(Mal) Wiedersehen
Ich bin in einem Alter, wo mehr als die Hälfte des Lebens vorbeigezogen ist, zumindest statistisch gesehen. Manche Gründe mag ich finden, um mich noch nicht so alt zu fühlen wie ich bin. Dies scheint eine Altersmarotte zu sein, die sich irgendwann mal im Geist eingenistet hat und wahrscheinlich erst dann verschwinden wird, wenn man sich seine vollumfängliche Gebrechlichkeit eingestehen muss, so man sich zu diesem Zeitpunkt geistig auf einer Höhe befindet, von der aus dies zu bewerkstelligen ist. Überhaupt ist man schlecht auf die schleichende Form der Alterung vorbereitet. Die kleinen Wehwehchen (welch ein schönes Wort) nehmen zu, Erkrankungen bleiben länger, die Sicht wird kürzer, die Zähne fragiler und schon stellt man sich eines Tages die Frage, ob die Tage der gefühlten Verfallsfreiheit endgültig gezählt sein sollen (wobei der körperliche Verfall real natürlich viel, viel früher schon eingesetzt hat). Das klingt larmoyant, wird aber dadurch relativiert, dass auf der anderes Seite eine Art von - der Kürze halber der Breitbandbegriff - Seinsdankbarkeit sich einstellt, manchmal. Die kleinen Dinge und Nebenwege bekommen eine schöne Art von unangestrengter Bedeutung, indem sie stille Freude auslösen. Und/aber der Tod: langsam nähert er sich von den Rändern, erfasst den ein oder anderen Bekannten - ja der, ist schon alt, sage ich zu mir -, kommt schleichend näher.
Keine abwegige Idee nun seine Beziehungsbestände zu prüfen, da der Vorrat an Freunden und Freundschaften sich nicht umstandslos aufstocken lässt. Einige lose Freundschaften sind eingeschlafen, kaum zu regenerieren. Und der beste Freund der Jugend, d.h. prägende Aufbruchsjahre, Wohngemeinschaft, Musik, Bücher, Politik, gefühlte Seelenverwandschaft? Die Lebenswege haben sich getrennt: Kinder und keine Kinder, Beruf und Berufung, Stadt und neue Stadt, Liebe und Liebschaften und irgendwann ist der Faden des Voneinander-Hörens und des sich Mal-Wieder-Meldens gerissen. Es ist ein schöner Herbsttag, ich bin auf Familienbesuch in der Heimatstadt und beschließe spontan auf dem Sonntagsspaziergang einen kleinen Umweg zu nehmen, um den einstmals besten Freund ein 'Hallo' zu sagen. Schauen was passiert ist, vielleicht auch: ob sich alte Bande fühlen, ob sich neue fügen lassen. Natürlich ist es unhöflich ohne Anmeldung wen auch immer zu überfallen. Was habe ich erwartet? Der erste Kurzbesuch führte einen Monat später zu einem gemeinsamen Wochenende. Seitdem denke ich viel darüber nach - über uns, mich, über ihn - und auf einer abstrakteren Ebene gibt es vielleicht einige Punkte, die nicht nur 'persönlicher Natur' sind.
Künstlerinnen und Künstler
In einer funktional beseelten Arbeitswelt bildet der Künstler (Vorsicht: generisches Maskulinum) und das Künstlersein die Kontrastfolie (eine der Kontrastfolien) des authentisches Lebens, auch wenn der Begriff der Authentizität in der Kunst- und Musikszene keinen guten Ruf hat. Während Arbeiter und Angestellte unter dem Joch des Kapitals zum Broterwerb ihr freudloses Dasein fristen müssen, verausgabt sich der Künstler in seinen Werken und in seinem Sein (in gewisser Weise wird auch der Firmengründer inzwischen - zu Recht - als Künstler gesehen), verzweifelt auf der Suche nach einer richtigen künstlerischen Lösung, gefangen in tiefen Depressionen, dann wieder obenauf, manisch Dinge erschaffend. Er feiert und lässt sich feiern für sein Werk, pfeift auf Arbeits- und Ruhezeiten und auch auf alle anderen Konventionen, lässt bei Konzerten und Vernissagen die Lebensenergie in allen Dimensionen spritzen. Zugleich ist dies Teil der Jugend-DNA, womit wir bei dem schönen Elternsatz sind, der da lautet, dass man mit den Flausen (diese im Kopf) doch bitte mal aufhören sollte. Diejenigen, die diesen Rat nicht befolgen oder auch aus eigenen Überlegungen und Empfindungen damit nichts anfangen können, landen - so die Erfahrung - entweder im Drogenmilieau oder versuchen tatsächlich (hier um umfassenden Sinne) Künstler zu werden. So man nicht in absehbarer Zeit Erfolg hat, bleiben die profanen Lebensbedingungen oft prekär, zudem das Künstlerleben trotz oder wegen der Exzesse, und auch ganz ohne, sich natürlich nicht so idyllisch darstellt, wie man sich das vorzustellen beliebt. Mag für ein gutes Kunstwerk Arbeit allein nicht reichen, so ist sie - und zwar harte Arbeit - doch unerlässlich. Gute Reise, viel Erfolg. Nichtsdestotrotz sind die Künstler im Bekannten und Freundeskreis beliebte Gäste, so sie entweder jung und/oder erfolgreich sind. Die Sonne des authentischen Seins, so man in diesen dichotomischen Schema denken möchte, fällt auch auf die Gönner.
