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Fortschreitendes Zurückschauen - Frau Lot und Herr Orpheus

"Vorwärts immer, Rückwärts nimmer." Diese Redewendung aus DDR-Tagen, auch von dem hornbebrillten Staatsratsvorsitzenden genutzt, zeigt die Richtung an, mit der die Welt zu einem vollkommeneren Ort gemacht werden soll: nach vorne muss es gehen, der Fortschritt soll es richten. Dazu muss man nicht nur in Bewegung bleiben - besser ist, wenn gleich eine ganze Bewegung das Vorwärts trägt. So kamen und gingen nicht nur "sozialistische und faschistische Bewegungen", sondern beispielsweise auch die "neuen sozialen Bewegungen"; inzwischen gibt es auch eine "Identitäre Bewegung", die sich paradoxer Weise auf das zubewegen will, was jenseits aller Bewegung Bestand haben soll. Scheinbar gilt für das politische Leben wie für das Autofahren: nach vorne schauen (wenn man vorankommen will).

Umgekehrt wissen schon Kinderreime, dass hinterm Rücken das Unheil lauern kann (natürlich sagt der Fortschritt heute, dass das politisch nicht korrekt ist).
"Dreh' dich nicht um, denn der Plumpsack geht um. Wer sich umdreht oder lacht, kriegt den Buckel schwarz gemacht."
Besser nicht umdrehen. In der griechischen Mythologie und in der jüdisch-christlichen Tradition gibt es jeweils eine berühmte Erzählung, die von der Gefahr der Rückschau berichten. Zunächst der griechische Teil:

Orpheus und Eurydike (Ovid, Metamorphosen, Buch X)
Die Ultra-Kurzfassung: die Ehefrau von Orpheus, Eurydike stirbt an einem Schlangenbiss. Der nun sterbensunglückliche Musiker Orpheus steigt daraufhin in die Unterwelt, um durch götterherzerweichenden Gesang und Lyra-Spiel die Gebieter der Unterwelt zur Rückgabe seiner Frau zu bewegen. Dies gelingt! Die Götter stimmen unter der Bedingung zu, dass Orpheus während des Weges zur Oberwelt nicht zurückschaut (Bei Ovid heißt es: "Orpheus erhält sie und zugleich die Weisung, nicht eher die Augen zu wenden, als bis er das Tal der Toten verlassen habe." Ovid, X 29-62, S. 237). Es gab schon heroischere Aufgaben, die Menschenhand und -schritt zu bewältigen hatten. Warum Orpheus hier versagte und sein/e Liebste/s verlor, bleibt zunächst unklar. Ovid spricht von der Angst und Sehnsucht, die Orpheus zwischenzeitlich ereilten (der Impuls- und Triebaufschub gelingt also nicht und vermasselt das ganze Vorhaben). Weiter im Erklär-Angebot: der pure Wahnsinn, Ungeduld und Mißtrauen, die Liebe. Jetzt die christliche Erzählung:

Die Lots (Genesis 19, 1-29)
Die Geschichte dürfte nicht minder bekannt sein und hat, wenn auch keine erotische, so doch eine sexuelle Komponente. In der sündigen Stadt Sodom nimmt Lot in großer Gastfreundschaft zwei fremde Männer, verkleidete Engel, in seinem Hause auf. Der Sodomer Mob hält von Gastfreundschaft wenig und fordert die Herausgabe der Reisenden zwecks Geschlechtsverkehr. Als guter Gastgeber ist Lot sogar bereit, dem Mob seine Tochter als Ersatz anzubieten, bis schließlich die Engel eingreifen. Der Familie Lot wird nun das Städtchen Zoar (die Kleine) als Schutzzone angeboten, während ganz Sodom zerstört werden soll. Auch hier lautet das Gebot (der Engel): nicht zurückschauen ("Sieh dich nicht um und bleib im ganzen Umkreis nicht stehen!" Genesis 19, 17). Als sie Zoar bereits erreicht haben, dreht sich Lots Ehefrau nochmals um und erstarrt zur Salzsäure. Während bei Orpheus zunächst das Motiv des Umdrehens rätselhaft bleibt, fragt man sich bei Frau Lot eher, warum es überhaupt zu einer solch unsinnigen Strafe kommt.

Für beide Geschichten wäre eine Erklärung, dass der Verlust (der Liebsten oder des Lebens) eine Konsequenz der mißachteten Göttergebote ist. Die Gebote entziehen sich den menschlichen Maßstäben und der menschlichen Urteilskraft und sollten deshalb einfach befolgt werden. Es handelt sich gleichsam um ein transzendental strukturkonservatives Argument: den göttlichen Geboten hat man sich bedingungslos unterzuordnen; Recht vor Gerechtigkeit. Aber kein Gebot ohne die Möglichkeit der Übertretung. Ungehorsam zu sein heißt auch, seine Freiheit in Anspruch zu nehmen, mögen die "Kosten" auch immens sein. Wir werden am Ende darauf zurückkommen.

