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Sterben

Der Frühlingszenit war schon überschritten, um genau zu sein, am 13. Mai 2023, verstarb die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff. Ich kenne von ihr nur den sehr lesenswerten "Blumenberg"-Roman. Den folgenden Satz habe ich mir  markiert:

“Wir wissen, dass wir sterben müssen, aber wir glauben es nicht, weil wir es nicht denken können.”
Sibylle Lewitscharoff: Blumenberg, Berlin: Suhrkamp, 2013, S 48

Am gleichen Tag starb ein Freund von mir, mein Alter, d.h. noch keine 60 Jahre alt. Zu früh, natürlich zu früh. Er lag seit einigen Wochen in einem Hospiz-Zimmer, halbseitig gelähmt, konnte nur noch einzelne Worte rausbringen. Seine Augen blickten aufmerksam, auch müde und doch freundlich; er war, so denke ich, mit sich im Reinen. Der Gehirn-Tumor wurde vor vier Jahren diagnostiziert. Die prognostizierte Lebenserwartung bei dieser Krebsart lag - und liegt wohl immer noch - statistisch gesehen bei fünf Jahren. Er nutzte die Zeit für einige große Radtouren, mit denen er die Grenzübergänge zu den Nachbarländern abfuhr. Ich begleitete ihn auf Teilstücken bei zwei dieser Touren, was großartig war, auch wenn die Melancholie des Abschieds mitfuhr. In einigen Alltagssituationen merkte ich, dass sich bei ihm Defizite bezüglich Organisation, Artikulation und Koordination bemerkbar machten, die bei der zweiten Tour im letzten Jahr noch viel deutlicher zu Tage traten. Auch wenn die Lebensuhr bei uns allen tickt, hier war sie in Bezug auf das Ende geräuschvoller. Trotzdem waren es gemeinsame schöne Tage. 

Wenn ein lieber Mensch, ein lieber Freund stirbt, wird die Welt etwas ärmer. Die gemeinsamen Konzerte, die Gespräche über Arbeit, Gott und die Welt, die Musik- und die Büchertipps, gemeinsames Essen und Trinken - vorbei, vorbei. Es ist nicht so, dass man im Alter nicht neue Erfahrungen machen, neue Kontakte knüpfen kann; unbedingt sollte man das. Aber die Jahre einer Beziehung, auf welchem Niveau und in welcher Färbung auch immer, kann man nicht in Wochen oder Monaten nachholen. Ein Teil der der eigenen Welt stirbt mit. Man kramt in seinen Erinnerungen und stellt fest, wie einige emblematische Zeitstränge unser Leben und unsere Beziehungen strukturieren. Und wenn man jemanden wirklich gern gehabt hat, schwinden seine Schwächen zu liebenswerten Tics. Auch die vermisst man.

Jemand ist tot. Sibylle Lewitscharoff hat Recht: ich kann meinen zukünftigen Tod nicht glauben, weil ich ihn nicht denken kann. Das gilt zunächst auch in Bezug auf den Anderen: Nicht-Wahrhaben-Wollen. Anfänglicher Denk-Reflex: bei der Todesnachricht muss es sich um ein Versehen handeln, es gab eine erfolgreiche Therapie oder eine wundervolle Spontanheilung - der Freund wird sich bald melden: "Ist noch mal gut gegangen." Aber nein, soviel Vernunft hat die Restvernunft dann doch, um zu versichern, da kommt keine Nachricht. Inzwischen ist er beerdigt, was allen und auch mir dabei hilft, das Unabänderbare, jemand kommt nicht wieder, zu akzeptieren. Wie heißt es so abgeklärt: es handelt sich um einen Trauerprozess und dabei müssen einzelne Trauerphasen durchlaufen werden (Nicht-Wahrhaben-Wollen, Emotionen, Sich-Trennen, neuer Weltbezug). Der Sinn einer jeden "Regional-Ontologie": Beruhigung; kann man doch alles in den Griff bekommen, oder nicht? Und dann meldet sich der Tod an unerwarteten Stellen zurück. 

Memento Mori - so heißt es seit Jahrhunderten, schon im antiken Rom (Laut Wikipedia gab es in Rom das Ritual, dass bei einem Triumphzug ein Sklave hinter dem siegreichen Feldherrn ging. Dieser hielt einen Lorbeerkranz über den Kopf des Siegreichen und mahnte: Memento mori - Bedenke, dass du sterben wirst). Also den Tod bedenken. Nur daraus folgt kaum oder selten ein 'neues' Leben. Viel gewonnen, so scheint mir, wäre durch ein bewußteres Leben, in dem man sich von den alltäglichen, nur allzu alltäglichen Stressmomenten nicht vollumfänglich vereinnahmen lässt. Innehalten und darüber erstaunen, wieviel man (in sich) ansammelt und anhäuft mit all seinen Ansprüchen. Weiter so, wirklich, wo zum Schluss alles unseren Händen entgleitet? Mag es so gelingen, aus dem Tod noch so etwas wie einen Nutzen zu ziehen? Aber vielleicht bleibt der Tod einfach eine große Leerstelle, die nie endgültig zu besetzen ist, bis er für uns persönlich das letzte Kapitel aufschlägt.

Die letzten zusammenhängenden Worte, die mein Freund mir zum Abschied mehr zuflüsterte, als dass er sie mir sagte, waren:

"Ich halte die Stellung."

Eine Formel, die signalisiert, dass man sich für den und die anderen noch nicht aufgeben hat (und wie nicht in Zeiten des Krieges auch an jene zu denken, die in Schützengräben buchstäblich die Stellung halten müssen). Vielleicht war es auch anders gemeint. Das folgende Zitat ist vielleicht auch eines über unsere Stellung angesichts unseres Endes: 

“Zu den Figuren unseres Schicksals zählt auch jene, die als der Verlorene Posten bezeichnet wird, und niemand weiß, ob gerade dieses Schicksal sich nicht eines Tages auch an ihm vollstreckt.”  
Ernst Jünger: Capriccios; Stuttgart 1995 (1938); S. 28 

Mein Freund war ein gläubiger Mensch. Er stand nicht auf verlorenem Posten. 

30.06.2023