Generation Älter werden
Es gibt Bücher, deren Verfallsdatum ist schon im Titel untergebracht. "Generation Golf" von Florian Illies gehört dazu. Das Buch wurde im Jahre 2000 veröffentlicht und der Autor ist zu diesem Zeitpunkt neunundzwanzig Jahre alt. Illies zeichnet für seine GenerationsgenossInnen, also für die Jahrgänge von 1965 bis 1975, das Lebensgefühl der 80er und beginnenden 90er Jahre nach. Das Buch ist flott geschrieben und mit jener ebenso flotten (Selbst)Ironie – und etwas Kleintraurigkeit - durchsetzt, die die Abgeklärtheit dieser Rückschau erträglich macht. Es gibt viele Details, so zum Beispiel die Beschreibung der Pelikan- und Geha-Fraktion im Klassenverbund, an die sich im Jahre 2000 ff. die nun schon großen Kinder mit Wehmut und Sentimentalität erinnern können. Das Buch wurde ein Erfolg. Welche Generation hat schon das Glück, einen Chronisten in ihren Reihen zu haben, der sich so zeitnah an die Arbeit macht. Mögen die Teile der eigenen Geschichte im großen Kontext auch nicht viel bedeuten, immerhin gibt es jetzt neben dem Fotoalbum auch ein Buch.
Die Absetzfolie - oder sollte man besser von der Absetzgeneration, also die Elterngeneration sprechen - sind zum einen jene 68er-Helden*, die die Welt mit ihrer Kulturrevolution - Love & Peace - auf Links ziehen wollten (im Register des Buches stehen zu „68er, Alt-68er“ 13 Einträge, nur übertroffen vom Eintrag „Golf“), zum anderen – sehr, sehr am Rande - die Funktionselite, also der mehr bürgerliche Überbau, die davon überzeugt war, dass man den Laden auch ohne Weltrevolution am Laufen halten konnte und musste. **
Das Politische an diesem Buch ist ein sich aus dieser „Frontstellung“ ergebender antipolitischer Reflex der Illies-Generation. Das titelgebende Mittelklasse-Auto gibt hier die Lebens- und Schreibrichtung vor: solide, langweilig und bequem:
„Solchermaßen gut genährt, ansonsten aber völlig orientierungslos, tapste eine ganze Generation zwischen 1965 und 1975 Geborenen hinein in die achtziger Jahre. Aber irgendwie machte uns das auch nicht viel aus. Wir waren zwar orientierungslos, aber dennoch schlafwandlerisch sicher, dass sich alles, auch die großen Fragen der Menschheit, am Ende lösen lassen. (…) Wir wußten auf jeden Fall, dass wir uns keine übertriebenen Sorgen machen mussten (…).“
Florian Illies: Generation Golf: eine Inspektion. 3. Aufl. Berlin: Argon, 2000, S 18 f.
In den 90er Jahren, als diese Golf-Generation dann vollumfänglich ans Steuer des Autos und des eigenen Lebens darf, entwickelt sich nach Illies eine narzißtische Genussgeneration, die in den Subtiteln der Kapitelüberschriften wie folgt charakterisiert wird: Körperkult, Fit for fun, Eitelkeit, Stil, Kleidung, ewige gute Laune, Markenkult, das Ende der Bescheidenheit. Das Fazit dieser Yuppie-Kultur wir im letzten Absatz des Buches zusammengefasst:
„Die Suche nach dem Ziel hat sich erledigt. Veränderung wird die Zukunft kaum bringen. Und deswegen kann man sich ganz umso intensiver um die eigene, ganz persönliche Vergangenheit kümmern.“
Florian Illies: Generation Golf: eine Inspektion. 3. Aufl. Berlin: Argon, 2000, S 197
Wie schön. Aber so etwas muss man sich natürlich leisten können. Wahrscheinlich ist es nicht für alle Heranwachsenden möglich, das Auto der Mutter schrottreif zu fahren, um anschließend den Leihwagen des VW-Händlers vor eine Mauer zu setzen (ebda. S. 52 f.) *** Und auch nicht jede junge Frau und jeder junger Mann wird in Bonn und Oxford Kunstgeschichte studieren können. Sozialneid ist eine prima Sache, um die es hier aber nicht gehen soll. Vielmehr zunächst um die Frage, ob der soziokulturelle Status unseres Autors nicht schlichtweg mindestens die andere Hälfte der Generationserfahrung zum Verschwinden gebracht hat.
