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Was noch dahin steht ...

Krisenzeiten sind Zeiten, in der Esoterik Konjunktur hat. Wenn die Ungewissheiten einen umschwirren wie die Motten das Licht, dann ist Zuspruch und Weisheit, von welcher Seite auch immer, höchst willkommen. Ein diesbezüglicher Versuch von mir endete ganz erfreulich, zeigte die gezogene Tarot-Karte die 9 Kelche/9 Cups, die Karte für Freude/Happiness. Als Motto im entsprechenden Anleitungsbuch, von denen es natürlich je nach Tarot-Deck und Vorlieben ganz verschiedene Ausführungen gibt, wurde mir mit auf den Weg gegeben: "Happiness is my natural condition." & "I love life & life loves me." Aber eine gutgemeinte Adressierung hilft bekannter Maßen nur, wenn sie auch den Adressaten erreicht. Und als skeptischer Mensch, der zudem dazu neigt, das Glas halb leer zu sehen, fühlte ich mich nicht umfänglich angesprochen. Oder wie Herr Houellebecq sinngemäß formulierte: man muss keine Angst vor dem Glück haben, es existiert nicht.

Wie zur Bestätigung dieser (apodiktischen) Vermutung kamen aus dem fernen Osten diesmal nicht neue Meditationstechniken, die uns erlauben, unsere innere Mitte um ein auffindbares Nichts neu zu zentrieren, sondern das Corona-Virus und die Corona-Krise. Und hat uns damit der Weltzwang nicht umfassender und fester im Griff als je zuvor? Und zeigt sich dabei nicht nochmals besonders deutlich ein unheimlicher Zug der Globalisierung, nämlich der der zwanghaften Alternativlosigkeit, in der jede persönliche, lokale, nationale und zeitliche Besonderheit auf den Status eines Attavismus herabgesetzt wird. Ein Zeichen dafür ist auch die mediale Permanentdurchdringung des Corona-Themas, das wie ein riesiger Krake nicht nur alle Medienkanäle, sondern auch permanent unsere Psyche beansprucht. Mit Covid 19 wird alles andere in den Hintergrund ge(d)rückt.

Alle Aspekte des Themas werden ausführlichst abgehandelt: virologisch, medizinisch, sozial und auch wirtschaftlich. Dabei zeigt sich deutlich das derzeitige Primat des "Lebens an sich", das unabhängig von seinen spezifischen Einbettungen und Sinnbezügen, quasi nackt, das Maß aller Dinge wird. Das "Leben an sich" und die damit einhergehenden Sicherungs- und Distanzierungsmaßnahmen überrollen inzwischen fast mühelos auch alle Nachfragen bezüglich der ökonomischen Auswirkungen dieser Entscheidungen. Menschenleben darf nicht gegen Profit aufgerechnet werden, heißt es, als ob die wirtschaftliche Prosperität (auf welchem Niveau auch immer) nicht ebenfalls für ein körperlich und psychisch gutes Leben unabdingbar wäre (man wird darauf gespannt sein dürfen, wie die weitestgehend häusliche Einschließung nicht nur die Geburten- und Scheidungsraten innerhalb der fraglichen Zeiträume sich entwickeln lässt, sondern auch die Suizidraten).

Zudem mutet es auch merkwürdig an, dass die Corona-Todeszahlen umfänglich kommuniziert werden, während andere (Todes)Statistiken schlichtweg unter der Wahrnehmungsschwelle verbleiben. Die 25.000 - 30.000 Todesopfer einer heftigeren Grippeepidemie in Deutschland mögen da fast schon die Ausnahme bilden. Aber wer weiß schon, dass es jährlich in Deutschland ca. 8.000 Todesfälle bei Freizeit- und Haushaltsaktivitäten gibt (die also ursächlich damit im Zusammenhang stehen), dass statistisch in Deutschland jeden Tag über 2.500 Menschen sterben (Tag für Tag, Jahr für Jahr, ganz ohne Pandemien), dass im Syrienkrieg schätzungsweise bis jetzt zwischen 400.000 bis 500.000 Menschen ums Leben gekommen sind? Gut, dieses Virus kann jede und jeden infizieren, wird man einwenden, und dass die Dynamik der Ausbreitung unabsehbar ist und dass es keine schöne Vorstellung ist, dass das eigene Leben nicht gerettet werden kann, weil das Gesundheitssystem überlastet ist. Kurzum, es wird uns bewußt, dass das Leben, das eigene, eine fragile Angelegenheit ist und scheinbar vielfach von Gegebenheiten abhängt, die wir gar nicht mehr wahrnehmen können, wollen oder sollen.

