Mein Gott
Letztes Jahr schrieb ich zu dieser Zeit: "Und alle sagen, schreiben, denken: was für ein schrecklich-wirres Jahr dieses 2016 doch war." Es geht mir mit 2017 nicht anders. Wahrscheinlich wird man sich an diese Jahresendeinschätzung gewöhnen, wie man sich an den schleichenden Klimawandel gewöhnt. Die Extreme nehmen zu, ohne dass ein entscheidender Wendepunkt absehbar wäre. Und weil Alles so durcheinander ist und Alles sowieso viel zu viel ist, wendet man sich der Unterhaltung zu in der Hoffnung, dass dieser kleine Eskapismus ein bisschen Frieden und innere Ruhe bringt. Die von diversen Sendern produzierten Serien erfreuen sich vermutlich auch deshalb einer so großen Beliebtheit, weil sie sich in ihrer epischen Breite teilweise wie das richtige Leben anfühlen, nur scheinbar sortierter, spannender, freudiger, tragischer und, entscheidend, abschaltbarer.
Zuweilen schwappt dann doch etwas Existenz aus dem fiktionalen Setting hinüber in unsere Realität; so in der 2017 produzierten Western-Netflix-Serie 'Godless', die sich über 7 Episoden erstreckt und 1884 in dem Städtchen La Belle in Colorado spielt. Dort herrscht ein massiver Frauenüberschuss, da bei einem Minenunfall ein Großteil der Männer umgekommen ist. Die eigentliche westerntypische Gut-versus-Böse-Geschichte spielt sich jedoch zwischen dem Gang-Leader Frank Griffin (einarmig) und seinem Ziehsohn Roy Goode ab, der sich schließlich vom gewaltsamen Gang-Leben abwendet und von Griffin gejagt wird. Unterschlupf findet er bei einer Witwe, die eine eigene Farm besitzt und diese mit ihrem halb-indianischen Sohn mehr schlecht als recht bewirtschaftet. Das Drama nimmt seinen Lauf.
Der Titel der Serie ist westerntypisch, geht es in Westernfilmen auch immer um das Recht des Stärkeren, um die Unbarmherzigkeit der Gewalt, um die bedingungslose Rache, die allenfalls durch eine alt-testamentarische Gerechtigkeitsvorstellung - das Auge um Auge, Zahn um Zahn - eingerahmt wird. Aber eigentlich hätte diese Serie statt Godless auch Fatherless heißen können, ist es doch weniger die transzendentale Bodenlosigkeit, als vielmehr die ubiquitäre Vaterlosigkeit, die beunruhigend vor Augen geführt wird. Und das in einem Genre, das sich primär und traditionell um Männer und Männlichkeit, um Macht und Stärke kümmert. Stattdessen sehen wir, dass ein Großteil der Väter abwesend oder tot ist. Die verbliebenen Söhne und Männer sind physisch und/oder psychisch angeschlagen: Der Sheriff kann kaum sehen, der gute Held, Roy, wurde von einer Frau angeschossen und beherrscht nicht einmal die Kulturtechnik des Lesens, und der vaterlose 'halb-indianische' Teenager kann, mit seiner Mutter auf einer Ranch lebend, nicht einmal reiten.
Zunächst bleibt als einzige richtige Männer- und auch Vaterfigur, obwohl er im physischen Sinne gar nicht Vater ist, der Gang-Leader Griffin. Dieser hat allerdings einen Arm verloren, ist also in gewisser Weise als Revolverhand halb-kastriert, verkörpert aber nichtsdestotrotz den bösen Mann. Böse ist er paradoxer Weise auch deshalb, weil für ihn die familiär gefasst Loyalität höher steht, als alle Arten der Gerechtigkeit, der Vergebung oder der Liebe. Andererseits entwickelt sein 'Gegenspieler' und Ziehsohn Roy, obwohl zunächst selbst als Waise aufgewachsen, gerade im Umgang mit dem halb-indianischen Teenager (und Halbwaisen) durchaus genuine Vaterqualitäten. In einer der ergreifendsten Szene der Serie versucht er besagtem Teenager das Reiten beizubringen. Dabei zeigt sich, dass seine Autorität zwar mit Können und Wissen zu tun hat, aber auch von einer Macht getragen wird, die weniger zwingt, als dass sie anspornt und ermutigt und welche die richtige Mitte zwischen An- und Zuspruch findet. Der vaterlose Mann verschafft also dem Waisen-Teenager einen weiteren, neuen Zugang zur Welt, während er gleichzeitig von der Mutter des Teenagers im Lesen unterrichtet wird - auch ein Weltzugang.
Was dies mit unserer heutigen Welt zu tun hat? Wie mir scheint, geht das Zeitalter der "Vaterschaft" zu Ende. Nicht richtig klar ist, was kommen wird. Wir schauen weiter.
30. Dezember 2017