In meiner 80er Jahre Jugend hießen die Themen NATO-Doppelbeschluss (1979) und Aufrüstung, Waldsterben (1983 ff.) und Tschernobyl (1986) – alles begleitet und überdeckt von dem dunkel eingefärbten und depressiven Lebensgefühl der Punk-, Post-Punk, Industrial- und New-Wave-Bewegung = no future. Mit dem Mauerfall 1989 und der Wiedervereinigung 1990 wurde zwar der Sieg der Demokratie und des Liberalismus verkündet ****, wodurch die 90er Jahre aber nicht automatisch zu einem Jahrzehnt der hedonistisch eingefärbten Lebensfreude für alle wurden. Wie sollte man denn auch in kurzer Zeit die Seelenfarbe von schwarz auf sonnig-gelb ummalen können. Kurzum, die äußeren - zweiter Golfkrieg 1991, Bosnien-Krieg von 1992-1995 mit dem Massaker von Srebrenica 1995, Völkermord in Ruanda 1994 - und inneren Lebenssignale versprachen auch weiterhin eine Ausgangslage, in der das halbleere Glas sich weiter entleerte. Mag dieses Lebensgefühl nicht unbedingt für die Mehrheit der Generation zutreffen, so ragte es doch aus den 80er in die 90er Jahre hinein und entfaltete Wirkung. *****
Statt allein von einem sorglosen, ichzentrierten Hedonismus zu sprechen, scheint mir das pessimistisch-depressive Lebensgefühl doch eine Generationsalternative gewesen zu sein. ****** Ob sich daraus eine bessere oder umfassendere Generationsgeschichte ergibt, sei dahingestellt. Seit ich das Illies-Buch gelesen habe, beschäftigt mich eine andere Frage. Dazu eine kleine Geschichte eines ehemaligen Kommilitonen, der damals Anfang der 90er Jahre in Bremen von einem Wochenendausflug mit einigen Bekannten ins Münsterland berichtete. Er kannte die Gastgeber, die sie besuchen wollten, persönlich nicht. Es stellte sich heraus, dass sie zu einem richtig feinen Landgut gefahren waren, wo er Leute kennen lernen sollte, die aus einer ganz anderen Schicht kamen und offenbar sehr, sehr reich waren. Was ihn aber nachhaltig beeindruckte, war nicht der Reichtum, sondern die selbstverständliche Lebensfreude und Freundlichkeit, mit der diese Menschen, ohne jedwedes Ressentiment das Wochenende gestalteten und verbrachten. Er kannst so etwas nicht und wie es schien, war es für ihn - fast - ein persönliches Erweckungserlebnis.
Natürlich war dies eine sehr individuelle Erfahrung und es wäre mehr als gewagt, Lebensfreude und Freundlichkeit als Resultat von Vermögenswerten zu beschreiben. So gibt es Studien, die zu zeigen scheinen, dass Zufriedenheit und Glück ab einer gewissen Einkommensstufe stagnieren usw.
Aber – und dies die Frage – gibt es eine Korrelation einer geschichtlich geprägten bürgerlichen Einkommens- und Lebenslagen-Struktur mit „Weitergabe-Faktoren“ wie Anerkennung, Ermutigung, Leidenschaftsvermittlung und Lebensfreude, die wiederum mit dem Begriff der Liebe nicht ganz umfänglich beschrieben sind. Und gibt es umgekehrt sozio-kulturelle Konstellationen, die das Ressentiment gegen die Lebensbejahung zwar nicht kultivieren, aber konsequent beiläufig befördern, was erstens selbstredend das Leben nicht einfacher macht und zweitens selbstverständlich nicht als ein bewußter Prozess abläuft. ******* Auf dieser Ebene dürfte sich primär entscheiden, ob man sich mit der „Generation Golf“ identifizieren kann oder nicht - mal ausgenommen diejenigen, die sich origineller Weise für so individuell halten, dass sie sowieso durch alle Raster fallen.
