Funktionale und moralische Herbstdepression
Wenn man so langsam in die Herbstdepression rutscht, die schönsten Trakl-Gedichte nachliest und dabei, na sagen wir mal: "Songs: Ohia"(die heißen wirklich so)-Lieder hört, dann hat der Optimismus eigentlich so gut wie keine Chance. Dies nur zur Einstimmung, weil nun der oft zitierte Hannah Arendt-Satz kommt, der da lautet: "Der Sinn von Politik ist Freiheit". Ich stelle mir Christian Lindner als Finanzminister vor, wie er bei seiner Vereidigung unter seinem Sakko ein T-Shirt trägt, auf dem dieser Satz in gelben, nein in magenta-farbigen Lettern zu lesen ist. Da Joachim Gauck, einstmals Bundespräsident, aber auch Hannah-Arendt-Preisträger von 1997, nicht mehr im Amt ist, könnte er Herrn Lindner bei seiner Ernennung auch nicht erklären, dass der Satz von Hannah Arendt gar nicht so liberal gemeint ist, wie er zunächst klingt (als Politik-Berater würde ich Herrn Lindner deshalb vorschlagen, den Satz abzuändern in "Der Sinn von Politik ist keine Schulden zu machen", nicht weil er so richtig ist, sondern weil Selbstironie mein Gemüt besänftigt).
"Der Sinn von Politik ist Freiheit". Spötter würden sagen, dass Satz aus dem Holz geschnitzt ist, aus dem Sonntagsreden bestehen. Träume weiter, kleiner Bürger, du kleiner Tropf: die große Politik funktioniert doch ganz anders. Glaubt du wirklich, dass Du, ja Du, nur eine klitzekleine Rolle wirst spielen können, wenn es um die großen Zeitläufe geht?
Es ist Herbst - nichts wäre einfacher als sich der sich ausweitenden Dunkelheit hinzugeben und in cioranscher Manier über einige Aphorismen mit dem Titel "Vom Nachteil die Politik verstehen zu wollen" nachzudenken. Aber nein, Dunkelland hat noch nicht gewonnen und ich kann nur darauf hinweisen, dass der Arendt-Satz trotz oder wegen der liberalen Überlagerungen keineswegs selbsterklärend ist. Denn Arendt geht es nicht um eine rein individuelle Freiheit, die sich als negative Freiheit in der Herauslösung aus oder Abstandnahme von allen sozialen und kulturellen Zusammenhängen realisiert. Vielmehr zielt ihre emphatische Betonung des Handelns, in dem sich Freiheit realisieren kann, auf jenen Zwischenraum, der nicht souverän oder willensmäßig besetzt oder okkupiert werden kann, es sein denn auf Kosten seiner Nichtung. Was sich im Handeln offenbart, ist ein Adressierungs-, Berührungs- und Resonanzgeschehen, das im Gegensatz zu unseren Mainstream-Vorstellungen auch denjenigen ergreifen und verwandeln kann, der handelt. Sowieso sind die "Handlungsrollen" nicht so einfach verteilt: dort der Sender, hier der Empfänger und dann auch wieder umgekehrt - so einfach ist es nicht, weil es keinen reinen Sender und keinen reinen Empfänger gibt. Vom Handeln berührt, ist das Resonanzgeschehen integraler Teil des Handelns und nicht nur passive Empfangsmasse. In diesem Sinne trägt, formt und weitet jedes gute Sagen und Antworten den Handlungsraum mit, auch wenn man im "klassischen Sinne" nicht beteiligt ist (Die Schwierigkeit dies zu "verstehen" - so es eine Schwierigkeit gibt - gründet nicht in der Kompliziertheit des Vorgangs, sondern auf seiner weitgehend verdrängten Einfachheit oder besser: auf seiner fehlenden Einfachheitsakzeptanz).
