Im Schattenreich der dunklen Mächte
Wer liest noch Bücher? Ab und zu werden noch Autorennamen in den Ring geworfen, um Landmarken abzustecken oder um bestimmten Argumenten innerhalb einer Diskussion mehr Gewicht zu verleihen. Allerdings funktioniert das natürlich nicht mit allen Autoren. Wer beispielsweise schon mal versucht hat, mit Bezug auf Thilo Sarrazin ("Deutschland schafft sich ab: wie wir unser Land aufs Spiel setzen") oder Rolf Peter Sieferle ("Das Migrationsproblem: über die Unvereinbarkeit von Sozialstaat und Masseneinwanderung") darauf hinzuweisen, dass die derzeitige deutsche Einwanderungspolitik nicht nur in der Gegenwart, sondern verstärkt in der Zukunft zu ganz massiven Problemen führen wird, kann bestimmt von besonderen Erfahrungen berichten. Selbst bei liberalen und toleranten Menschen werden diese Autoren oftmals als Rechte gebrandmarkt, was heutzutage scheinbar soviel heißt wie: "hasserfüllte Rassisten". Oder das Gespräch wird abgebrochen, weil man als moralisch integerer Gesprächspartner nicht länger existiert. Dabei wird offen zugestanden, dass die Bücher gar nicht gelesen wurden, womit sich auch die Frage erübrigt, ob bestimmte Thesen oder Sachverhalte nicht auch anders zu bewerten wären und wenn ja, wie (und in der Tat, die beiden Autoren respektive Bücher sind keineswegs sakrosankt; andererseits scheint mir ihr Erkenntniswert doch größer als ihr Verwirrungspotential. Zudem ist bekanntlich eine moralische Haltung kein Ersatz für die Wirklichkeitswarnehmung und für das Denken.).
Lassen wir dahingestellt, ob sich diese Diskursunfähigkeit im Einzelfall mit sozialpsychologischen Kategorien (Angst, Schuldbewußtsein) erhellen oder sie sich als eine Art Bequemlichkeit mit moralischen Mehrwert fassen lässt, oder ob es sich gar um eine gezielte politische Operation zur Schwächung des vermeintlichen Gegners handelt, ein Erkenntnisgewinn entspringt daraus für beide Seiten nicht.*
Inzwischen führe ich solche Diskussionen eher selten oder nur behutsam bis zu einem bestimmten Punkt. Nichtsdestotrotz verweise ich in anderen Diskurszusammenhängen auf andere strittige Autoren, gerade weil ich deren Denkbewegungen und Schriften für bestimmte Phänomene als überaus wichtig erachte. Dazu gehört zum Beispiel Martin Heidegger, auf dem das Etikett "nationalsozialistischer Philosoph" in einigen Kreisen erstaunlich fest haftet. Nun mag es unbestritten sein, dass Heideggers charakterlichen Eigenschaften und partiell auch seine politischen Einstellungen (zu einer gewissen Zeit) keine vorbildlichen waren, aber dass er zum Denken des 20. Jahrhunderts nichts Grundlegendes beigetragen hätte, das, nein das kann man nicht sagen.**
So es darum geht, die Wirkungsmächtigkeit der modernen Wissenschaft zu beleuchten und seine Bezogenheit auf das vorstellende Herstellen samt der damit einhergehenden Immanenzzuspitzung aufzuweisen, so gibt es kaum einen erhellenderen und präziseren Text als der 1938 entstandene Aufsatz von Martin Heidegger, der mit "Die Zeit des Weltbildes" betitelt ist. Erhellend insbesondere deshalb, weil es kein akademischer Text ist, der sich exklusiv an ein Fachpublikum wendet. Vielmehr ist er eine Einladung zum Nachvollzug einer Denkbewegung, die gewiss nicht einfach sein mag, aber sich dennoch an keiner Stelle in ein esoterisches Expertentum versteigt. Ich erwähne den Text auch deshalb, weil in ihm der schwierig zu fassende moderne Weltbezug behandelt wird, was wiederum mittelbar auf die in vielen Diskussionen - zum Beispiel über Kunst oder das Wesen des Politischen - zur Verwirrung führenden Kategorien Subjekt und Objekt durchschlägt.
In Kürze und Verkürzung: Die spezifische moderne Subjekt-Objekt-Konstellation kann ihre eigene Geschichtlichkeit und Begrenztheit, ihren eigenen, nicht in ihr selbst gründenden Bezug zur Welt, nicht mitdenken, weil ihre ungeheure Produktivität und Mächtigkeit diesen Bezugscharakter verstellt. Gerade die Ungeheuerlichkeit ihres Vermögens scheint als Wahrheit für sie zu bürgen. Auch wenn dies alles schwer zu fassen sein mag, insbesondere in dieser unzulässigen Verkürzung, führt Heidegger am Ende des Textes zu einem Gedanken über, die in vielfacher Hinsicht plausibel und erstaunlich zugleich ist.
