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Ludwig Klages wäre heute 150 Jahre alt geworden

Am 10. Dezember 2022 wäre Ludwig Klages 150 Jahre alt geworden. Als ich vor einigen Jahren zum erstenmal einen Text von Ludwig Klages gelesen habe, war ich bestürzt, dass schon zu Anfang des letzten Jahrhunderts die Frage der Artenvielfalt und des Artensterbens in solch einer Drastik gestellt worden ist. In einem Beitrag zur Festschrift der Meißner-Tagung der Freideutschen Jugend, betitelt mit "Mensch und Erde" aus dem Jahre 1913, scheibt Klages also:

"Wo aber der Fortschrittsmensch die Herrschaft antrat, deren er sich rühmt, hat er ringsumher Mord gesät und Grauen des Todes. (...) Eber, Steinbock, Fuchs, Marder, Wiesel, Dachs und Otter, Tiere, an deren jedes die Legende uralte Erinnerungen knüpft, sind zusammengeschmolzen, wo nicht schon völlig dahin; Flußmöwe, Seeschwalbe, Kormoran, Taucher, Reiher, Eisvogel, Königsweib., Eule rücksichtsloser Verfolgung, die Robbenbänke der Ost- und Nordsee der Vertilgung preisgegeben."
Klages, Ludwig. Mensch und Erde: 11 Abhandlungen. Stuttgart: Kröner, 1973, S. 3

Mehr als hundert Jahre (!!!) später tagt zur Zeit die Weltnaturkonferenz (CBD COP 15 - Convention on Biological Diversity / Conference of the Parties) in Montréal. Als kleiner Trost mag noch dienen, dass die erste CDB COP-Konferenz immerhin 'schon' 1994 auf den Bahamas stattgefunden hat. Allerdings scheinen die bisherigen Erfolge überschaubar (siehe den Blog-Eintrag Mai 2022: "Von geschätzten fünf bis neun Millionen Tierarten verschwinden jährlich zwischen 11.000 bis 58.000 (https://www.landsiedel-seminare.de/weltretter/artensterben.php)" usw.).

Vermutlich wird an dieser verheerenden Bilanz in Zukunft auch eine Klages-Lektüre wenig ändern, zumal sein metaphysisches Denken, geleitet u.a. von der Unterscheidung zwischen Geist und Seele, wenig Ansatzpunkte bietet, neue Denkungs- und Handlungsarten zu erkunden. Und: kann man Klages von allen antisemtischen Ressentiments freisprechen, auch wenn man, wie Reinhard Falter in seinem Text zum 150. Klages-Geburtstag in der Winter-Ausgabe der Zeitschrift Tumult vorschlägt, den "Judaismus" bei Klages als Chiffre für die erdzerstörende Macht einer monotheistischen Geisteshaltung sehen kann?

Was bleibt: man kann in Klages einen Pionier oder Vorreiter einer grünen Bewegung sehen, der nicht nur an einem funktionalen Umweltschutz interessiert ist, sondern auch nach den tieferen Ursachen der ökologischen Krise fragt, als da sind: blinder Fortschrittsglaube und instrumentelle Vernunft (und ein ideologischer Monotheismus). Diese Ursachenkritik ist heute billig zu haben, weitgehend folgenlos. Aber vielleicht kann es deshalb nicht mehr darum gehen, zu hoffen, dass alles wieder 'gut' wird (wann war es das jemals?), so man nur die richtigen Maßnahmen ergreift. Die (nicht nur ökologischen) Verluste sind 'da', weitere werden kommen, teilweise irreversibel. Vielleicht erinnert uns Klages (nomen est omen; Klages ist auch Begründer der ausdruckswissenschaftlichen Graphologie) an eine andere Hoffnung, nämlich an eine, die aus der Trauer um jenes entsteht, was schon verloren ist (und in gewisser Weise immer schon verloren war) und noch verloren gehen wird: die paradoxe Hoffnung des verzweifelten 'Trotzdem', die der allumfassenden Machbarkeit und der Perfektion, auch der Perfektion der imaginären Weltenrettung, aus Liebe zum Leben und im Wissen um die Vergänglichkeit des Lebens entsagt hat, um das Leben zu schonen, es sein zu lassen. Im besten Fall: radikal, demütig, das Andere zulassend (und ist die Ökologie als Name für die Wechselbeziehungen zwischen den Lebewesen und ihrer Umwelt nicht eine unabsehbare Wissenschaft - jede (Wechsel-)Beziehung geht ihre eigenen ereignisvollen Wege) - und nicht resignativ.

Vielleicht.

10. Dezember 2022