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Obdachlos und mit Liebe ins neue Jahr

Ich lese die ‚Subtile Jagden‘ von Ernst Jünger. Als ein entomologisches Buch kündet es nicht nur von kleinen Käfern, also davon, dass „Bugs“ nicht nur Fehler in einem Computerprogramm sind, sondern auch von anderen Zeiten, anderen Orten und vergessenen Begriffen - zum Beispiel vom Marterl; dies ist ein kleines religiöses Denkmal am Wegesrand, ein Pfeiler aus Holz oder Stein, das ein gemaltes oder skulpturales Andachtsbild als Erinnerung an ein Unglück zeigt.

Ich frage mich, ob in unserer an Unglück nicht armen Zeit ein solches Marterl noch Sinn ergibt. Als Memento Mori und Demutszeichen am Wegesrand spendet das Marterl im Rahmen seiner religiösen Möglichkeiten Trost und Hoffnung. Hingegen sind unsere Ansprüche an die Unglücksbewältigung von anderer Art. Wir suchen und finden Ursachen, Wahrscheinlichkeitsverteilungen und andere Zurechenbarkeiten. Wir bauen nicht auf Sand. Bekanntlich ist letzteres eine Sentenz aus dem neuen Testament. ‚Vom Hausbau‘ sind die dazugehörigen Sätze überschrieben:

„Darum, wer diese meine Rede hört und tut sie, der gleicht einem klugen Mann, der sein Haus auf Fels baute. Als nun ein Platzregen fiel und die Wasser kamen und die Winde wehten und stießen an das Haus, fiel es doch nicht ein; denn es war auf Fels gegründet. Und wer diese meine Rede hört und tut sie nicht, der gleicht einem törichten Mann, der sein Haus auf Sand baute. Als nun ein Platzregen fiel und die Wasser kamen und die Winde wehten und stießen an das Haus, da fiel es ein und sein Fall war groß.“
Mt 7,24–26, Lutherbibel 2017

Ein ordentliches Fundament ist also von Vorteil. Ansonsten kann ein Haus unter ungünstigen Witterungsbedingungen einstürzen. Durch die Baustoffrevolution in der Mitte des 18. Jahrhunderts, es wurde der moderne Beton entwickelt, konnten nach und nach stabile Betonfundamente zum Einsatz kommen. Die Häuser besaßen in gewisser Weise nun ihren eigenen Fels. Und überhaupt ermöglichten Beton, neue Baustoffe und neue Techniken die Loslösung des Bauens von den Maßstäben, die einstmals die Baumaterie vorgaben. Wo Sand war, soll Beton werden. Für Martin Mosebach kann es an der Hässlichkeit moderner Stadtarchitekturen keinen Zweifel geben, wobei er diese auch auf die fast beliebige Formbarkeit von Betonwerken zurückführt. Sein Fazit ist ernüchternd.

„Meine Ratlosigkeit in der Frage, was mit unseren Städten geschehen soll, kommt aus der Überzeugung, dass ihre Zerstörung sich irreversiblen industriellen, ökonomischen und politischen Prozessen verdankt, die zu gigantischen Verlusten geführt haben, ohne dass ihr ästhetischer Gewinn sich mir schon andeutete.“
Martin Mosebach: Als das Reisen noch geholfen hat: von Büchern und Orten. München: C. Hanser, 2011; S. 48 f. > In dem Kapitel „Arme neue Stadt“

Die Schönheit moderner Städte ruht wahrscheinlich nicht nur im Auge des Betrachters, sondern liegt, wenn man Mosebach folgen möchte, größtenteils ganz außerhalb der Wahrnehmung. Moderne städtische Wohnblöcke scheinen in der Tat oftmals auf das funktional Notwendige, baustofftechnisch Günstigste und ästhetisch Rudimentärste heruntergebrochen worden zu sein, während die repräsentativen Großbauten einer Leistungsschau einer Formgebungsolympiade gleichkommen, ohne das ersichtlich wird, welche Stätte sie den Menschen und welchen Platz sie der gemeinsamen Welt einräumen. Jedoch: die kulturpessimistische Übertreibung schreibt sich immer leicht, ohne sich an ihr eigenes Staunen zu erinnern. Zeichnet nicht das Dach der Elbphilharmonie die Wellenbewegung des hafendurchquerenden Flusses nach, verdeutlichen die tanzenden Türme am Beginn der Reeperbahn nicht, dass die Verhältnisse auf St. Pauli nicht immer der Vorstadtnorm entsprechen, um zwei hanseatische Beispiel aufzugreifen?