Heidegger spricht davon, dass damit, das der Mensch nun darum ringt, allem Seienden das Maß zu geben, das Riesige und Riesenhafte zur Erscheinung kommt und zwar in Form des immer Kleineren. Explizit erwähnt er die Atomphysik. Man kann aber aus heutiger Sicht auch an die Gen- und Computertechnik denken, womit das Kleinste nicht nur in der Physik, sondern auch in der Biologie und im rechnenden Kalkulieren auftaucht und ungeheuere Wirkung entfaltet. Heidegger sieht hier eine Umschlagbewegung, in der das Quantitative zu einer eigenen Qualität wird. Während die Eingriffe und Manipulationen in den Kapillaren unseres Lebens die größten Effekte zeitigen und der umfassenden Planung, Berechnung, Einrichtung und Sicherung aller Lebenszusammenhänge zu dienen scheinen, bekommt es eine eigene Qualität, womit das Berechenbare gerade zum Unberechenbaren wird. Für Heidegger entsteht ein unsichtbarer Schatten, der die Dinge umgibt.
"Durch diesen Schatten legt sich die neuzeitliche Welt selbst in einen der Vorstellung entzogenen Raum hinaus und verleiht so jenem Unberechenbaren die ihm eigene Bestimmtheit und das geschichtlich Einzigartige."
Martin Heidegger: Die Zeit des Weltbildes, in: Holzwege; Frankfurt am Main 1994; S. 95
Die Zurichtung und Planbarkeit der Welt lässt sozusagen einen Schattenraum entstehen, der laut Heidegger unserer Vorstellung und damit auch unserem weiterem Zugriff entzogen ist. Das Unberechenbare bricht nicht nur in unsere Welt ein, sondern es ist aufgrund der Art unseres jetzigen Weltbezuges auch nicht einholbar. Das Wissen um das Unberechenbare, das Wissen um das Andere des Schattens, ist uns laut Heidegger verweigert. In einer Anmerkung zu dieser Passage fragt sich Heidegger gar:
"Was aber, wenn die Verweigerung selbst die höchste und härteste Offenbarung des Seins werden müsste?"
Martin Heidegger: Die Zeit des Weltbildes, in: Holzwege; Frankfurt am Main 1994; S. 112
Dies ist insofern bemerkenswert, als dass Heidegger nicht nur darauf zu verweisen scheint, dass selbst die forciertesten Anstrengungen zur Plan- und Kontrollierbarkeit der Welt zwangsläufig immer weiter ihre eigenen (man darf vermuten: mehr oder minder katastrophischen) Unberechenbarkeiten produzieren werden, sondern dass diese Erfahrung des "Entgleitens", sozusagen die Wissensverweigerung im Zuge der Wissenssteigerung, vielleicht auch die einzige Chance ist, dem Teufelskreis der weiteren Zurichtung von Welt zu entgehen, so man diese Erfahrung als Erfahrung und damit als Offenbarung ernst nimmt. Letzteres ist aufgrund des Grundzuges der Moderne, nämlich des Einholens scheinbar noch unbegriffener Außenbestände, schwer zu akzeptieren, wird ihm doch zugleich das Etikett des Irrationalen angehängt. Und so endet der Text von Martin Heidegger zum einen mit der Frage, wie wir mit dem Unberechenbaren umgehen sollen, so wir uns nicht darauf besinnen, dass wir als Sterbliche nie ganz in den Weltbeständen aufgehen werden. Besinnung also:
"Sie versetzt den künftigen Menschen in jenes Zwischen, darin der dem Sein zugehört und doch im Seienden ein Fremdling bleibt."
Martin Heidegger: Die Zeit des Weltbildes, in: Holzwege; Frankfurt am Main 1994; S. 96
"Dem Sein zugehörend." Verwirrend der Gedanke, dass das, zu dem wir gehören, nicht bestimmbar ist (wir auf Zuspruch angewiesen sind, selbst wenn es ein unberechenbarer ist) und dass dort, wo wir uns eigentlich bestimm- und vorstellbar einrichten wollen, wir letztendlich Fremde bleiben.
Zum anderen beschließt Heidegger seinen Text - wir befinden uns im Jahre 1938 - mit der drittletzten Strophe eines Gedichtes von Hölderlin, überschrieben mit "An die Deutschen"
"Wenn die Seele dir auch über die eigne Zeit
Sich, die sehnende, schwingt, trauernd verweilest du
Dann am kalten Gestade
Bei den Deinen und kennst sie nie."
Wie auch immer. Wer eine "rechte" Lesart finden möchte, sollte zuvor eine Lektüre vollzogen haben.
-----------------------------------------------------------
* Welche Volten die sich moralisch gebende Haltung samt der damit einhergehenden Unterschlagung der politischen Dimension erzeugt, war zum Beispiel im April dieses Jahres bei dem Göttinger Tatort-Krimi namens "National feminin" zu bestaunen, als die leitende Ermittlerin den rechtsextremen Täter beim Verhör vorhielt: "Wenn du deine Identität nur durch ein Feindbild aufrechterhalten kannst, dann ist deine Identität eine Krankheit." Den beiden Drehbuchautoren ist wahrscheinlich entgangen, wie vollumfänglich dieser Satz in dieser Tonart eben auch auf die Ermittlerin zurückfällt.
** Dass es zwischen seinem Denken und seiner politischen Überzeugung, die er zu einer bestimmten Zeit hatte, vielleicht Verbindungen geben könnte, ist durchaus eine These wert. Nur wird diese Verbindung vermutlich ganz anders aussehen, als sich das ein moralischer Diskurs vorstellen mag.
30. Juni 2020