscheinlich ist diese Imagination nicht weit entfernt von den Bildern, wie sie in der Verfilmung von Michael Endes "Unendlicher Geschichte" gefunden wurden. Die Welt (in diesem Fall eine Phantasiewelt) wird durch das dunkle schwarze "Nichts" zerstört. Immer größer werdende Teile der Welt verschwinden und zurück bleibt schließlich "Nichts". Das ist bedauerlich, ja bedrohlich und so muß der Held sich aufmachen, um das Nichts zu stoppen. Das Nichts muss aufgehalten werden; wo es auftaucht, droht der Untergang; wir erzittern.

Dass die Sache so einfach nicht liegt, bezeugt der Autor, Michael Ende selbst. Mit Blick auf seinen Roman und mit Bezug auf uns Europäer sagte er: "Es ist uns gelungen, alle Werte aufzulösen, und nun müssen wir hineinspringen, und nur, indem wir den Mut haben, dort hineinzuspringen in dieses Nichts, können wir die eigensten, innersten schöpferischen Kräfte wieder erwecken und ein neues Phantásien, das heißt eine neue Wertewelt aufbauen“ (Aus: http://de.wikipedia.org/wiki/Die_unendliche_Geschichte, Abruf:24.02.2021)

Der Vorschlag, in das Nichts hineinzuspringen, scheint mir keine einfache Angelegenheit zu sein. Ich weiß nicht, ob Michael Ende dabei an Martin Heidegger gedacht hat (in Bezug auf die neue Wertewelt jedoch eindeutig nicht, was dem Gedanken etwas von seiner öffnenden Kraft nimmt), der in seinem Buch „Der Satz vom Grund“ das Nichts auf seine Begründbarkeit hin befragte. Am Ende des Buches, nach einem langen und akribischen denkerischen Durchgang, schreibt Heidegger – wir vollziehen hier auch einen großen Sprung:

"Nichts ist ohne Grund. Der Satz sagt jetzt: Jegliches gilt dann und nur dann als seiend, wenn es für das Vorstellen als ein berechenbarer Gegenstand sichergestellt ist."
Heidegger, Martin. Der Satz vom Grund. 8. Aufl. Stuttgart: Neske, 1997, S. 196

Und - so die Schlussfolgerung die wir hier ziehen - weil das Nichts nicht als berechenbarer Gegenstand sichergestellt werden kann, ist es das Gegenteil von etwas Seiendem, nämlich Nichts. Vermutungsweise gilt aber im Umkehrschluss für eine nicht berechenbar-gründende Denkungsweise, dass das Nichts mehr „sein“ kann als nur Nichts. Also?

Leonard Cohen veröffentlichte 1992 auf dem Album „The Future“ den Song „Anthem“ mit den berühmt gewordenen Songzeilen:

“ There is a crack, a crack in everything. That's how the light gets in”

Das ist zum einen ein schönes Statement gegen den modernen (zukunftsbezogenen) Perfektionswahn. Zum anderen geben die Zeilen auch eine Art Hoffnung oder Versprechen, das man jedoch ganz unterschiedlich interpretieren kann. Eine mehr christlich inspirierte Interpretation würde betonen, dass selbst in den dunkelsten Momenten des Lebens (Angst, Schmerz, Armut, Krieg) das Licht des Guten auf die Dinge und / oder die Seele fällt (ich bin mir ziemlich sicher, dass diese Interpretation in zahlreichen Predigten schon seine Auferstehung gefunden hat). Dies ist in letzter Konsequenz eine Erlösungsphantasie. Aber wenn man genau liest, ist es nicht das, was Leonard Cohen sagt. Es sagt nicht, dass selbst in die zerbrochenen Dinge ein Fünkchen Hoffnung hineinscheint, sondern, dass der Riss überhaupt erst die Bedingung dafür bietet, dass Licht hineinkommt.

Bevor ich mit dem 1897 geborenen (und 1982 in Jerusalem gestorbenen) deutsch-israelischer jüdischer Religionshistoriker Gershom Scholem fortfahre, sei daran erinnert, dass Leonard Norman Cohen, geboren 1937, gestorben 2016, nicht nur aus einer jüdischen Familie stammt, sondern dass sein Urgroßvater Lazarus Cohen in Litauen Lehrer an der örtlichen Jeschiwa (religiöse Hochschule) war.

Also Sholem: in einem einem kleinen Essay mit dem Titel "Schöpfung aus Nichts und Selbstverschränkung Gottes" führt er einen Aufweis über die spezifische - historisch-theologische - Verbundenheit des Schöpfungsgedankens mit der „Idee“ des Nichts und zugleich eine Auseinandersetzung mit unseren griechisch-jüdischen Wurzeln. Das Ganze ist ohne Frage sehr verwickelt, insbesondere weil Scholem es aufgrund der mystischen und kabbalistischen Implikationen, denen er primär nachgeht, sehr fachspezifisch erscheinen lässt. Aber wenn der Essay ein Zentrum hat, dann in der These, dass das „Nichts“ als ein Abgrund mehr ist, als ein „Nicht-Sein“ im landläufigen Sinne. Landläufig heißt: aus Nichts kann nichts werden. Oder auch: aus dem Nichts kann man nicht schöpfen. Oder auch: „von Nichts kommt Nichts“.*

Scholem weist gleich zu Anfang darauf, dass der Mythos und das „mythische Denken“ im Gegensatz zu den monotheistischen Religionen keine Schöpfung aus dem Nichts kennen. Alles ist immer schon „da“ und in gewisser Weise vorbestimmt (Es gibt kein Nichts, sondern ein uranfängliches Chaos).