Aber die oben zitierten neutestamentarischen Zeilen zum Hausbau galten nicht dem angehenden Hausbesitzer, sondern natürlich dem Gläubigen. Sein ‚Haus auf Fels gebaut‘ hat derjenige, der nicht an Äußerlichkeiten hängt, an Weissagungen, Dämonenaustreibungen und Machttaten, sondern den Willen des Herrn befolgt und sodann an seinen Früchten zu erkennen ist. Love is all you need, also christliche Liebe. Wir befinden uns auf einem metaphysischen Weg. Am Ende des Weges, so richtig be- und gegangen – und man muss dem Christentum absolut zugutehalten, dass die Gefahr einer Glaubensformalisierung und vorschnellen Glaubensgewissheit immer wieder thematisiert wird – gibt es eine Belohnung, genannt das ‚Himmlische Jerusalem‘:

„Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkommen, bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann. Und ich hörte eine große Stimme von dem Thron her, die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein; und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.“
Die Offenbarung des Johannes, Offb 21,2-4, Lutherbibel 1984

Die „Hütte Gottes“ hört sich nicht nach einem Betonbau an. Aber ich weiß natürlich nicht, was Gott als Baumeister seinen Gefolgsleuten bieten wird. Neutestamentarisch bleibt als Empfehlung und Verheißung festzuhalten: glaubenstechnisch felsenhaft, erlösungstechnisch gottes-hütten-wohngemeinschafts-mäßig. Das alte Testament hingegen hat mit seiner bekanntesten biblischen Architektur-Erzählung noch anderes im Sinn. Gemeinhin wird der Turmbau zu Babel so interpretiert, dass die Menschen die Macht Gottes herausgefordert haben. Damit droht der Menschheit Größenwahn.

„Es hatte aber alle Welt einerlei Zunge und Sprache. Als sie nun nach Osten zogen, fanden sie eine Ebene im Lande Schinar und wohnten daselbst. Und sie sprachen untereinander: Wohlauf, lasst uns Ziegel streichen und brennen! – und nahmen Ziegel als Stein und Erdharz als Mörtel und sprachen: Wohlauf, lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reiche, damit wir uns einen Namen machen; denn wir werden sonst zerstreut in alle Länder.“
Genesis / 1. Mose 11,1-4 Lutherbibel 1984

Die linguistisch damals noch monokulturell aufgestellte Menschheit verfällt auf die Idee, eine vertikal-architektonische Spitzenleistung zu vollbringen, um mit Gott auf Augenhöhe kommunizieren zu können - Gott-Mensch > Mensch-Gott. Aber was ist ein Monolith schon wert, wenn gleich daneben ein zweiter erscheint?

„Und der HERR sprach: Siehe, es ist einerlei Volk und einerlei Sprache unter ihnen allen und dies ist der Anfang ihres Tuns; nun wird ihnen nichts mehr verwehrt werden können von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun. Wohlauf, lasst uns herniederfahren und dort ihre Sprache verwirren, dass keiner des andern Sprache verstehe!“
Genesis / 1. Mose 11,6-7 Lutherbibel 1984

Gott erschuf also die Pluralität, hier die Sprachenvielfalt, um die Allmachtsansprüche der Menschen zu begrenzen. Dies ist zweifelsohne ein anti-phallischer Impuls, hat doch jeder Turm auch eine erigierte Seite oder Spitze. Gott hat in Babel also seine feminine Seite ausgespielt, was allerdings auch zeigen würde, dass diese Seite keineswegs immer destruktionsfrei arbeitet.

Der göttliche Eingriff ist der Menschheit zuträglich, wird aus der Monovertikalität nun die horizontal gegliederte Sprachen- und Weltenvielfalt samt verschiedenen Bau- und Wohnformen. Aber das ist natürlich keine abstrakte Sache. „Zur Welt kommen -Zur Sprache kommen“, so lautet ein Buchtitel von Peter Sloterdijk. Heißt auch: kaum auf der Welt, schon bahnt sich die Welt-Sprachverklammerung mit ihren Möglichkeiten und Untersagungen an. Der Sprach-Stoff, mit dem wir uns in der Welt einrichten bzw. von dem wir eingerichtet werden, der uns trägt, formt, transformiert, mit dem wir formen und transformieren, ist zwar überall verfügbar - wo aber liegt die Verfügungsmacht? Diese Frage hat bezüglich der Wohnideen und der Bauausführung sicherlich erhebliche Relevanz.

Trotz der Babel-Geschichte träumte ein Teil der Menschheit natürlich weiter. Und zwar von einem finalen Bau- und Wohnwerk, das den Verwirrungs- und Zerstreuungspotenzialen der realen und vielfältigen Welt etwas entgegenzusetzten hatte. Das Haus des Seins sollte fugenlos im Geist erblühen. Mit den Dynamisierungstendenzen der Moderne wurden alte Wohnideen verworfen. Nun sollte radikal neu gebaut werden, der Himmel auf Erden sollte erreichbar sein.

