Schach, Matt und die Lebensaufgabe
Einige Zeitschriften bieten Schachkolumnen, manchmal gepaart mit einer kleinen Schachaufgabe. Da ich als Jugendlicher Schach spielte, wenn auch auf einem sehr bescheidenen Niveau, versuche ich mich ab und zu an der Schachherausforderung, gleichwohl ahnend, dass hier die sogenannte Herausforderung für mich ein wirkliches Problem ist. Inzwischen weiß ich, dass ich die Aufgabe fast nie lösen kann, selbst wenn ich etwas mehr Zeit investiere. Auch strategische Flexibilität treibt die Erfolgsquote nicht nach oben. Meist fange ich damit an, die naheliegensten Züge durchzurechnen. Das ist natürlich insofern sinnlos, als dass es immer besonders schöne, d.h. ausgefallene und überraschende Kombinationen sind, die veröffentlicht werden. Die Veröffentlichungswürdigkeit besteht gerade aus dieser Unvorhersehbarkeit. Dies im Hinterkopf suche ich dann nach besonders abstrusen und auf den ersten Blick kontrakproduktiven Kombinationseinstiegen, die sich jedoch ins trostlose Niemandsland einer sich ankündigenden Niederlage verflüchtigen, statt in einen überraschenden und triumphalen Sieg zu münden. Dann sage ich mir, dass ich besser das Gesamtbild auf mich wirken lassen sollte, um Kräftelinien der einzelnen Figuren und ihr Beziehungsgefüge in mich aufzunehmen. Ganz intuitiv, so die Hoffnung, formt sich daraus ein Lösungsansatz, so wie die kontemplative Betrachtung von einem Zimmer und den dazugehörigen Möbeln auch zu einem guten Ergebnis hinsichtlich einer Raumgestaltung führen kann. Nicht jeder gute Raumgestalter ist jedoch ein guter Schachspieler, was unter anderem auch daran liegen dürfte, dass das Schachrätsel zumeist nur eine, und zwar die eine richtige Lösung kennt - da kann es keine zwei Meinungen geben. Kurzum, auch die gestaltspsychologisch inspirierte Herangehensweise führt bei mir nicht zum Erfolg. Hinzu kommen noch die aufmunternden Worte des Schachredakteurs, die aber, obgleich Hinweise auf den Lösungsweg zart andeutend, meist jede Hoffnung gründlich vernichten: ""Mit viel Inspiration finden vielleicht auch Sie die so wunderschöne wie schwere, die schwarze Dame erobernde Opferkombination." Mein persönliches Schach-Sprache-Übersetzungs-Programm sagt mir sogleich: versuche es erst gar nicht. Meist beruhige ich mich mit dem Gedanken, dass ich, wenn ich sehr viel Zeit im Schachuniversum verbringen würde, irgendwann fast mühelos in der Lage wäre, die richtigen Kombinationen zu finden, also damit, dass fehlendes Talent zumindest, wenn ich wollte, mit Arbeit und Übung auszugleichen wäre. Aber auch da bin ich mir nicht sicher; aber mit manchen Illusionen lebt es sich besser, solange sie sich nicht als Illusionen erweisen.
Was mich schließlich vollends zu einem staunenden Bewunderer der Schachwelt macht, ist nicht nur der Umstand, dass viele Schachspieler die Schachrätsel in relativ kurzer Zeit lösen können, sondern, dass der involvierte Schachspieler, also der eigentliche Erfinder des je einzigartigen Schachrätsels, insofern es sich nicht um eine Schachaufgabe handelt, die am Reißbrett entworfen wurde, sondern um eine, die aus einer realen und dokumentierten Spiel- und Turniersituation entnommen ist, die Lösung finden konnte, ohne zu wissen, dass es die Lösung gibt. Ein riesiger Unterschied ist es, eine Aufgabe zu bearbeiten, die fest umgrenzt ist und von der man weiß, dass es auf jeden Fall die eine Lösung geben muss. Oder ob man sich in einem, wenn auch strikt regelbasierten, offenen Feld bewegt, das bei jedem Zug neue Möglichkeiten und neue Konstellationen gebiert, von denen nicht klar ist, ob und welche finalen Gewinnmöglichkeiten in ihnen schlummern. Jede Spielsituation kann, so man Talent und vielleicht auch etwas Glück hat, ein außerordentliches Ereignis hervorbringen. Ereignis deshalb, weil (fast) nichts in der (Spiel)Konstellation auf diesen Ausgang hindeutete.
Und jetzt sage niemand, Schach habe nichts mit dem Leben zu tun, das sich, so betrachtet, keineswegs als ein normales erweist. Jeder Augenblick kann eine neue und schöne Kombination hervorbringen, die alles ändern wird, sofern man über das Talent verfügt, das Leben richtig zu spielen. Und der letzte Gedanke lautet, dass der Tod schließlich gewinnt (und dass Computer inzwischen die besseren Schachspieler sind, aber eben nicht Schach spielen).
22. Juni 2018