Handeln und Zwischenraum (politischer Raum, politische Nation) sind auf eine eigene Weise miteinander verbunden und lassen - so es glückt - immer wieder etwas in der Welt erscheinen, was nach den Gesetzten der Wahrscheinlichkeit und der Rationalität eigentlich gar nicht hätte erscheinen können: ein neuer gemeinsamer Anfang. Voilà, da ist sie nun, unsere Freiheit! Es gehört im Gegenzug nicht viel Phantasie dazu, diese Freiheit schnell unter dem Geröll unserer Realität zu begraben: die Macht, die Ökonomie, der Kapitalismus … Zugegebenermaßen wäre etwas mehr Exemplifikationstext an dieser Stelle hilfreich, aber die Zeit, der Herbst, der Weinvorrat … Kurzum, es gibt durchaus Grund zu der Annahme (so das hoffnungsvolle Versprechen), dass die politische Freiheit existiert, wenn auch nicht ungefährdet, wenn auch anders als vielleicht gedacht.
In Diskussionen kommt man immer wieder an diesen Punkt, wo man sich tief in die Augen schaut und, implizit, explizit, zugesteht - möglicher Weise ver-glaube ich mich da -, dass die Freiheit unserer Wir-Weisen zu er-handeln ist. Ich füge dann, auch um das schöne letzte Wort zu haben, hinzu, dass die zuverlässigsten Spielarten zur Einebnung dieser Idee darin bestehen, das Politische durch die Moral oder durch die Funktionslogik zu ersetzen. Die Zustimmung kommt so selbstverständlich, dass ich mich immer etwas schäme, es überhaupt erwähnt zu haben.
Allein, kaum schlägt man seine Wochenlektüre beziehungsweise das außer der Reihe erworbene Monats-Periodikum auf, schon sieht man, dass die Pluralität des Lebens darin besteht, dass andere Menschen ganz anders denken. Glücklich fügt sich der Umstand, dass sich hier zwei Positionen vertreten sind, die in fast idealtypischer Weise, das eben gesagt exemplifizieren: dass man durch Moral und Funktionslogik die politische Frage einebnet.
Beginnen wir mit dem letzterem (der Funktionslogik) und mit Armin Nassehi, der in der Zeit eine längere Buchrezension zu Wolfgang Streeks 'Zwischen GLobalismus und Demokratie. Politische Ökonomie im ausgehenden Neoliberalismus', erschienen 2021, geschrieben hat (nachzulesen: Armin Nassehi: Das organisierte Idyll, in: DIE ZEIT Nr. 43, 12. Oktober 2021, S. 56).
Nassehi beschäftigt sich dabei mit der Grundthese des Buches, die seiner Meinung nach wie folgt aussieht: Der Globalismus lässt sich nur durch konsequente Wiedereinbettung politischer Entscheidungen in einen (homogenen) Nationalstaat bewerkstelligen (ob Wolfgang Streeck das wirklich so gedacht und geschrieben hat, ist an dieser Stelle nicht relevant, da es um die Rezeption von Nassehi und den sich daraus ergebenden Schlussfolgerungen geht).
Diese These - u.a. von Streek -, so Nassehi ist nicht auf der Höhe der Zeit, da sie die Komplexität der modernen Welt nicht berücksichtigt und daher in eine Art Steuerungseuphorie mündet, die zum Scheitern verurteilt ist. Mag die industriegesellschaftliche Moderne, so Nassehi weiter, als Ausnahmezeit diese Illusion partiell unterstützt haben, so setzten sich doch die Differenzierungsfolgen durch. Das heißt, wir haben es mit den Eigenlogiken des Ökonomischen, des Wissenschaftlichen, des Medialen und des Rechts zu tun, die auf einer politischen Ebene nicht mehr integriert werden können. Sein letzter Satz lautet daher: „Die Idee einer Demokratie aus dem Geist der homogenen, abweichungsfeindlichen Form einer prästabilisierten Einheit jedenfalls können wir uns angesichts gesellschaftlicher Herausforderungen nicht leisten.“
Dazu kann man zwei Dinge anmerken. Zum einen folgt aus der Sachebene, selbst wenn sich die Experten der Sachebenen-Community in der Beurteilung einer Sachlage einig sind, keinesfalls eine Entscheidung darüber, was daraus für das gemeinschaftliche Zusammenleben folgen soll. Die Corona-Debatte hat dies zum Beispiel umfänglich veranschaulicht. Die Entscheidung zwischen Sicherheit (hoher Gesundheitsschutz) und Freiheit (selbstbestimmtes Leben) ist keine, die sich - auch wenn dies permanent versucht wird - von den Bürgern weg-delegieren lässt (In diesem Zusammenhang ist es nur noch ein weiterer kleiner Schritt in der Kapitulation des politischen Denkens, wenn man meint, diese Entscheidungen zum Beispiel durch einen Ethik-Rat fällen zu lassen, so als ob wir nur lange genug nach den richtigen "Experten" suchen müssten).