Im griechischen Denken gibt es die Kette von Schicksalsgliedern, die die Sterblichen an ihre Bestimmung bindet und unser Schicksal vorzeichnet. So sagt Sophokles in der Antigone:

"Erflehe nichts: Aus vorbestimmten Los
Vermag kein Sterblicher sich zu befrein."

Ebenfalls in dieser Spur läuft die stoische Vorstellung einer kosmischen Ordnung, in der wir unseren Platz erkennen und einnehmen müssen. 

Hingegen setze die jüdisch-christliche Tradition auf die absolute Freiheit des Schöpfers. Creatio ex nihilo meint, dass die Schöpfung der Welt als Werk des Schöpfergottes absolut voraussetzungslos ist. 

„Das Nichts, das die Schöpfung bedingt, das ist er (Gott) selbst.“ 
Scholem, Gershom. Über einige Grundbegriffe des Judentums. 1. Aufl., [Nachdr.]. Edition Suhrkamp 414. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1993 (1970), S. 68

Schließlich wäre Gott kein allmächtiger, so er auf ein vorgängiges Sein angewiesen wäre. Andererseits müssen Sein und Nichts in Gott ineinander verschränkt sein und bleiben. Denn würde man die Verschränkung nach einer Seite hin auflösen, würde man die Freiheit Gottes einschränken oder ihn selbst zum verschwinden bringen. „Es gibt ein Nichts Gottes, das das Sein gebiert, und es gibt ein Sein Gottes, das das Nichts darstellt“, sagt Scholem in Bezug auf Rabi Asriel (ebd. S. 78) 

Gott als vollkommenes Sein, also als ein in sich vollkommen gegründetes Sein, duldet eigentlich kein Nichts. Umso mehr die Frage: wie können Dinge bestehen, die nicht Gott selber sind. Antwort: Nur wo Gott sich „von sich selbst auf sich selbst“ zurückzieht, kann er etwas hervorrufen, was nicht göttlichen Wesen und göttliches Sein selber ist. (ebd. S 86)

Hierbei handelt es sich also um die Konzeption eines Gottes, der sich in sich selbst verschränkt, um Raum für die Schöpfung zu lassen. Scholem weist darauf hin, dass hier der Gottesgedanke nicht von einem unbewegten Gott ausgeht, sondern das Göttliche höchst lebendig werden lässt. Der „Rückzug“ Gottes bedeutet, dass Dinge außerhalb des Göttlichen Wesens existieren können, womit die unendliche Vollkommenheit seines Wesens punktuell beschränkt wird. Wenn man so will, hat Gott seine Freiheit für einen partiellen Verzicht seiner Allmacht genutzt, um auf der „anderen“ Seite auch eine wirkliche Freiheit entstehen zu lassen. Und so kommt es zu dem Paradox, dass ein perfektes Wesen seine Perfektion beschränkt, um eine Schöpfung im eigentlichen Sinne entstehen lassen zu können, ohne sie gänzlich loszulassen. Scholem führt diesen Gedanken wie folgt aus: „Es gibt kein reines Sein und kein reines Nichtsein.“ (ebd. S. 87)

Man kann das auch singen:

“ There is a crack, a crack in everything. That's how the light gets in”

Und schließlich – dies ist keine Hymne auf die Erlösung, sondern auf die Freiheit.

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*An dieser Stelle ergibt sich auch eine Nähe zu Heidegger, was die schwierige Frage aufwirft, was Heidegger dem jüdischen Erbe schuldet. Dazu: 
Zarader, Marlène. The Unthought Debt: Heidegger and the Hebraic Heritage. Cultural Memory in the Present. Stanford, Calif: Stanford University Press, 2006.
Sie argumentiert, dass Heideggers Seinsdenken auf Gedächtnis, Freundschaft und Gelassenheit beruht, also nicht so sehr das Seiende (die Inhalte) zum Gegenstand hat (was mit Berechnung, Repräsentation und Meisterschaft verbunden ist), sondern mehr eine bestimmte Denkungsart verkörpert. Dies umfasst laut Zarader mehr als nur die griechischen Ursprünge des Denkens (Logik etc.), was aber durch Heidegger insofern negiert wird, als das dieses Andere des (griechischen) Denkens dem griechischen Denken selbst als ungedachte Bedingung seiner Möglichkeit zu Grunde liegen soll (ebd. S. 193). Das biblische und jüdische Erbe wird somit Außen vor gelassen.

24. Februar 2021