Kommen wir zum Ende: die Terroranschläge auf das WTC am 11. September 2001, die Finanzkrise 2008 usw. Der schöne Generation-Golf-Satz „Veränderung wird die Zukunft kaum bringen“ (siehe oben) verliert im Laufe der Jahre leider etwas von seiner jugendlich frischen und selbstbewussten Arroganz. 2012 veröffentlicht Florian Illies das formal und inhaltlich gute und schöne Buch „1913: Der Sommer des Jahrhunderts“, in dem kulturelle und politische Ereignisse am Vorabend des 1. Weltkriegs beschrieben werden. Daraus erfährt man nicht unbedingt, wie es dem männlichen Teil der „Du wirst Dein Leben bald verlieren“-Generation geht, aber sonst allerhand. Zum Ende des Buches wird von Thomas Mann erzählt, der im November 1913 in keiner guten Verfassung ist.
"Und an seinen Bruder Heinrich schreibt er: 'Mein ganzes Interesse galt immer dem Verfall, und das ist es wohl eigentlich, was mich hindert, mich für den Fortschritt zu interessieren.'"
Florian Illies: 1913: der Sommer des Jahrhunderts,. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch, 2015 (2012), S.283
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* Gab es auch Heldinnen, wird man später fragen: mit Gudrun Ensslin, beteiligt an fünf Bombenanschlägen mit vier Todesopfern, und Ulrike Meinhof, 1975 des vierfachen Mordes und 54-fachen Mordversuchs angeklagt, gibt es in diesem spezifisch deutschem Kontext zumindest bekannte Protagonistinnen; siehe auch die entsprechenden Wikipedia-Einträge.
** Dies wird im Buch nicht ganz so deutlich, da es sich, so die Selbstbeschreibung, um eine Generation ohne Generationskonflikt handeln soll. Der Vater von Florian ist der Biologe, Entomologe, Hochschullehrer und Sachbuchautor Joachim Illies.
*** Ich erinnere mich an einen Klassenkameraden, dem nach dem Erwerb seines Motorradführerscheins von seinem Vater eine Yamaha mit 1000 ccm Hubraum geschenkt wurde, die er, wenig überraschend, ebenfalls in einer Kurve vor die Mauer setzte.
**** Niemals wurde ein Fachbuchtitel von seinen Freunden und Gegnern dankbarer aufgenommen, als das 1992 erschienene Buch von Francis Fukuyama mit dem Titel „The End of History and the Last Man“. Für viele war der Ostblockzusammenbruch eine Identitätskatastrophe, womit sich wiederum weitere schöne Buchtitel erklären lassen. Der renommierte deutsche Politologe Claus Offe titelte 1994 beherzt: „Der Tunnel am Ende des Lichts. Erkundungen der politischen Transformationen im Neuen Osten“.
***** Natürlich war der Hedonismus ein effektiver Tritt gegen das Schienbein der 68er-Recken*_*Innen, die nicht nur unter ästhetischen Gesichtspunkten massive Defizite aufwiesen. Nicht erst seit 1989 war offensichtlich, dass große Teile der Linken einen falschen Kampf für falsche Hoffnungen führte, der zudem von einer gesunden Portion innerer Verlogenheit begleitet wurde, scheinbar auch heute noch eine Spezialdisziplin linker Politik. Dass der Postmodernismus und der Post-Strukturalismus nicht nur auf akademischer Ebene in diesen Kreisen auf tiefe Ablehnung stieß, die auch nach 1989 anhielt, nachdem viele Linke nun auf die Seite der moralisch blitzsauberen Diskursethik gewechselt waren, ist wenig verwunderlich.
****** Eine Absage an den Fortschrittsgedanken und das -versprechen der Moderne - der 68er - liegt aber in beiden Fällen vor. Das Hier und Jetzt wird gefeiert oder dem Untergang geweiht.
******* Selbst dort, wo anfänglich noch ein mehr oder minder spaßiges Nein an die Verhältnisse gesendet wird, so bei der Düsseldorfer Punkband die „Die Toten Hosen“ (und ihrer Vorläuferband „ZK“), verdankt sich, so die Vermutung, das sich durchsetzende gutmenschliche Spaßprinzip samt Welterfolg dem Satz von Odo Marquard, der da lautet: „Zukunft braucht Herkunft“. Campino (Jahrgang 1962). Der Sänger der Toten Hosen, mit bürgerlichen Namen Andreas Frege, wuchs, so Wikipedia, „als Sohn des Richters Joachim Frege und der Hausfrau Jennie Frege auf. Seine Mutter war gebürtige Engländerin, hatte an der Universität in Oxford studiert und erzog ihre Kinder zweisprachig.“
31. Juli 2021