Zum anderen scheint es inzwischen eine eigenartige Selbstverständlichkeit zu sein (aber sind die vorherrschenden Meinungen nicht immer eigenartig), eine politisch-demokratischen Nation unter Homogenitätsverdacht zu stellen. Jede "Einheit", die nicht funktional oder rational durch-begründbar ist, scheint dann nur als eine Art Exklusionsmaschine denkbar zu sein, die den funktional-rationalen Anforderungen nicht genügt.
Dass aber eine demokratische Nation als eine gefasste politische Einheit ihre Fassung durch den durchaus konflikthaften Raum des politischen Handelns bekommt (und als pluraler politischer Handlungsraum gegründet wurde), und die Tradition dieser Konflikte und Einigungen als haltendes Moment mitträgt, demnach auf Pluralität angewiesen ist, gerät aus dem Blickfeld. Die Erfahrung der Nicht-Integration von Teilen der Gesellschaft dürfte vermutungsweise in den meisten Fällen weniger auf einer Akzeptanzverweigerung der jeweiligen Gruppen beruhen, als auf einen (vielseitigen) Verzicht zur politischen Teilhabe. Dabei ist diese Teilhabe sowohl an kulturelle und soziale Voraussetzungen genknüpft, die keineswegs trivial sind und hängen andererseits von der Offenheit der politischen Handlungsräume ab. Begreift man die Integration aber nicht als politische Integration, existieren die "Identitätsaspekte" unberührt nebeneinander und verlieren sich entweder in einer liberalen gleichgültigen Differenz, was oftmals dazu führt, dass sich die ohnehin privilegierten Gruppen ihre eigene Realität bauen und sich so den Konflikten entziehen, oder die Identitäten setzen sich in ihren Ansprüchen absolut und pochen in ihrem identitären So-Sein auf eine zuvor vorenthaltene Anerkennung, ohne den Weg der handelnden Auseinandersetzung zu beschreiten. Letzteres heißt immer auch, seine eigene Identität zu öffnen, den Verzicht auf die eigene volle Souveränität zu akzeptieren.
Offensichtlich ist, dass wir es hier, wo Überzeugungen berührt und daseinsrelevante Dinge verhandelt werden, nicht mit Problemlösungen zu tun haben. Entortungen und politischer Austrag entstehen jenseits der Spielfelder der funktionalen Ausdifferenzierungen. An dieser Stelle setzt nun ein anderer entpolitisierender Diskurs ein: Politik im Namen der Moral. Felix Heidenreich hat im Merkur einen kleinen Essay mit dem Titel 'Moralisierung' geschrieben, in dem die Problematik mehr oder minder deutlich zu Tage tritt (nachzulesen: Felix Heidenreich: Moralisierung, in: Merkur, 25. Jahrgang, September 2021; S. 32-42). Gegen die systemtheoretischen Argumente, die sich auf die gesteigerten Problemlösungsfähigkeiten sich ausdifferenzierender Funktionsbereiche beziehen, merkt Heidenreich zunächst an, dass in allen Funktionssystemen immer schon ein Überschuss waltet, immer schon mehr gilt als der bloße Funktionscode. Mit Heidenreich könnte man sagen, dass ein Funktionscode in den Grenzen seines Codes nicht die Voraussetzungen seiner Funktionslogik mitdenken kann. Eine medizinische Diagnose gibt uns keine Auskunft über die Zulässigkeit von Sterbehilfe, mag die Diagnose auch noch so düster ausfallen. In diesem Sinne hat Heidenreich zweifelsohne Recht, wobei die primäre Stoßrichtung seiner Intervention sich keineswegs auf die Kälte systemtheoretischer Funktionslogiken bezieht (spekulativ könnte man vermuten, dass Heidenreich diesen letztendlich rationalen Systemen zur Not die Rationalität übergeordneter Normen beistellen würde).