Eine weitere Erklärung der Geschichten wäre ihre Verdeutlichung der Konsequenzen einer allzu großen Vergangenheitsfixierung. Die Lots haben schließlich ihr ganzes Leben hinter sich lassen müssen, ihren Hausstand, ihre soziale Bindungen, ihre Arbeit. Mag das Stadtleben ein sündiges gewesen sein, so war es verglichen mit dem Landleben auch damals sicherlich ein angenehmes. Der Blick zurück ist einer, der nicht loslassen will, der noch ein Teil von dem bleibt, was dem Neuanfang im Wege steht. Die Verwandlung zur Salzsäure wäre die Versinnbildlichung der innerlichen Verharrungskräfte, die einen wirklichen Aufbruch - aus der Sünde - verhindern (eine mehr protestantische Interpretation würde vielleicht vermuten, dass Frau Lot als Frau und Mutter ein überwältigendes Mitleid selbst für die größten Sünder entwickelt hat und sich deshalb nochmals umdrehen musste. Gottes Umdrehverbot wäre in dieser Interpretation eher ein Zeichen seiner Güte. Als eine Art Schutzgebot sollte es Frau Lot und die gesamte Familie vor dem großen traumatischen Leid der sich offenbarenden Zerstörung bewahren. Die Verwandlung zur Salzsäule könnte man als symbolische Umschreibung der vielen Tränen verstehen, die Frau Lot beim Anblick vergießen musste - eine Tränenmenge, die nicht nur ihr Gesicht, sondern schließlich ihren ganzen Körper bedeckte. Dazu passt auch, dass Lot übersetzt Hülle heißt).

Kann bei Orpheus ebenfalls eine Vergangenheitsfixierung ausgemacht werden und woraus sollte diese bestehen? Schließlich lag die bessere Zukunft, die Zukunft mit der geliebten Frau, nur noch ein paar Schritte von ihm entfernt. Man könnte vermuten, dass seine aus der Vergangenheit in die Gegenwart hineinreichenden Umdrehimpulse, was immer diese auch gewesen sein mögen (vorstellbar: Wahnsinn, Angst, Sehnsucht, Ungeduld, Mißtrauen, Begehren, Liebe, s.o.), ihn an der Aufgabe haben scheitern lassen. Statt wie ein Jetzt-gesättigter Zen-Mönch aus dem Hades zu schreiten, holen ihn die Gefühlsfesseln ein und verhindern das Vorhaben. Aber wie sollte es auch anders sein: ohne diese Gefühle, ohne diese Gefühle in ihrer Gegenwärtig- und Lebendigkeit, hätte er den Versuch der Wiedergewinnung seiner Frau vermutlich erst gar nicht gestartet. So gesehen, war die Aufgabe von Anfang an eine unmögliche. Und hier offenbart sich unter Umständen die eigentliche Fixierung und der eigentliche Grund seines Scheiterns. Orpheus kann nicht akzeptieren, dass seine Frau wirklich, d.h. physisch tot ist und dass er sie nur auf eine symbolische Art und Weise, durch Dichtung und Musik, in die Wirklichkeit zurückholen kann. Eine richtige Wiederauferstehung wäre eine Hybris, an der die Sterblichen scheitern müssen.

Und die Moral von der Geschicht'?
Sind die Geschichten nicht höchst kompatibel mit unserem way of life? Nicht zurückschauen, immer noch vorne blicken, fortschreiten, möglichst sich von den Fesseln der Vergangenheit befreien. Wenn man die obige Orpheus-Interpretation zulässt, wird die Sachlage jedoch komplizierter. Um für einen Neuanfang die Vergangenheit komplett zu opfern, könnte unter Umständen auch heißen, seine eigene Identität und Seele zu verlieren (so gesehen, hätte Orpheus sich seine Seele und seine Liebe letztendlich bewahrt - und so gesehen, hätte Frau Lott die schönste Seele in der Familie). Zudem ist es für moderne Ohren ein befremdlicher Gedanke, dass das scheinbare Unglück durch die Befolgung eines zuvor ausgesprochenen Götter-Gebots hätte verhindert werden können. Ist die Moderne nicht auch die Befreiung von Mythen und Märchen, die uns and Dinge fesseln, die nicht unserer Herrschaft unterstehen, die auf Annahmen fußen, die keinen rationalen Grund vorweisen können? Damit sind wir beim eigentlichen Paradox dieser Geschichten angelangt: obgleich sie die Rückschau und die Vergangenheitsfixierung unterbinden (wollen), sprechen sie im Namen einer Autorität, die ihren Ankerpunkt gleichwohl in der Vergangenheit hat und in die Gegenwart reicht. Aber obwohl das so ist, zeigen sie uns zugleich, dass wir eine Wahl haben, dass unser Schicksal selbst (oder gerade) im Scheitern an einem Stückchen Freiheit hängt (man könnte auch sagen: jede echte Autorität bietet immer auch den Spielraum zur Freiheit).

Die Freiheit stellt damit die Arche, den Ursprung, die Autorität in Frage, fordert sie heraus, selbst wenn sie schlußendlich an der Unmöglichkeit des Lebens und des Todes zerschellen oder ihren Endpunkt finden muss. Und hier besteht ein fundamentaler Unterschied zum modernen Fortschreiten. Denn im genuinen Fortschritt - ebenso wie in der genuinen Bewegung - ist das Ziel zugleich der Ursprung. die Kraft des Antriebs, die Geradlinigkeit des Verlaufs, die Eindeutigkeit der Entscheidungen, die Entschlossenheit des Tuns - all dies verdankt sich dem modernen Kurzschluss von Anfang und Ende. Und bestimmt ist es kein Zufall, dass ein jüdischer Geist schließlich daran ging, seine Autorität in den Dienst des Zuhörens zu stellen, um in der Rückschau jene Momente zu finden und zu verflüssigen, in denen wir unsere Zukunft der Erstarrung und/oder Verzweiflung anheim gegeben haben.

31. August 2021