Sich im Himmel verirren
Wahrscheinlich haben nicht nur pädagogische - oder religionshygienische - Gründe dazu geführt, dass die Ausgestaltung der Hölle in Schrift und Bild viel prominenter ist, als die des Himmels. Für unsere Einbildungskraft ist die Hölle ein dankbares Motiv. Aus dem täglichen Leben sind wir alle bestens vertraut mit Leid, Schmerz, auch Qual. Die Ausgestaltung und Radikalisierung dieser Lebenswirklichkeiten trifft also auf vertraute Erfahrungshorizonte. Auch die Dauer und Dehnung dieser leidvollen Momente zu einer ewigen Wiederholung ist nichts, was zu einer psychologischen Überforderung führt. Oftmals ist es die Ausweglosigkeit einer Situation, die das Leiden erst zu einem solchen macht. Kurzum, die Darstellung der Hölle kann an vertrautet Momente unseres Seins anschließen und diese zur Erbauung, Unterhaltung und zur Abschreckung ins virtuos Maßlose steigern.
Wie anders dagegen verhält es sich mit unserer Vorstellungswelt des Himmels. Am naheliegensten ist die Idee des Himmels als Paradies in einem unschuldigen, prä-reflexiven Naturzustand. Die Bilder dazu reichen von Adam und Eva bis hin zu den schönen Wilden an üppigen Karibikstränden. Allein, das Paradies ist hier schon verloren, nichts, was als himmlische Zukunft auf uns kommen könnte. Es sei denn, man macht den Limbus, also die Vorhölle für die verlorenen, aber unschuldigen Seelen, zum eigentlichen Sehnsuchtsort: Glückseligkeit als Resultat einer geistigen Umnachtung, einer verwehrten Gottesschau - sozusagen Kastration als Fahrkarte in eine beschränkte, aber heitere Existenz, wenn denn dieser Begriff hier noch einen Sinn hätte.
Aber wie könnte der Himmel für uns, so wir uns auf der Höhe unseres geistigen Seins wähnen, aussehen. Sicherlich, Schmerz und Leid sind universeller als die je individuellen, ja singulären Freuden und Glücksmomente, die jeder für sich ausmachen kann. Aber selbst ein großes Tableau dieser Zustände könnte das Problem nicht umgehen, das in der Glücks-Schleifung dieser Momente in der Wiederholung entstehen würde - oder wie es in einem Song heißt: Heaven is a place where nothing ever happens. Nur die Einspeisung eines permanenten Vergessens in unser himmlisches Sein, also ein Rhythmus von Lethe-Bad und Glücksgenuss, wäre hier denkbar. Aber ist nicht auch dies eine Abwandlung der Limbus-Existenz, also eine Form von Kastration?
Wie also dieser Kastrations-Dialektik entkommen? Eine mögliche Antwort: der Aufschub selbt muss aufgewertet werden. Walter Benjamin hat in seinem Passagenwerk bekanntlich den Flaneur als jemanden bestimmt, dem die Scheu vor dem Ziel mit eingeschrieben ist - eine Ästhetik der Irre und des Irrens bestimmt sein Sein. Jeder Moment der gehenden Schau ist ein Stück einer wunderbaren Erfahrung, die mit jedem Schritt sich fortschreibt ohne final werden zu wollen.
Der Himmel muss ein riesiges, fantastisches Labyrinth sein, in dem wir staunend umherirren.
27. März 2017