Heidenreich zeigt zunächst anhand dreier zeitlich aufeinanderfolgender, gemeinhin als konservativ bis rechts einsortierter Autoren, auf welcher Folie bzw. welchen Folien sich die heutige neu-rechte Moralisierungskritik verstehen lässt. Das fängt bei der lebensphilosophisch inspirierten Rechten an (Hans Freyer), in der Moralisierer als blutleere Träumer diffamiert werden. In diesem Framing steht das Leben, die Kraft, die Stärke gegen die nüchternen Werte der Moral, Pflicht und Abstraktion. Das stahlharte Gehäuse des Kapitalismus (Max Weber) fordert den "Lebensimpuls" heraus. Meldet sich die dunkle Seite der Macht, schrillen natürlich bei normativ gesinnten Geistern die Alarmglocken. Aber halten wir mit und nach Heidenreich fest: gegen die Sittlichkeit werden lebensphilosophisch die dunklen und unkontrollierbaren Leidenschaften ins Leben gerufen. Sodann ist Carl Schmitt an der Heidenreichschen Reihe, der, darauf beharrt, dass alle Werte als menschlich gesetzte Werte relativ sind. Und schließlich wird noch Arnold Gehlen hinzugestellt, der wiederum bemängelte, dass Moral eine intellektuelle Waffe ist, die fast kostenlos zu haben ist, da letztendlich mit der Moral keine Verantwortung verbunden ist.
Die Anklageschrift in Bezug auf die Moralkritiker muss also lauten: Entfesselung dunkler Leidenschaften, Werterelativierung und Unlauterbarkeitsunterstellung. Ergo, so Heidenreich weiter: die neue Rechte pfeift auf die Moral und feiert das leidenschaftliche Leben in Form von Enthemmung und Regression (und wir wissen, woher es kommt). Ein bisschen erinnert diese Diagnose an die fast schon ganz alten Zeiten, wo Oma und Opa vorgeworfen wurde, dass die Haare zu lang und das Benehmen unverschämt waren und die Musik zudem schrecklich und zu laut ausfiel. Wie man sieht, kommt man bei den Werten schnell durcheinander, je nachdem wer, an welcher Stelle, zu welcher Zeit sich berufen fühlt, die Wertekarte zu ziehen. Womit wir beim Kern des Problems sind, wenn Heidenreich ganz am Ende feststellt, dass "gegen moralische Argumente (...) nur andere moralische Argumente plausibel" sind.
Mag dies auch ehrenwert gedacht sein, bleibt doch die Frage, ob es sich tatsächlich um eine Werte-Unterversorgung handelt. Sind Werte die Lösung oder das Problem? Zunächst lässt sich auf einer deskriptiven Ebene der Vorwurf der Unlauterbarkeitsunterstellung an die Werte-Vertreter nicht ganz von der Hand weisen: so ist Moral inzwischen eine Sache geworden, die man sich leisten können muss. Die eigene Lebenssituation samt Identitätsvorhof wird selten in aller Offenheit thematisiert (ja, man hat ein Eigenheim und versiegelt die Fläche; ja, man hat zwei Autos und trägt zum Autoterror bei; ja, mein verreist gerne, auch mal fern und befeuert das Klima; ja, man findet die Aufnahme von Flüchtlingen gut, aber eine Bürgschaft?). Stattdessen nimmt man den Moralbonus des Eintretens für die gute Sache gerne mit, ohne dass diese Art der Verantwortung Folgen hätte (vielleicht geringfügig finanzielle).
