Im Land der vielen Dinge
Die Erfahrung ein Zimmer zu streichen, die Wohnung umzuräumen oder gar umzuziehen, führt unweigerlich zu einer weiteren Erfahrung: man besitzt viel mehr Dinge, als man denkt. Mag sein, dass dies für uns, die wir in diesem expandierenden Land der vielen Dinge aufgewachsen sind, nicht überraschend ist. Schnell findet man im Netz jene Statistiken, die besagen, dass ein durchschnittlicher europäischer Haushalt rund 10.000 Dinge versammelt hat. Und irgendwo in der Wohnung und im Haus müssen diese Dinge ja sein. Überraschend aber bleibt, dass die Auflösung der vertikalen Ordnung, die ein Schrank oder ein Bücherregal bietet, den Flächenverbrauch exorbitant in die Höhe treibt.
Während man zunächst acht- und bedenkenlos die Dinge auf den Boden legt oder großzügig in Kartons verstaut, wird nach kurzer Zeit offensichtlich, dass man damit begonnen hat, sich buchstäblich einzumauern. Wie ein Storch, der bemüht ist, die immer höher werdenden Dinge-Stapel, die zudem aufgrund der ungeplanten Stapeltechnik nicht nur sehr fragil aussehen, sondern sehr fragil sind - ein schmales Fundament muss einem größeren Ding Halt verleihen - wie ein Storch also bewegt man sich langsam und mit halbakrobatischen und staksigen Schrittfolgen durch diese neue Wohnwelt, bedacht darauf nichts umzureißen.
Der Blick auf diesen Wahnsinn besagt: da muss einiges weg; wer braucht diese ganzen Dinge (Stimme aus den Off: warum hast Du das alles gekauft?). Nun ist der konsumkritische Gedanke keineswegs ein neuer. Beispielsweise schrieb Erich Fromm 1976 das populäre Buch "Haben oder Sein", in dem er die These entfaltet, dass in modernen (kapitalistischen) Gesellschaften das besitzanhäufende Haben über das lebensliebende Sein dominiert. Und wer könnte einem Autor widersprechen der, auch wenn er der Frankfurter Schule zuzuordnen ist, das ungemein erfolgreiche Buch "Die Kunst der Liebens" (1956) kreiert hat.
Doch inzwischen hat sich der produzierende und besitzorientierte Kapitalismus mit dem Optimierungskapitalismus verbündet. Nicht nur Lieferketten werden verschlankt, sondern auch der Mensch soll fit für die Zukunft werden. Der Bauch soll weg, die Haare jenseits des Haupthaars auch und Besitztümer müssen nicht angehäuft werden. Die Wirtschaft ist inzwischen so potent, dass die Dinge nicht auf Langlebigkeit hin konzipiert werden müssen, noch muss man sie - auf Konsumentenseite - in letzter Konsequenz dauerhaft besitzen. Die Industriemaschine spuckt so viel Ware aus, dass man Dinge immer wieder neu anschaffen oder auch leihen kann (ein kleines ökologisches Versprechen lässt sich heute überall unterbringen).
Schließlich kommt mit der digitalen Revolution die Entdinglichung der Informationsträger hinzu. Schrift, Musik, Fotos und Bewegtbilder können von nun an auf ein spezielles, auf sie zugeschnittenes Trägermedium (wer wird in 20 Jahren noch das Wort Zelluloid kennen) verzichten. Einmal in die digitale Welt eingespeist, passen die Daten auf die immer kleiner werdenden Speichermedien. Und statt die Daten lokal verfügbar zu halten, verspricht die Cloud-Lösung eine ubiquitäre Verfügbarkeit aller Inhalte, vorausgesetzt die entsprechende Netzverbindung steht. Die Cloud als vertikales Prinzip (siehe oben = Regal) wirkt verschlankend und bringt als transzendentales Surplus die Allgegenwärtigkeit der Schöpfer (unseres digitalen) Seins mit sich. Man kann noch nicht erahnen, welche Herausforderungen und Probleme diese Seins-Entmaterialisierung mit sich bringen wird.
Fundamentalontologisch gilt jedoch: wir kommen mit nichts und wir gehen mit nichts. Dazwischen klemmt die Vermutung, dass man sein Leben nur leben kann, wenn man sich von den Dingen löst, sich nicht um jeden Preis an das verdinglichte Leben klammert. Nicht umsonst heißt das zwanghafte Festhalten an den Dingen auch Analfixierung. Und wer möchte schon in dieser Form fixiert sein?
Dies die Prolegomena zu dem konkreten Problem: die Regale sind leer geräumt und Unmengen von Büchern ergießen sich auf dem Boden. Altes Denken breitet sich vor mir aus. Zu viel davon. Es müssen einige Bücher weg. Nun, mutig ein Exemplar gegriffen, eine Anthologie: "Im Jahrhundert der Frau: ein Lesebuch". Seit Jahren im Besitz, nie gelesen. Aber einfach so unbesehen aus meiner Obhut entlassen? Meine eigene - ungute - Schlagzeile lautet: "Weißer Mann entsorgt das Jahrhundert der Frau" (Aber in welchem Jahrhundert befinden wir uns nun? Ich ahne hier Schlimmes). Gerechtigkeit muss walten - ein Blick in das Buch, vielleicht gibt das Schicksal einen Wink. Und tatsächlich, S. 130 - ein Gedicht namens "Nachlaß" von Friederike Roth, an dem es zum Schluss heißt:
"Arg ist die Welt
bis sie vergeht"
Friederike Roth: Nachlaß; in; Borchers, Elisabeth, Hrsg. Im Jahrhundert der Frau: ein Lesebuch. 1. Aufl. Weisses Programm, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1987., S. 130
Loslassen können! Ist das nicht die Botschaft! Loslassen.
Und ja, ein solches Buch mit solchen Zeilen kann ich nicht weggeben.
31. März 2021