Nie wieder Fußball?
“Wenn man etwas verloren hat und es ein gefährlicher Verlust ist, dann weist man zurück, dass man mit der verlorenen Sache etwas von sich selbst verloren hat.”
Hélène Cixous: Die unendliche Zirkulation des Begehrens; Berlin 1977; S. 43
Dieser Satz scheint, so man ihn auf auf Fußballangelegenheiten beziehen will, etwas groß, etwas übertrieben zu sein. Und überhaupt stellt sich die Frage, was ein gefährlicher Verlust sein soll. Sind damit äußere Gegenbenheiten gemeint? Kann man nicht auch ein Gefühl verlieren? Und was heißt verloren und Verlust? Bezieht es sich lediglich darauf, dass etwas abhanden gekommen ist, so wie man ein Kette verloren hat, oder darauf, dass etwas vernichtet wurde oder gestorben ist? Und was ist das Gefährliche an einem Verlust? Offenbar kann es nicht darum gehen, dass auf einer biologischen, oder sollte man besser sagen, auf einer rein biolgischen Ebene etwas verloren wurde, was das eigene Fortleben in Frage stellen könnte. Denn ganz konsequent zu Ende gedacht, führt ein solcher Verlust entweder zum Tod, so man zum Beispiel den Kopf verliert, oder er ist auf biologischer Ebene nicht - mehr - gefährlich. Was also ist ein gefährlicher Verlust? Antwort: das Gefährliche an einem Verlust ist der Umstand, dass er unsere Identität in Frage stellt, dass er unsere Vorstellung von dem, was und wie ich bin, was und wie wir sind - und zwischen dem Ich und Wir laufen verwickelte Fäden -, unterminiert.*
Also muss man die Denkfigur etwas drehen: das Gefährliche an einem Verlust ist nicht der Verlust an sich, sondern der Umstand, dass er unsere Identität tangiert und wir darauf nicht antworten, wir uns also nicht ändern. Ist es nicht das, was in dem obigen Zitat von Hélène Cixous gesagt wird: "(...) dann weist man zurück, dass man mit der verlorenen Sache etwas von sich selbst verloren hat." Man kann nicht etwas von sich selbst verlieren und sich gleich bleiben, oder?
Offensichtlich sind davon auch alle Formen der Identifikationen betroffen, wie sie zum Beispiel beim Fußballfan aufs Schönste anzutreffen sind. Nun identifiziert sich der Fußballfan nur partiell mit der Fußballkultur, im Unterschied zum Opernfan, der sich vollumfänglich mit der Oper und nicht nur mit dem einem Komponisten 'identifiziert'. Der eigentliche Fußballfan ist primär mit einem Verein oder mit einer Nationalmannschaft verbunden. Denn im Unterschied zur Oper ist Fußball ein Wettkampfsport, in dem es (auch) um das Gewinnen und Verlieren geht, was folgerichtig dazu führt, dass man für und gegen etwas 'ist'. Mit etwas Küchenpsychologie kann man zu dem Schluss kommen, dass es gerade diese einfache Struktur von Gewinnen (Lust) und Verlieren (Unlust) ist, die zur Identifikation einläd. Daraus ergibt sich jedoch die Frage: warum sollte man sich mit etwas identifizieren, das immer wieder auch Unlust bereiten kann (denn bekanntlich gewinnt kein Verein immer).
Und schon sind wir bei der guten, alten Dialektik, diesmal von Leid und Freud. Denn je höher der Einsatz, umso höher die Gewinne und Verluste, desto schöner die Siege, desto trauriger die Niederlagen. Die Maßeinheit für ein Fußballspiel heißt in diesem Fall Spannung. Je weniger ich an Identifikation investiere, desto geringer die Spannung, desto geringer Freud und Leid. Eine Emotionssicherungslogik katapultiert den Zuschauer fast vollständig aus dem Bedeutungshorizont eines Fußballspiels, wenn man nicht die 'reine' Ästhetik des Spiels goutieren kann, was wiederum eine immense Kennerschaft voraussetzt. Insofern ist Fußball tatsächlich Teil der Kultur, da Fußball, mal mehr, mal weniger, auch Ambivalenzbewältigung ist (the higher they fly the deeper they fall und umgekehrt). Nun gibt es neben der ästhetischen noch eine weitere Ebene, die die ungeschützte Emotion einhegen kann: man macht die Treue zu einem Verein unabhängig von seinen Erfolgen zum eigentlichen Kristallisationspunkt der Identifikation. Und was ist nun der Mehrwert der Treue, die Lust an der Treue? Teil von etwas zu sein, das als 'Schicksalsgemeinschaft' en miniature funktioniert. Zugehörigkeit meint wiederum Kontingenzbewältigung, meint Solidarität und Hoffnung, selbst in 'schweren Stunden'. Eine Niederlage, und wäre sie auch noch so gravierend - zum Beispiel indem eine Mannschaft am letzten Spieltag in einem Heimspiel bei einem mittelmäßigen Gegner die Meisterschaft verspielt -, wäre nur ein weiterer Prüfstein für die eigene Loyalität. Es wäre sonst kaum zu verstehen, warum wenig erfolgreiche Vereine überhaupt eine Fankultur entwickeln können, wobei man einschränkend sagen muss, das zum einen natürlich die jeweiligen Voraussetzungen und Möglichkeiten eines Vereins mit ins Kalkül gezogen werden müssen (Erfolg im Rahmen des Möglichen) und zum anderen die meisten Fans eben bei dem höchstklassigen Verein der Heimatstadt 'hängen' bleiben (Tugend: Akzeptanz der Geworfenheit).