Auch bezüglich des Werterelativsmus, übrigens ein Vorwurf, der in der Postmoderne-Diskussion gerne angebracht wurde, verhält sich die Sache verwickelter. Das akademische Wissen darum, dass Werte prinzipiell Sozial-Konstrukte und daher relativ sind, dürfte noch niemanden von seinem 'wertegebundenen' Standpunkt abgebracht haben. Für einen Marsbewohner mögen Werte relativ sein, für Menschen innerhalb eines sozialen und kulturellen Kontextes kaum. Schwerer wiegt der - nicht nur konservative - Einwand, dass nämlich eine sehr starke Wertebindung den Fanatismus durchaus befeuert (ein Argument, das Heidenreich Schmitt zuordnet, ohne es zu diskutieren). Treffen Werte als geglaubte Wahrheiten unmittelbar aufeinander, dürfte der politische Austrag eher ins Unerbittliche abdriften. Adressierung und Resonanz wird man hier nicht begegnen.
Nehmen wir noch den dritten Vorwurf an die Moralkritiker hinzu, der da lautet: Dunkel-Trieb-Entfesslung. Auch hierzu gibt es (mindestens) eine längere Geschichte. Albert O. Hirschman zeigt in seinem Buche 'Leidenschaften und Interessen' wie im frühen 17. Jahrhundert das Problem der zerstörerischen Leidenschaften und der wirkungslosen Vernunft nicht nur aufkam, sondern durch die Einführung des Interessensbegriff gelöst werden sollte. Das Interesse als Handlungsmotivation versprach als eine rationalisierte Leidenschaft, die mit der ökonomischen Sphäre verknüpft war, Wirkungsmächtigkeit, Voraussagbarkeit, Beständigkeit (siehe: Albert O. Hirschman: Leidenschaften und Interessen: politische Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg. Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 670. Frankfurt am Main, 1980). Der Kampf um die 'Gefährlichkeit' der Leidenschaften tobt also schon länger. Und natürlich sind wir geneigt, in der politischen Arena auch heute noch in dem Interesse ein kalkulierbares Moment zuzusprechen, weil es scheinbar mit der Rationalität fest verknüpft ist. Aber man muss nicht weit in die Geschichte zurückgehen, um zu sehen, wie das überschaubare und interessgeleitete Erwerbsstreben in reine Gier umschlagen kann (Stichwort Finanzkrise).
Rationalität und Leidenschaft sind nicht die beiden Pole, die es sorgsam zu trennen gilt, um Schlimmes zu verhindern. Wer glaubt durch (gute) Werte oder - in den avancierteren Theorien - mit einem diskursethischen Regelwerk die irrationalen Aspekte unseres Zusammenlebens bannen zu können (German Angst), verkennt, dass es insbesondere im politischen Handeln aufgrund unserer persönlichen und kollektiven Geschichtlichkeit keinen voll durchrationalisierbaren Grund geben kann, was nicht heißt, dass deshalb unser Handeln per se irrational ist. Vielmehr kann man den Werte-Moralisten und Diskurs-Ethikern an dieser Stelle entgegen halten, dass erst das, was im politischen Raum nicht auftaucht, nicht in den gemeinsamen symbolischen Raum eingeschrieben werden kann, weil es moralisch als verwerflich gilt, als abgespaltenes Stück unbearbeiteter Realität umso regressiver und gewaltsamer an anderer Stelle wieder auftaucht. Das heißt wiederum nicht, dass alles sagbar und tolerierbar wäre. Nur sind Werte und Moral nicht das Bollwerk gegen Gewalt und Regression, als das sie sich gerne sehen würden. Statt zur Lockerung und Verflüssigung der Verhältnisse beizutragen, versteinert die Situation weiter.
Herbstzeit ist, es lösen sich die Blätter von den Bäumen. Rainer Maria Rilke schrieb 1902 in einem Herbst-Gedicht: "Wir alle fallen. Diese Hand da fällt. Und sieh dir andre an: es ist in allen." So ist es wohl, unsere Unvollkommenheit und Freiheit gehen Hand in Hand. Wir fallen, so oder so.
30. Oktober 2021