Selbstdestruktion
Das Schöne an manchen Klischees ist, dass sie schön sind. Kunst und höchste Leidenschaft für die künstlerische Sache gehören in modernen Ohren fest zusammen. Denn in der Kunst wird unser wirkliches Sein verhandelt und um das zu bezeugen, ist an abgeschnittenes Ohr zum Beispiel nicht zu wenig. Jedoch: anders als in der 'Funktions-Arbeit' bringt der Künstler sich in sein Werk als Person ein und wird damit als ein offenbartes Oberflächenwesen angreifbar, insbesondere deshalb, weil in der Kunst immer auch Abgründiges mitverhandelt wird. Hat der Künstler Erfolg, wird ihn zum Beispiel auf persönlicher Ebene die Frage ereilen, ob das Interesse an seiner Person seinem Erfolg oder wirklich seiner Person gilt - er muss entscheiden, ob und von wem er um seiner selbst willen geliebt wird, gerade in Phasen des Selbstzweifels und der Kreativitätsflaute. Hat er andersherum keinen Erfolg, wird sich die Beschäftigung mit dem Abgründigen ganz natürlich mit den selbstdestruktiven Impulsen verbinden, was im Zusammenhang mit der oben erwähnten Kunstszene zu einer fabelhaften Abwärtsspirale fügen kann. Während sich dieser selbstdestruktive 'Lifestyle' in die Szene durchaus einfügt und man den jungen Menschen dieses Daseins als eine Zwischenzeit noch verzeiht, sieht es bei den älteren Künstlern (zum Teil generisches Maskulinum) anders aus. An der der Tafel steht nun: gescheiterte Existenz. Als tragischer Spezialfall sei noch die Variante erwähnt, wo das Versagen nicht auf Seiten des Kunstwerks und des Künstlers steht, sondern die Öffentlichkeit und die Zeit noch nicht reif sind für die entsprechenden Ideen und Werke. Man kennt jene Biografien, wo der zu Lebzeiten gescheiterte Künstler nach seinem Tod Anerkennung und Berühmtheit erlangt.
Aber der Stempel „gescheiterte Existenz“ dürfte nur in absoluten Ausnahmefällen von der nachfolgenden Generation korrigiert werden. Und dummer Weise führt diese Etikettierung bei den Betroffenen nicht unbedingt dazu, die künstlerischen Arbeitsanstrengungen zu intensivieren, was psychologisch auch verwundern würde. Also findet sich entweder ein Brot-Job und die künstlerische Produktion läuft nebenher (teilweise mit großen Erfolgen und Durchbrüchen = Ende Brot-Job) oder wird (sukzessive) eingestellt: Oder man findet einen Gönner, oder: der Abstieg in den ersten Höllenkreis des verwahrlosten und unproduktiven Künstlerseins beginnt. Die Selbstdestruktion findet nun dankbare Nahrung und die Diskrepanz zwischen Sein und Sollen wird immer größer, womit das Scheitern seine eigene Spur immer tiefer ritzt. Auf jeder Vernissage und jedem Konzert, die etwas auf sich halten, wird man diesen Personenkreis in seiner idealtypischen Ausprägung finden.
Systemschuld
Aber kann der gescheiterte Künstler wirklich etwas für sein Unglück. Denn: "Jeder ist seines Glückes Schmied." Dieser Satz hatte schon immer eine gehörige Schieflage. Für ihn spricht, dass er, wenn auch aus der Ferne, das Individuum daran erinnert, selbst aktiv zu werden. Nun, politisch raumgreifender argumentiert, würde man dem Satz entgegenhalten, dass er eine ganze Menge, meist unbemerkter, Strukturvorgaben vergisst, an denen viele verheißungsvolle Anstrengungen zerschellen bzw. überhaupt erst keine Möglichkeiten finden, sich zu entfalten. Niemand kann ermessen, in welcher Breite und Tiefe diese Struktureffekte wirken. Es gibt Beispiele, in denen Menschen unter hoffnungslosesten Startbedingungen großartige Leistungen vollbracht haben, während umgekehrt genug Beispiele existieren, in denen, trotz bester Voraussetzungen, das Leben konsequent vor die Wand gefahren wurde. Doch bleiben statistische Signifikanzen, die beispielsweise besagen, dass Kinder aus Akademikerhaushalten eher studieren und promivieren und schlussendlich auch mehr Geld verdienen als solche aus Arbeiterfamilien. Zumindest genug Gründe, um diese Struktureffekte ernst zu nehmen und zu versuchen, sie allgemeinwohlorientiert zu minimieren oder auszuschalten.
