Ui, heute 112
Eigenartige Fügung, dass mir "Das Wüste Land" von T.S. Eliot in die Hände fällt und dazu Zeilen, die nur zu wenigen Geburtstagen passen, wenn überhaupt:
"April ist der grausamste Monat, er treibt
Flieder aus toter Erde, er mischt
Erinnern und Begehren, er weckt
Dumpfe Wurzeln mit Lenzregen."
T.S. Eliot: Das Wüste Land; Leipzig 1990 (1923); S. 7
Aber für einen Denker, der zumeist - wie obiger Dichter auch - seine Vornamen mit zwei Buchstaben abzudecken pflegt, E.M., scheint diese Monatsklage durchaus passend. Denn auch er war der Meinung, dass der Anfang, der Frühling usw. weder Verheißung noch Versprechen ist, sondern der Beginn einer Bürde, die man ungefragt zu schultern hat - das Leben. Die Rede ist von E.M. Cioran, der heute 112 Jahre alt geworden wäre (er starb 1995). Geboren wurde er in Rasinari bei Hermannstadt in Siebenbürgen, Sohn eines griechisch-orthodoxen Priesters. Statt Transzendenzgaben hat ihm sein Vater aber wohl einen Entzauberungszauber mit auf den Weg gegeben, der dazu führte, dass er das Leben nicht nur als eine große Illusionsmaschine sah, sondern sich in den dumpfen Schmerz des Seins hineindachte und hineinfühlte - oder besser: in den Schmerz hineingedacht und hineingefühlt wurde. In seiner "Notiz über Cioran" weist Peter Sloterdijk darauf hin, dass diese Art von Denken sich dem metaphysischen Schlafprivileg verweigert, also keine Phasen der Ruhe, der Beruhigung und der Erholung für sich in Anspruch nehmen kann, was auch zur Folge hat, sich von den Siegesbegriffen der Moderne wie Autonomie und Souveränität - partiell - zu verabschieden:
"Der Schlaflose weiß, im Unterschied zum Kritischen, dass er nicht der Herr seiner Prämissen ist."
Peter Sloterdijk: Der selbstlose Revanchist. Notiz über Cioran. In: Nicht gerettet. Versuche nach Heidegger; Frankfurt/M. 2001; S. 390
Auch weil Cioran das Unglück der Existenz nie einholen wollte, entwickelt die Radikalität, mit der er allen Verklebungen versöhnlicher Ansprüche begegnete, doch einen Trost der Trostlosigkeit und stiftet Solidarität unter Menschen (eher Männer; in diesem Zusammenhang ein verschlungenes Thema für sich: phallisch anti-phallisch), die mit wütender Verzweiflung und umfassender Resignation begabt sind (also ein Denker für gewisse Stimmungen; ). Es gibt zwei kleine, dünne Suhrkamp Taschenbuch-Aphorismen-Bändchen, die schon sehr lange in meinem Besitz sind: das eine gelb mit rot-oranger Schrift auf dem Einband, "Die verfehlte Schöpfung", ursprünglich von 1969, das andere mit rotem Einband und gelb-orangener Schrift, "Vom Nachteil, geboren zu sein" von 1973. Zwei treue Begleiter, die ganz fröhlich dreinblicken und bei denen ich mich immer gefragt habe, ob die Gestaltung den Inhalt für einen unbedarften Käufer zunächst verdecken sollte oder ob hier ein wissender Humor im Spiel ist, der die kognitive Dissonanz, hier entstehend aus der Differenz von Sein und Schein, bestens in Szene setzt. Wie dem auch sei, lassen wir uns an seinem Geburtstag durch E.M. Cioran selbst beschenken.
"Ganz ohne Ziel leben! Ich habe diesen Zustand aufblinken gesehen und ihn oft erreicht, ohne fähig zu sein, darin zu verweilen: ich bin zu schwach für ein derartiges Glück."
E. M. Cioran: Die verfehlte Schöpfung; Frankfurt/M. 1981 (1969), S. 64
"Wenn man sich selber gut kennt und sich doch nicht gänzlich verachtet, so deshalb, weil man zu müde ist, um sich extremen Gefühlen hinzugeben."
E. M. Cioran: Vom Nachteil geboren zu sein; Frankfurt/M. 1979 (1973), S. 159
8. April 2023