Im Anfang war das Wort - oder vielleicht doch der Schlag auf den Kopf?
Während ich das Auto in der Blechlawine mitschwimmen lasse, fällt mir ein Radiobruchstück in die Ohren. Eine Buchbesprechung mit schönem Ausklang, da das verhandelte Sachbuch mit dem Titel "Spurlos verschwinden" rundum verrissen wird. Also einer jener seltenen Momente, in denen mir mitgeteilt wird, dass ich etwas nicht brauche. Komischer Weise bleibt doch etwas hängen, nämlich der im Buch beschriebene Umstand, dass der radikale Beginn eines neuen Lebens, eingeleitet durch den abrupten Abbruch aller sozialen Beziehungen, durch Namenstausch, Ortswechsel usw. meist nicht vollständig gelingt, da die Spur bestimmter Gewohnheiten und Vorlieben für einen erfahrenen Detektiv zur gesuchten bzw. verschwundenen Person führt.
Einmal in der Welt, können wir ihr kaum entkommen, so scheint es. Was bleibt, lebenslang, ist die Sehnsucht nach einem Anfang. "Man hungert nach dem Beginn" dichtete T.S. Eliot. Und Meister Eckhart wußte schon im 13. Jahrhundert: "Und plötzlich weißt du: Es ist Zeit, etwas Neues zu beginnen und dem Zauber des Anfangs zu vertrauen." Hannah Arendt prägte, um wieder in das 20. Jahrhundert zu springen, den Begriff der Natalität, ausgehend von der Erfahrung, dass wir als Neuankömmlinge auf dieser Welt mit der Fähigkeit ausgestattet sind, zu Handeln, d.h. in Freiheit einen neuen Anfang zu machen.
Lew Schestow, russisch-jüdischer Philosoph, geboren im Jahre 1866 (und gestorben 1938), beschäftigt sich in einem Gedankensplitter mit der Frage, ob das Postulat, dass Dichter, also die Anfangs-"Macher" schlechthin, geboren und nicht gemacht werden (Poetae nascuntur), einer Überprüfung stand hält (Schestow, Lew: Apotheose der Grundlosigkeit; Berlin 2015, S. 112 f.). Zunächst einmal, so hebt seine Argumentation an, können wir ein Kind nicht zum Dichter erziehen, indem wir ihm verschiedene literarische Ausdrucksweisen eintrichtern. Aber ist deshalb das Dichter-Schicksal mit der Geburt besiegelt? Ist der Dichter mit seiner Geburt schon auserwählt zu seinem Natalitäts-Handwerk? Nein, sagt Schestow, der Zufall ist's, der die entscheidende Rolle spielt: ein eingeschlagener Schädel oder der Sprung aus dem dritten Stock können hier Wunder wirken. Folgerichtig könnte der dichterische Nachwuchs auch weniger durch die Konfrontation mit Büchern, als durch solche Zufalls-Zumutungen erzeugt werden (so er denn das Experiment überlebt, möchte man hinzufügen).
Der Punkt: das Schicksal, und mag es das erhabenste und/oder schwerste sein, und wer könnte das bei einem Dichter wirklich sagen, entscheidet sich nicht mit unserer physischen Geburt - insofern hat Schestow Recht. Andererseits bürgt ein zufälliges Ereignis, das uns widerfährt, keineswegs für einen Dichter oder einen dichterischen Anfang, möchte man Schestow entgegen halten. Der Schlag auf den Schädel, auch wenn man ihn jährlich wiederholt, und manche Menschen würden bei gewissen anderen Menschen schwerlich widerstehen können, wird in den seltensten Fällen zu dichterischen Zeilen führen. Wenn das dichterische Vermögen also weder angeboren ist, noch durch einen reinen Zufall entsteht, so verdankt es sich doch ebenso wenig - und das schwingt in dem "poetae nascuntur" intuitiv mit - unserem Wollen (oder eben einem zu erlernenden Können). Dies scheint mir eine Lehre für einen zu erhandelnden Anfang zu sein: er ist weder reine Aktivität, noch reine Passivität. Wir kommen als Sterbliche weder einfach aus der Welt hinaus (siehe oben), noch einfach erneuernd in sie hinein - es sind Spuren, die wir gewollt/ungewollt auflesen und fortschreiben und die zuweilen anders zu uns zurückkommen und einen anderen Anfang markieren, so wir aufmerken, manchmal verdichtet.
"Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft zu leben."
Hermann Hesse
30. August 2018