Was auf politischer Ebene zu diskutieren wäre, taugt jedoch wenig, um das persönliche Scheitern zu legitimieren. Hat man genug kognitive Ressourcen, um auf dieser „Strukturebene“ zu diskutieren und zu argumentieren, so sollten diese auch ausreichen, um gegen diese Strukturen anzugehen und / oder sich aus ihnen zumindest partiell herauszuarbeiten (was nicht heißen muss, dass man die Ordnung der Dinge akzeptiert). Geschickt umgeht man diese Problematik, indem man ‚die‘ Struktur zu einem Gesamtsystem verschweißt und davon spricht, dass das System - das eine, das große, das allumfassende, zumeist das kapitalistische System - an allem Schuld ist, auch an der ganz persönlichen Situation. Gegen die Größe, Stärke und Ausdehnung eines solchen Systems müssen alle individuellen Kämpfe versagen. Und so erübrigt sich auch die Frage, welch schwerer Schicksalsschlag - Trennung, Krankheit, Tod? – zu solchen Lebensverwerfungen hat führen können und ob kreatives Handeln nicht auch in anderen Arbeits- und Lebenskontexten zu realisieren ist. Stupid, es ist doch das System, das alles kaputt macht, so heißt es dann explizit oder implizit. Dabei hätte das Künstlerleben so schön werden können. Aber solange die große Revolution aussteht, kann man machen nix. Es kommt nicht von ungefähr, dass sich die ultra-liberale und die sozialistische Denkungsart komplementär verhalten, so die eine das Glück auf die eigene Leistung, die andere das Unglück auf das System zurückführt.
Verwahrlosung
„Denn viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt.“ (Mat, 22,14) Ich bin mir nicht sicher, ob es sich hierbei um eine Frustrations- oder Beschwichtigungsformel handelt. Sicher ist, dass es schon eine große Leistung ist, den alltäglichen Lebenswahnsinn halbwegs in den Griff zu bekommen, auch ohne auserwählt zu sein. Frustrations- und Depressionspotentiale lauern überall. Nicht jeder Tag ist mit Gelassenheit oder einer Portion Stumpfsinn gut zu überstehen. Umso erstaunlicher jene Momente, die durch – nennen wir es mal – Schönheit der Form gehegt und gepflegt werden. Mit liebevoller Disziplin mag man so manche dunkle Stunde wieder in die Spur einer anderen Zukunft schieben, wenn auch nicht immer.
Umgekehrt ist es keineswegs so, dass alles was die Form oder die Konvention unterläuft, subversiv oder künstlerisch wertvoll ist. Asozialität mag zuweilen als Konventionssprengstoff tauglich sein und der situierten Gesellschaft ihre Maske vorhalten und vielleicht sogar den Aufschwung zu einer Revolte bilden. Meistens jedoch kommt Asozialität im Zustand der Verwahrlosung daher und sieht so aus wie sie ist: trostlos. Und dies gilt auch für die gescheiterte und gealterte künstlerische Existenz, welche die Verwahrlosung gepaart mit Selbstdestruktion (und Selbstmitleid) als Aufstand gegen die herrschenden Verhältnisse verkaufen möchte und im besten Fall bemitleidenswert, ansonsten jämmerlich daherkommt. Dies umso mehr, als dass von den anderen, der Gesellschaft eine Solidarität (zum Lebensunterhalt) eingefordert wird, ohne selbst die eigenen Potentiale als Beitrag zu dieser Solidarität zu aktivieren. Das emblematische „Fickt Euch Alle“-T-Shirt adressiert an die anderen nicht nur die gelebte Souveränität einer außergewöhnlichen Existenz, sondern nötigt zudem noch den Respekt für eine solche kompromisslose Haltung ab, gepaart mit der Erwartung, dass diese ‚Originalität‘ als subventionswürdig zu betrachten sei. Vielfach untermauert der Zustand des Trägers, dass irgendeine Art von Hilfe wohl Not tuen würde. Auch wenn es heißt, dass der langsame Untergang im Verwahrlosungs-Sumpf Beziehungen zum angrenzenden Milieu pflegt, also sozial eingebunden ist, so möchte man doch zurückfragen, ob wir Pflanzen sind, die von ihrem floralen Schicksal der Immobilität eingeholt werden.
Bei einem Besuch beim besagten Freund vor knapp 20 Jahren stand auf seinem Küchentisch eine Vase mit Schnittblumen, was mich beeindruckt hat. Nun ist es ein Sonntag in der Pandemie-Zeit, eher Mittag denn Morgen, wieder in seiner Küche. Auf dem Küchentisch steht eine Styropor-Verpackung des asiatischen Lieferservices vom Vorabend. Ich trinke einen Kaffee; er holt eine angebrochene Flasche Bier aus dem Kühlschrank und fängt an die kalten Entenreste direkt aus der Verpackung zu essen.
28. November 2021