Rechtsdrehend ohne Religion – Teil 2
Omega
Und die Religion?
Hannah Arendt betonte, dass der Sinn von Politik, jenseits von funktionalen und moralischen Verengungen, die Freiheit ist. Nun ist Freiheit kein Begriff, der zum Kernbestand religiöser Diskurse gehört. Die Religion bindet, sie verspricht Zugang zum Heilen und Heiligen, sie trägt ein Versprechen auf Erlösung. Doch politische Freiheit (und gibt es eine andere) erlöst nicht. Sie ist als eine Möglichkeit eines anderen In-der-Welt-Seins ‚co-präsent‘. Haben die Tumult-Texte also Recht (siehe: Rechtsdrehend ohne Religion – Teil 1): Religion gehört nicht ins politische Geschäft, ist ein Atavismus und fixiert und blockiert Energien. Also ein mehr oder minder gefährlicher Kinder-Glaube?
Andererseits wird man kaum übersehen können, dass der Totalitarismus ein modernes Phänomen ist und in seiner sachlichen Unerbittlichkeit (Arendt veranschaulichte dies mit den Sprichwörtern: wer A sagt, muss auch B sagen; wo gehobelt wird, da fallen Späne) die Shoah, das industrielle Töten und unermessliches Leid hervorgebracht hat. Scheinbar kann die moderne politische Sphäre nicht nur Freiheit generieren, sondern auch einen zugespitzten Dezisionismus, der bisweilen nicht nur meint, die Wahrheit zu besitzen, sondern diese auch ins Werk setzen zu können. Wäre die Religion ein Korrektiv gegen solch eine Souveränitätshybris, gegen den Willen zur absoluten Immanenz? Hannah Arendt hat betont, das genuin politisches Handeln kein souveränes Handeln sein kann (also auch kein immanentes Handeln), weil im Zwischenraum der pluralen menschlichen Bezüge kein Kalkül durchzuregieren vermag. Erst der Verfall dieses gemeinsamen Zwischenraums eröffnet den direkten Weg von A nach B (wie eben in all jenen Bereichen, die unter dem Primat der Funktion, der Moral, der Gewalt stehen).
Also: gibt es eine Beziehung zwischen Religion und dem (emphatisch verstandenen) Politischen, die man produktiv nennen könnte? Zu groß die Frage für einen kleinen Text. Also hier in aller Kürze nur einige Aspekte. Zunächst: Das Christentum (also eine spezifische Religion) ist ganz sicher auf Engste, wenig überraschend, mit dem Abendland verknüpft. Man denke an das geschichtsprägende Moment des christlichen Kaisertums, das in der widerstrebenden Fügung der zwei „Königs-Körper“, göttlich – weltlich, das Böse aufzuhalten versuchte (Stichwort „Katechon“ > siehe auch: https://www.schwingungsbreite.de/search/Katechon). Athen – Jerusalem: Hier ‚verbindet‘ sich nicht nur Vernunft und Glaube, sondern diese Beziehung wird in Spannung gehalten. Schiebt man noch Rom dazwischen = Vernunft - Recht - Liebe, so ist man schon nah an der französischen Revolution: Liberté, Egalité, Fraternité“, auch wenn im Frankreich der Revolutionsjahre die Religion auf allen Ebenen eliminiert werden sollte (ein sicheres Zeichen dafür, wie mächtig das Christentum auch als ‚geistiges Fundament‘ noch weiterwirkte). ‚Führt‘ also, um das Fundament zu erweitern, das Judäo-Christentum zu den demokratischen Revolutionen, um dann langsam zu verlöschen. Man muss nicht lange suchen, um diese Art von Aufklärung insofern zu begrüßen, als dass der Wahrheitsanspruch der Religion mit ihrer Intoleranz und Gewalt zu einigen Massakern und Inquisitionen geführt hat, die wenig mit Liebe oder mit Freiheit zu tun gehabt haben dürften. Ist diese Art von Onto-Theologie also eher Teil des ‚Problems‘ denn Teil der ‚Lösung‘? Aber man kann auch umgekehrt argumentieren, wie es Gianni Vattimo in seinem Essay „Die Spur der Spur“ tut, und die Überwindung der Metaphysik aus einer neutestamentarischen Herkunft herleiten (Vgl: Derrida, Jacques, und Gianni Vattimo. Die Religion. Berlin: Suhrkamp, 2017.). Demnach geht es nicht um eine Rückkehr zu den Fundamenten, sondern darum, im Sinne der Evangelien die Zeichen der Zeit zu deuten (Ebenso wie es im Judentum bei der Schriftauslegung darum geht, das Wort Gottes für die Menschen zu deuten, nicht um Unterwerfung unter die Schrift. Warum der Islam, als jüngste der drei abrahamitischen Religionen, sich der Hermeneutik der Schrift und des Lebens eher verweigert ….).