Ein einzelnes Fußballspiel wird also für einen wahren Fußballfan nicht zu einem 'gefährlichen Verlust' führen können. Jeder Fan weiß, dass Fortuna in dem entscheidenden Spiel ihre Gunst auch leistungsunabhängig zuteilen kann. Die eigentliche Währung der Treue ist die Identifikation derer, die für den Verein spielen und den Verein führen. Der Feind der Treue ist umgekehrt die Kommerzialisierung, die aus Spielern gewinnorientierte Sportler und aus Vereinen Wirtschaftsunternehmen macht. Dieser Schritt wurde schön längst vollzogen, was zur Folge hat, dass es sich nicht mehr um einen rein sportlichen Wettkampf handelt, da einige Vereine Dank ihrer finanziellen Möglichkeiten den Erfolg - zugegeben: mal besser, mal schlechter - herbeiorganisieren können. Was der Fan eines solchen Vereins an 'Treuemöglichkeiten' verliert, wird ihm auf der anderen Seite als 'Gewinnversprechen' zurückgegeben. Daher fühlen sich solche Fans mehr als Kunden, was wiederum dazu führt, dass sie bei einem schlechten Spiel die Spieler nicht unterstützen und frühzeitig das Stadion verlassen.
Das Eingangszitat könnte also auch heißen, dass mit der Kommerzialisierung ein gefährlicher Verlust einhergeht, den 'Kunden' dieser Entwicklung nicht wahrhaben wollen. Sie sehen nicht, dass mit der verlorenen Sache sie etwas von sich selbst verloren haben. Aber die Klage über die Kommerzialisierung ist so alt wie diese selbst. Die Entwicklung ist auch keineswegs überraschend und die kapitalförmige Durchdringung vieler Lebensbereiche vollzieht sich seit Jahrzehnten. Jede Fan-Treue zu einem Profiverein ist daher immer eine eingetrübte vor dem Hintergrund einer warenförmig organisierten 'Identitätsstiftung' ('Echte Liebe', wirklich?). Es kommt auch nicht von ungefähr, dass neben der Kundenmentalität sich auch eine Eventkultur in den Stadien etabliert hat, die die Stimmung an sich genießen möchte, fast unabhängig vom Spielanlass. Kulturpessimismus geht immer. Nichtsdestotrotz gibt es eine vitale Fußballkultur, die sich der Kommerzialisierung zu widersetzen versucht. Aber eine heile Welt gab es auch im Fußballuniversum nie. Das was man sucht, war und ist schon verloren. Eine bedingungslose Treue kann auch eine Immunisierungsstrategie sein, die es sich erspart, auf neue Gegebenheiten neue Antworten zu finden. Auf jeden Fall ist eine in sich gebrochene Treue 'ehrlicher' und die in mehrfacher Hinsicht sinnlose Fassungslosigkeit angesichts einer großen Niederlage 'besser', als die nüchterne Mutation zum Kunden oder zum Fußballkenner. Alternativ kann man auch den Tipp des Liedermachers Funny van Dannen beherzigen:
"Sie vermissen die großen Gefühle, das kann ich gut verstehn
Auch Sie sollten mal wieder in die Oper gehn..."
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*So gesehen ist ein gefährlicher Verlust nicht nur Innen und/oder nicht nur Außen, sondern betrifft die Schwelle, die diese beiden Zonen voneinander trennt und zugleich verbindet. Aber: wenn ich einen Schlaganfall erleide, verliere ich unter Umständen basale Fähigkeiten, wie zum Beispiel mein Sprachvermögen. Kann man zurückweisen, dass man mit diesem Verlust etwas von sich selbst verloren hat? Wohl kaum. Man könnte erwidern, dass es im eigentlichen Sinne kein gefährlicher Verlust ist, weil sich die Frage der Zurückweisung gar nicht stellt. Der Verlust ist so tiefgreifend, dass ich gezwungen bin die Innen-Außen-Beziehungen neu zu ordnen. An dieser Stelle, schwacher Trost, sei darauf hingewiesen, dass jeder Verlust auch neue Möglichkeiten entstehen lässt, wenn auch auf einer ganzen anderen 'Ebene'. Ein wirklicher Verlust erschüttert die Vorstellung unserer Souveränität, so dass ich 'geöffnet' werde, was immer daraus folgen kann.
29. Mai 2023