Schön wäre es jetzt - oder wie Gottfried Benn in einem Gedicht mal klagte: Einen neuen Gedanken haben, den man nicht in einen Hölderlinvers einwickeln kann, wie es die Professoren tun - einen erhabenen Satz zu schreiben: wir heutigen vermögen den Tod nicht mehr. Allein zu pathetisch, zu wissend und zugleich hilflos. Andererseits ist es ein Zeichen der Zeit, dass wir nicht nur mit dem Tod Probleme haben (wobei das Problem schon das Problem ist), sondern uns auch mit den hoffnungsvollen Momenten schwer tun. Krisen: die Krise der Finanzen, die Krise der Flüchtlinge, die Krise des Klimas usw. belehren uns inzwischen sehr gründlich über das Ausbleiben froher Erwartungshorizonte. Und so nimmt es kein Wunder, dass die Anzahl der dystopischen Romane stetig wächst, zweifelsohne auch ein Resultat der modernen Enttäuschungen, der Enttäuschungen mit der sogenannten Moderne. Aber zuweilen zeigt sich durch die Enttäuschungen hindurch ein unsentimentaler und unlarmoyanter, d.h. ein realitätsgesättigter Blick auf die Wirklichkeit. Also nun: rund um die Corona-Krise Sätze - und Lektionen - aus einigen Dystopien der vergangenen Jahrzehnte:

"Erst wenn das Wissen um eine Sache sich langsam im ganzen Körper ausbreitet, weiß man wirklich. Ich weiß ja auch, dass ich, wie jede Kreatur, einmal sterben muss, aber meine Hände, meine Füße und meine Eingeweide wissen es noch nicht, und deshalb erscheint mir der Tod so unwirklich."
Marlen Haushofer: Die Wand; Berlin (Ullstein), 2004 (1968), S. 62

 Lektion 1: Das Wissen, die Theorie und auch der Geist schweben über den Dingen und können sich, da nirgendwo an-eckend, also im eigentlichen Sinne nicht eck-sistierend, auch nicht verankern. Es ist der Körper, es sind die Dinge, es ist die Materie, die letztendlich unser Sein (mit)trägt. Die (Los-)Lösung aus jedweder Verbundenheit ist nicht die vollkommene Freiheit, sondern der Tod. Die Virus-Lektion lässt diese beiden Welten aufeinander prallen - indem das Virus in unsere je eigenen Körper eindringt, schließt es uns zugleich mit den globalen Entortungen unserer Zeit kurz: Dank des globalen Warenverkehrs, des globalen Reisens, allgemein: der globalen Geschwindigkeit und des globalen Austauschs, findet der Virus nicht nur ubiquitäre Verbreitung, sondern tilgt auch ein mögliches Außen, die Ressource des Sinns.

 “Aber in den Geschichten helfen wir andauernd jemanden, dabei tun wir das in Wirklichkeit gar nicht.”
Cormac McCarthy: Die Straße; Hamburg, 2010 (2006);S.237

 Lektion 2: Ja, in Krisen kommen wohl die besten und wohl auch die schlechtesten Seiten der Menschen - meist unvorhersehbar - zum Vorschein. Hier ist, so könnte man vermuten, aber der Unterschied zwischen dem moralischen Anspruch, den man, sofern man nicht dafür einstehen muss, immer relativ leicht hochhalten kann und einer politischen Entscheidung, die in einer ganz konkreten Situation mit all den dazugehörigen Zwängen und Möglichkeiten, gefällt werden muss, gemeint. Wir halten die Moral zu hoch und achten das Politische zu gering, immer auf Kosten unseres (politisches) Gemeinwesens.

 “Nichts ist so unnormal, als dass die Leute nicht versuchen würden, es ihrem normalen Leben einzugliedern.”
Doris Lessing: Die Memoiren einer Überlebenden, Frankfurt/M. 2007 (1974), S. 24

 Lektion 3: Parallel zur Eingliederung läuft die Erfahrung, dass sich die Dinge rasend schnell in einer Weise ändern, die wir es uns vor kurzer Zeit nicht haben vorstellen können. Und plötzlich denkt man zurück und gelangt zu einer guten alten Zeit, die so alt gar nicht ist und so gut gar nicht war, aber im Rückblick dennoch als Verheißung für die Zukunft taugt. Dies umso mehr, als dass es sich nicht um einen individuellen Schicksalsschlag handelt, der im alltäglichen und durchschnittlichen Dasein als Ausnahme eingepreist ist, als Arbeitslosigkeit, Depression, Krankheit usw., sondern unser kollektives Dasein betrifft. Die Selbstverständlichkeiten unserer gemeinsamen Welt schmelzen dahin wie Butter in der Sonne. Wir werden Gewahr, wie fragil auch unseres unsere kollektiven (politischen) Seinsweisen sind. Der Versuch zur Normalität zurückzukehren, sei es durch Integration neuer Vorschriften und Handlungsweisen in das Leben, sei es durch (blinden) Aktionismus, offenbart nur die Angst vor dem Verlust. Wenn unsere gemeinsame Welt fraglich wird, werden wir uns selbst noch viel fraglicher.

1970 schrieb Marie Luise Kaschnitz, in einem etwas anderen Kontext, aber mit existentieller Emphase, die in der jetzigen Situation - wie mir scheint - etwas von dem trifft, was uns bewegt: "Ob wir nicht noch die Zellenklopfsprache lernen, den Nächsten belauern, vom Nächsten belauert werden, und bei dem Wort Freiheit weinen müssen. Ob wir uns fortstehlen rechtzeitig auf ein weißes Bett oder zugrunde gehen am hundertfachen Atomblitz, ob wir es fertigbringen mit einer Hoffnung zu sterben, steht noch dahin, steht alles noch dahin."

31. März 2020