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Gute Vorsätze

Vieles ist über dieses Jahr gesagt worden. Ein schlimmes Jahr: Corona, Krieg, Energiekrise, Klimawandel, Fluten in Pakistan, Inflation, staatlich beauftragte Morde im Iran, Messerattentat auf Salman Rushdie ... Zuversicht grenzt an Naivität, so man prognostiziert, dass das nächste Jahr bestimmt besser wird. Umgekehrt besteht der Verdacht, dass wir vielleicht in nicht allzu ferner Zukunft auf dieses Jahr zurückblicken und uns liebevoll an die Endphase der guten, alten Zeit erinnern werden. Das Weltschicksal mischt sich energisch in unsere privaten Angelegenheiten, während wir ohnmächtig dem großen Treiben zusehen. Der berühmte Shakespeare-Satz "Die Zeit ist aus den Fugen", bewahrheitet sich in seiner vollen Wucht, wobei man gerne vergisst, dass er oftmals auch in anderen Büchern zu anderen Zeiten herbeizitiert worden ist. Nicht zu unterschlagen ist die darauffolgende Hamletsche Klage, die da lautet: "Schmach und Gram, Daß ich zur Welt, sie einzurichten kam!" So stehen auch wir vor einer Aufgabe und wissen nicht, an welchem klitzekleinen Ende wir den Problemfaden aufzurollen beginnen sollen.

Aber: neigen sich die Aktivitätszeiten dem Ende entgegen? Haben uns unsere Bewegungsmuster - nach vorne gehen, Wachstum generieren, proaktives Problemlösen - nicht zuverlässig an jenen Rand geführt, dessen Überschreitung keineswegs mehr als Verheißung gesehen werden kann? Das populäre Denken, oftmals unterschätzt und oftmals am Puls der Zeit, hat diese Einsicht schon längst mit einem Witz bedacht: Gestern standen wir noch vor dem Abgrund, heute sind wir schon einen Schritt weiter. Zeit das Resilienz-Zeitalter auszurufen? Statt der Welt und den Menschen noch etwas zuzufügen oder hinzuzufügen, gilt nun die Tugend des Ertragens, vorzugsweise den Schmerz oder auch sonstige Unbillen des Lebens. Noch sträubt man sich dagegen, sich als ein Lamm auf dem Weg zur Schlachtbank zu sehen, das psychisch, dank Resilienz, dann doch gut aus der Sache herauskommt, nachdem es blökend feststellt, dass es vorerst nur geschoren und noch nicht geschlachtet wurde. Aber vielleicht ist es trotzdem besser, wie es in einem Film nach einem Don DeLillo-Roman heißt, (metaphorisch) auf der Seite der Sterber und nicht der der Töter zu stehen. Und wie immer, wenn es darum geht, sich mit den Implikationen einer kantschen Moral zu konfrontieren, ist der Ausweg kein einfacher.

Was zu lassen ist, sollte unterlassen werden und was zu tun ist, sollte getan werden. Und so bleibt auch dieses Jahr ganz traditionsgemäß zum Jahresende das Shakespeare-Zitat.

“Greift frisch an, oder wir treiben auf den Strand.”
William Shakespeare: Der Sturm; Zürich 1979 (1611 ), S. 22

31. Dezember 2022