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Prokrastination

Lauttechnisch ist der Begriff auf der Höhe seiner Bedeutung, will sagen, er hört sich unschön an. Gebildet wird er aus der lateinischen Vorsilbe pro "für" und dem crastinum "morgen", was zusammen ein "vertagen" ergibt und das Phänomen des extremen Aufschiebens bezeichnet (Zudem lässt die Prokrastination an die Kastration denken (castrare "verschneiden"), was, auch wenn inhaltlich keine Verbindung besteht, den Assoziationsraum nicht freundlicher macht).

Will man die Prokrastination in der Praxis erleben, ist das ganz einfach: die anstehenden - wichtigen - Aufgaben so lange nach hinten schieben, immer wieder, bis der Aufgabenberg krachend über einen zusammenstürzt* oder man sich heroisch kurz vor Toresschluss in einen Arbeitsrausch hinein beißt, mit dem man die Anforderungen in den letzten Tagen, Stunden, Minuten erfüllen kann (Oder wie Mark Twain schon treffend bemerkte: "Gäbe es die letzte Minute nicht, so würde niemals etwas fertig".)

Ungeübte Prokrastinator*innen (darf mann negative Eigenschaften gendern?) ergehen sich in dieser "Kurz-vor-Toresschluss-Arbeits-Stress-Phase" in Selbstvorwürfen und fragen sich, warum sie nicht viel früher die Aufgabe in Ruhe angegangen sind. Rechtzeitig begonnen, hätte alles in größter Gelassenheit zu Ende gebracht werden können, so der Gedanke. Daraus entspringt die wichtige Lehre für die Zukunft, die da lautet, dass das nächste Mal auf jeden Fall - Ehrenwort, ich mache es anders - zeitig mit der Arbeit begonnen wird.

Der PP (Prokrastination-Profi) wiederum weiß, dass dieses Gelöbnis an das gestresste Ich eine nur geringe Halbwertszeit besitzt. Statt sich in einer kritischen Phase mit negativen Gedanken und halbgaren Zukunftsversprechen abzugeben, wendet - oder besser: hat er die Situation schon im Vorhinein ins Positive gewendet. Fleißig und strebsam mögen die Mittelmäßigen sein, Grosses lässt sich nur unter großen Druck erschaffen (so wie der Diamant auch ein Produkt der druckvollen Verdichtung ist). In diesem Sinne ist Prokrastination kein Schicksal oder ein pathologisches Verhalten, sondern der halb- oder unbewußt herbeigeführte Zeittrichter, der alle Energien auf ein Werk hin bündelt.

Damit dieses Werk gelingen kann - und wir sprechen jetzt nicht von Werken, die man mechanisch routiniert so nebenbei abarbeiten kann -, sind weiterhin zwei Dinge von Bedeutung. Erstens muss das Timing stimmen. Zunächst sollte gewartet werden können, damit der Druck entsteht = leichter Teil der Übung. Aber verpasst man sodann den Arbeitsbeginn, wird es irgendwann rein technisch unmöglich, die Aufgabe umzusetzen, auch wenn die treffende Idee und die operativen Arbeitsschritte sich klar im geistigen Auge spiegeln. Problematischer dürfte aber zweitens sein, dass an einer Stelle - wir erinnern uns: die Zeit drängt -, an der etwas hätte passieren müssen, nichts passiert. Der Druck führt nicht zu einer guten Idee, führt nicht zu konzentriertester Arbeitsleistung, führt nicht zu einem Flow.

In diesem Fall hätte das Realitätsprinzip im und als Versagen gesiegt, während im anderen Fall das Lustprinzip quasi in letzter Sekunde sich der Sache angenommen hätte, um den Herausforderungen der Realität mit anderen Vorzeichen zu begegnen. Die Lust braucht den Aufschub, gewährt das gelingende Werk als Anverwandlung der Realität und nimmt das Scheitern in Kauf. Die Realität bedingt das Abarbeiten der Aufgaben, ermöglicht die Sicherheit des Bestands und führt - so übermächtig - zur Erstarrung (oder auch: Burnout).

Ist also die Prokrastination als Problemfall des Aufschubs ein Zeichen für den (oftmals) ausbleibenden Umschlagspunkt, der Arbeit auf etwas anderes hin öffnen kann? Die (oftmals) fehlgeschlagene Sehnsucht nach einer Realität, die sich durch mich verwandelt? Eigentlich sollte hier etwas ganz anderes stehen. Nicht warten bis die Muse küsst, wieder an die Arbeit, keine Zeit verlieren.

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* Dazu gibt es die passende Dostojewski-Erzählung, in der am Anfang noch halbwegs frohgemut heißt: "Ich werde es schon schaffen, bei Gott, ich werde es schaffen …" Fjodor M. Dostojewski: Ein schwaches Herz; in: Sämtliche Erzählungen; München 1984 (1848); S.171
Der ‘Held’ der Geschichte will heiraten und hat sich verlobt. Für den Fortgang seiner Liebe, seiner Existenz ist die Unterhaltssicherung entscheidend, die zukünftig nur funktionieren wird, wenn er als Schreiber eine Abschrift innerhalb von zwei Tagen anfertigt. Der Zeitrahmen ist äußerst knapp bemessen, den Arbeitslohn hat er schon erhalten. Externe Verpflichtungen, innere Beschwichtigungen und Ablenkungsmanöver bestimmen sodann den Lauf der Dinge.

Als ich damals die Geschichte las, musste ich nach 30 von 46 Seiten mit der Lektüre aufhören. Ein Abgabetermin nahte; psychisch wirkte die Geschichte desaströs. Ich habe sie nie zu Ende gelesen.

31. Mai 2020