Bekanntlich kam man im 20 Jahrhundert der Hölle näher als dem Himmel. Unter anderem zog Jacques Derrida, Begründer der Dekonstruktion, Sohn einer sephardisch-jüdischen Familie, daraus Konsequenzen. Statt weiter Aufbau- und Neubauideen zu ersinnen, nahm er die göttlichen Babel-Geschichte ernst: Dekonstruktion. Nun galt es, den göttlichen Zerstreuungsfunken in all den Geisteswerken zu finden. Statt nach vorne/oben ging es nun horizontal zurück. Und siehe da: die Fundamente all dieser verheißungsvollen Denkgebäude genügten ihren eigenen Ansprüchen nicht. Der Abbau-Befund lautete: jedes Fundament ist in sich selbst brüchig, weil es auf anderen und älteren Fundamenten ruht, die es weder ersetzten noch zuschütten kann. Für das Bauen gilt: es gibt und gab kein jungfräuliches Bauland, wir stehen auf geschichteten Fundamenten, leben in schon gebauten Häusern, die teilweise einstürzen und unsere gesammelte Einrichtung erneut zerstreuen. In jedem Fundament wohnt ein Stück Babel. Peter Sloterdijk schreibt daher mit Bezug auf Derrida:

„Er (Derrida, SB) schien der Annahme zuzuneigen, wonach Menschen, symbolisch gesprochen, immer zum Wohnen in Altbauten verurteilt sind - und mehr noch immerzu Spukschlösser bewohnen, selbst wenn sie der Meinung sind, in den neutralen Gebäuden der Gegenwart zu residieren.“
Peter Sloterdijk: Derrida, ein Ägypter: über das Problem der jüdischen Pyramide. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2007, S. 42

Man kann diesen Gedanken noch radikalisieren: stehen wir damit nicht immer auf ungesichertem Terrain und befinden uns in einsturzgefährdeten Gebäuden? Jeder Einsturz ein Ereignis und umgekehrt. Die menschliche Ereignisgeschichte als Katastrophenabfolge? Dies wäre ernüchternd, glauben wir in Baufragen, bewußt oder unbewußt, dass - symbolisch gesprochen - eine ‚feste Burg‘ sein wird. Alle Menschen haben einen konstruktiven Zug mit Blick auf eine zeitausgreifende Stabilität. Was hilft?

Man kann auf das ‚Himmlische Jerusalem‘ hoffen und dabei hoffentlich nicht vergessen, dass die Liebe in und zur Welt darüber nicht verloren geht. Gibt es eine Liebe beim und zum Bauen und Wohnen? Martin Heidegger hat in den 50er Jahren darauf hingewiesen, dass unser Aufenthalt als Sterbliche auf der Erde, der auch den Himmel und das Göttliche umfasst, mit dem Schonen, Bewahren und Pflegen zusammenhängt. Das hört sich zunächst wie ein konservativer Leitfaden zur Bewahrung unserer – waren diese jemals natürlich – Lebensgrundlagen an, was heutzutage auch bei linksökologischen Aktivisten*innnen hoch im Kurs stehen dürfte. Etwas weniger zugänglich ist hingegen diese Wohnaufenthalts-Anmerkung:

„Die eigentliche Not des Wohnens beruht darin, daß die Sterblichen das Wesen des Wohnens immer erst wieder suchen, daß sie das Wohnen erst lernen müssen. Wie, wenn die Heimatlosigkeit des Menschen darin bestünde, daß der Mensch die eigentliche Wohnungsnot noch gar nicht als die Not bedenkt?“
Heidegger, Martin: Bauen Wohnen Denken (1951), in: Gesamtausgabe - Band 7 - Vorträge und Aufsätze. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 1976, S. 163

Wenn wir das Wohnen „immer erst wieder“ lernen müssen, dann scheint es keine Bauform zu geben, die für uns fertig ‚ist‘. Der Weg zum richtigen Wohnen ist demnach ein Suchen, kein Machen. Die Idee liegt nahe, zunächst mit den vorhandenen Bausubstanzen und Baustoffen (der Sand, der langsam verloren geht) sorgsam umzugehen. Weiterhin: wer sucht, sucht auch nach Antworten. Was aber, wenn eine Antwort nur vor dem Horizont einer Not auftauchen kann, die als Not nicht in der Logik des Problemlösens gedacht wird. Was, wenn das Problemlösen im eigentlichen Sinne auf keine Antwort angewiesen ist, weil sie den Mechanismus des Lösens schon ‚weiß‘. Das hieße, auf eine andere Antwort zu vertrauen, vertrauen darauf, dass wir eine Antwort von ‚woanders‘ empfangen werden. Wirkliches Warten wäre schon ein ‚Fortschritt‘. Und in Baufragen ist Warten inzwischen nicht unüblich. Bis dahin schauen wir in Liebe nach oben und sehen, wenn wir Glück haben: die Sterne.

30. Januar 2022