Doch: kann man die Himmelsleiter, so sie ihren Dienst, also die Rückkehr zur Welt, getan hat, nicht einfach fortwerfen? Hat sich die Spannung gelöst und der König (und die Welt) braucht keine zwei Körper mehr, weil es keine Könige mehr gibt? Vermutungsweise: Die Spannung arbeitet produktiv und in Latenzen dort weiter, wo sich Widerstand gegen die Immanenz einer politischen Lage / Entscheidung formt. Erstes Zeichen: der Zyklus der Zeit, der ewige Kreislauf und die Wiederkehr des Immergleichen ist durch das Judentum / Christentum unterbrochen worden. Geschichte beginnt als Geschichte. Die sich daran anschließende Idee des Fortschritts, als säkularisiertes Erlösungsversprechen hat sich jedoch längst desavouiert, so dass Walter Benjamin seinen Engel der Geschichte in der Rückschau nur auf die Trümmer unseres Tuns, auf die mannigfaltigen Katastrophen blicken lassen kann. Es bleibt jedoch die, wenn auch schwache messianische (und liebende) Kraft, die sich als heilsame und gutmachende Unterbrechung ereignen kann (‚gegen‘ den ‚reinen‘ Willen der Macht und der Entscheidung). Nochmals vermutungsweise: die Autoimmunität des Jüdisch-Christlichen – der eigene Selbstschutz, die eigene Immunität, die eigene Identität wird unterlaufen, um sich dem zu öffnen, was immer mehr ist als die religiöse Gemeinschaft selbst: Öffnung zum Tod, zum anderen (auch und gerade weil zugleich das Heile, das Heilige, das Erlösende, die Wahrheit der Erlösung versprochen wird). Und vielleicht hat diese Autoimmunität, als opferhafte Selbstzerstörung gegen einen zu umfassenden Selbstschutz, immer auch ein haltendes Moment, sofern sie jene adressiert, die nicht ‚dazugehören‘, die nicht in dem Luxus einer selbstgewissen Identität zu leben glauben (wie überall besteht auch hier die reaktive Möglichkeit, die Autoimmunität wieder zu einem ‚Programm‘, zu einer Ideologie zu machen, um sie wiederum ‚aufzuheben‘).
Und nun? Egon Flaig hat sicherlich Recht, wenn er mit Böckenförde die Religionsfreiheit dort enden lässt, wo die Staatsexistenz gefährdet ist. Aber gilt das zum einen nicht für alle politischen Strömungen, die beginnen jenseits der Verfassung zu operieren. Und zum anderen bietet die Religion einen Ort, von dem aus, zur Verhütung des Schlimmsten, sich politischen Allmachtansprüchen entgegengestellt werden kann (und – siehe die Frage der Autoimmunität -auch innerkirchlichen Übergriffen).
Hingegen überspringen die von Rudolf Brandner mit dem Religiösen in Verbindung gebrachte Immunisierungstendenzen m.E. zum einen die Spannungsverhältnisse innerhalb (hier) des Christentums (ebenfalls Stichwort: Autoimmunität) und blenden die totalitären Versuchungen moderner politischer Räume aus, auch wenn man ihm zustimmen muss, dass Ursprünge des und ‚Schranken‘ gegen den Totalitarismus sicherlich nicht in moralischen Kategorien gefunden werden können.
Bei Thilo Sarrazin liegt sicherlich die anspruchsloseste Verwerfung des Religiösen vor. Die Kritik an einem ideologischen Islam mag richtig sein. Die Überweisung der Sinnfrage an die Naturwissenschaft ist schon ein sehr kühner Buchhaltungstrick.
Also: vielleicht muss man die oben aufgeführten spezifisch religiösen Momente eher in einem vorpolitischen Raum ansiedeln: Doch was wären wir: ohne Hoffnung, ohne Ereignisse, ohne Zweifel, ohne Haltgebungen (mit all den fortlaufenden Aporien). Oder anders herum gefragt: läuft ein politischer Diskurs ohne die Mitartikulation dieser Latenzen nicht Gefahr, eindimensional und blind, verhärtet und schließlich zynisch zu werden.
30. April 2025